Stalins utopisches Jerusalem
Ein Experiment löst sich auf - Besuch im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobidschan in Russlands Fernem Osten
Ein Experiment löst sich auf - Besuch im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobidschan in Russlands Fernem Osten
Einerseits galt es, die sibirischen Weiten
urbar zu machen, anderseits wollte Stalin wohl einfach einen
missliebigen Bevölkerungsteil weghaben. 1928 wurde Birobidschan zu
Jüdischem Siedlungsgebiet erklärt. 40 000 Juden folgten dem Aufruf,
sich hier niederzulassen. Nur wenige ihrer Nachfahren haben ausgeharrt.
von Matthias Messmer
Was für Pläne wurden im
vergangenen Jahrhundert nicht alles geschmiedet, das jüdische Volk in
den entlegensten Gegenden der Welt anzusiedeln. Wohlwollende und
niederträchtige, erfolgreiche und misslungene: in Ostafrika (Britisches
Uganda-Programm), auf Madagaskar (Nationalsozialisten), in Australien
(Kimberley-Plan) oder gar in der chinesischen Provinz Yunnan
(Jakob-Berglas-Plan). Alle hatten das Ziel, das «jüdische Problem» auf
ihre eigene Art zu lösen. Und dennoch blieben diese Vorhaben
unrealisiert, mit zwei Ausnahmen: einem hebräisch-zionistisch geprägten
(Israel) und einem jiddisch-bolschewistisch inspirierten (Birobidschan).
Zugnummer 133 verlässt die Stadt
Chabarowsk am frühen Morgen Richtung Westen, um einige Minuten später
die imposante, zweigeschossige Eisenbrücke über den Amur zu überqueren.
Die Mehrzahl der Reisenden legt sich nochmals hin und zieht die von der
Zugbegleiterin verteilten Bettlaken über die Ohren. Zeit ist allemal
genug: Die Endstation auf der Transsibirischen Eisenbahn befindet sich
in der südlich von Moskau gelegenen Stadt Pensa, ungefähr fünf
Tagesreisen weit entfernt von hier. Kaum einer, der bereits nach zwei
Stunden Fahrt an einem Bahnhof mit der jiddischen Anschrift Birobidschan
aussteigt, um sich einen Ort anzuschauen, der, wenn nicht Welt-, dann
zumindest Sowjetgeschichte geschrieben hat. Und das nicht durch Zufall.
Stalins umstrittene Pläne
Welche Gründe Stalin vor knapp
achtzig Jahren dazu bewogen, Juden im Fernen Osten eine «Heimstätte» zu
errichten, ist bis heute unter Historikern umstritten: Wusste der
gerissene Diktator um ihre unermüdliche Schaffenskraft und schickte sie
deswegen in eine der unwirtlichsten Regionen des Sowjetreiches, um
Neuland zu erschliessen und die Industrialisierung des Landes
voranzutreiben? Oder wollte er sie einfach loswerden, sie von den
Grossstädten im europäischen Teil des Landes fernhalten und in den
Sümpfen am Ufer des Amur ihrem Schicksal überlassen? Oder antizipierte
der schlaue Führer bereits damals den sich Jahre später abzeichnenden
Konflikt mit dem Nachbarland China und schickte daher Zehntausende von
Juden zur Sicherung der Grenzen mehr als sechstausend Kilometer von
Moskau entfernt nach Fernost? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem.
«Ich danke Ihnen, Genossen, dass
Sie mich hierher geschickt haben. Hier werde ich mich niederlassen und
endlich aufhören wie ein typischer 'Jude' zu leben, d. h. wie ein
Luftmensch.» Das war einfacher gesagt als getan, waren doch die meisten
Juden, die nach Fernost aufbrachen, völlig unvorbereitet für ein Leben
in der Landwirtschaft. Zumal in einem Gebiet, das ständig überflutet und
von Mückenplagen heimgesucht wurde. Dennoch folgten in den ersten
Jahren nach der Gründung des Autonomen Jüdischen Gebiets im Jahre 1934
bis zu 40 000 Sowjetjuden dem Aufruf des Generalissimus, das
brachliegende Land zu kultivieren. Einige blieben, doch die meisten
konnten sich mit dem Projekt nicht anfreunden und kehrten entweder in
den europäischen Teil der UdSSR zurück oder liessen sich in anderen
grösseren Städten Sibiriens nieder.
