Mittwoch, 6. November 2013

Der natürliche Staat.


aus NZZ, 6. 11. 2013

Fortschritt und Gewalt
Ein Buch über den «natürlichen Staat» und die Entstehung offener Ordnungen 


von Detmar Doering · Die Frage nach dem Verhältnis zur Gewalt ist - das leuchtet spontan ein - eine elementare für jeden Staat. Das öffentliche Wesen definiert sich heutzutage schliesslich als Träger des Gewaltmonopols. Damit wird der Staat auch zu einem entscheidenden Faktor für den Wohlstand und die Lebensqualität seiner Bürger.

Rechtsstaat als Sonderfall

Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Douglass C. North gehört zu den Pionieren der «New Economic History», die eine ökonomische Theorie der historischen Entwicklung aufgestellt und den Zusammenhang zwischen Wohlstandsentwicklung und geschichtlichen Rahmenbedingungen untersucht haben. In seinem Buch «Gewalt und Gesellschaftsordnungen» (der Titel des 2009 erschienen Originals lautete: «Violence and Social Orders») hat North zusammen mit seinen Kollegen John Joseph Wallis und Barry R. Weingast diese Analyse aus dem Blickwinkel der Gewaltanwendung vorgenommen.

Douglass C. North, John Joseph Wallis und Barry R. Weingast: Gewalt und
Gesellschaftsordnungen.
Eine Neudeutung der Staats- und Wirtschaftsgeschichte.
Übers. Monika Streissler, Mohr Siebeck.
Tübingen 2013. 326 S., 49 €.

Die Idee der Rechtsstaatlichkeit, in der Gewalt nicht primär der politischen Privilegierung bestimmter Gruppen dient, ist in der Moderne entstanden. Sie darf deshalb nicht selbstverständlich als historisch akzeptierte und legitim empfundene Grundannahme betrachtet werden - im Gegenteil: Die von «dominanten Koalitionen» zur Wahrung von Privilegien errichtete Ordnung ist aus Sicht der Autoren so etwas wie der «natürliche Staat».

Jener Staat, der «Zugangsfreiheit zu Politik und Wirtschaft» garantiert, also letztlich Demokratie und Marktwirtschaft, sei historisch eher die Ausnahme und neueren Ursprungs. Dies setze unter anderem ein allgemeines Gleichheitsverständnis bei der Definition von Zugehörigkeit, unbeschränkten Zugang zu wirtschaftlichen und politischen Positionen und eine unpersönliche Tauschwirtschaft voraus. Das macht die Grundfrage des Buches umso interessanter, nämlich: Wie kam dieser Fortschritt überhaupt zustande, und welche Rahmenbedingungen mussten dafür erfüllt sein? Die wichtigste davon ist, dass Eliten gemeinsame Anreize und Interessen haben, ihre Privilegien in unpersönliche Rechte umzuwandeln.

Fragen zur Entwicklungshilfe

Die Autoren hüten sich vor unzulässigen Verallgemeinerungen und weisen darauf hin, dass ihre beiden Gesellschaftsmodelle - die natürliche und die offene Ordnung - eben nur Modelle sind, während in der Realität unzählige und historisch einzigartige Zwischenstufen bestehen, was sie mit einem reichen Arsenal von historischen Analysen aufzeigen.

Das hat auch Implikationen für die heutige Politik, und die moderne Entwicklungsökonomie muss sich hier kritische Fragen gefallen lassen. Politikempfehlungen, die auf eine marktwirtschaftliche Ordnung abzielten, so die Autoren, seien fragwürdig in einer Gesellschaft, deren Eliten-Struktur noch nicht die «Übergangsbedingungen» zu einer offenen Ordnung erfülle. Nur Staaten, die nahe genug an der «Zugangsschwelle» stünden, könnten den Schritt wagen, ohne sich selbst zu destabilisieren. Wirtschaft und politisches System seien - und das gelte auch für die scheinbar auf der Trennung beider Sphären beruhende marktwirtschaftliche Demokratie - als integriert durchzudenken.

Die Autoren, die um die Komplexität historischer Abläufe wissen, vermeiden es, das alles in konkrete politische Empfehlungen münden zu lassen. Anregungen, wie man diese entwickeln könnte, liefert dieses anspruchsvolle Buch aber dennoch.

Detmar Doering ist Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung in Potsdam.


Nota.

Au, das ist mal originell: "Die von «dominanten Koalitionen» zur Wahrung von Privilegien errichtete Ordnung ist aus Sicht der Autoren so etwas wie der «natürliche Staat»." Es haben mal zwei geschrieben, der Staat sei erstens eine Ansammlung bewaffneter Menschen und zweitens der Verwaltungsausschuss der herrschenden Klassen. (Von denen stammt auch der Satz, die ganze bisherige Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen.) Dass der Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung in Potsdam davon bisher nichts wusste, überrascht uns nicht. Jetzt hat er was dazugelernt, dafür ist es nie zu spät.
JE.

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