Bahnhof
Bahnhof
Vor dem lachsfarbigen
Bahnhofsgebäude steht der Pferdewagen mit Tewje, dem Milchmann. Auf der
Ladefläche sitzt seine Frau Golde. So deutet man als Fremder das etwas
steife Paar. Kaum einer betrachtet es, schon gar nicht der alte Mann,
der vornübergebeugt auf seinem Stock an einer zehn Meter hohen Menora
vorüberhumpelt. Gedankenverloren blicken die beiden osteuropäischen
Juden in den sonnigen Morgen. Als ob sie wüssten, dass hier irgendetwas
nicht stimmt. Auch genau sechzig Jahre nach dem Tod des Diktators noch.
Ihr Blick ist ebenso ausdruckslos wie jener der Kwass-Verkäuferin, die
hier, immerhin mit Erfolg, auf Kundschaft wartet. Der imposanten
Skulptur haftet nichts Idyllisches und schon gar nichts Bedrohliches an.
Der Untergang der Schtetl-Kultur scheint niemanden zu berühren. Weshalb
soll er auch. Europa ist weit weg. Ein überproportionales Spielzeug,
wie aus einem Souvenirladen, oder eine amüsante historische Attraktion
in einem Disneyland, in Bronze gegossen und zeitgemäss «made in China».
Es handelt sich um ein Geschenk der Kohle- und Schwesterstadt Hegang in
der chinesischen Provinz Heilongjiang, die, nur durch den Amur getrennt,
dem Autonomen Gebiet Birobidschan gegenüberliegt.
Eine sozialistische Planstadt
Der Schweizer Architekt und
Gropius-Nachfolger als Direktor des Bauhauses Hannes Meyer hatte die
Stadt auf Geheiss der Moskauer Führung im Jahre 1933 nach den Prinzipien
einer sozialistischen Städteentwicklung entworfen. Wie weit seine Pläne
berücksichtigt wurden, ist nicht eindeutig nachvollziehbar. Heute
erinnern nur noch wenige Gebäude an die laut Propaganda goldenen Jahre
des jüdischen Gebiets, das im Zuge von Stalins antisemitischer Kampagne
nach dem Zweiten Weltkrieg seine Stellung als Vorzeigeheimstätte für
sowjetische Juden verlor. An der Lenin-Strasse 22 steht beispielsweise
das Gebäude, in dem sich Druckerei und Redaktion der einzigen
jiddischsprachigen Zeitung der Sowjetunion, des «Birobidschaner Shtern»,
befanden. Noch heute erscheint diese Zeitung, zwar in russischer
Sprache, doch einmal wöchentlich mit einigen Seiten in Jiddisch. Das
jüdische Theater hingegen wurde bereits Ende der vierziger Jahre
geschlossen, später in einen Palast für Pioniere und Schulkinder
umgewandelt und in den frühen achtziger Jahren abgerissen.
Ein kleines Mädchen kurvt in einem
batteriebetriebenen Mini-Oldtimer um eine Schar Tauben, die sich auf
der Scholem-Alejchem-Strasse ihre Federn in den Sonnenstrahlen wärmen.
Hin und wieder wirft ihnen ein unrasierter Rentner einige Brosamen zu.
Der Mann selbst gönnt sich eine Flasche Bier. An einer Hauswand hängt
ein Flugblatt mit dem Titel «Er war eine gigantische Persönlichkeit»,
darunter ein Porträt von Lenin sowie der Verweis auf sein Geburtsjahr
vor 143 Jahren. Wenige Meter daneben findet sich auf einer Litfasssäule
eine Anzeige für Yoga-Kurse. Der Lehrer, so steht es da, sei persönlich
in Indien ausgebildet worden. Als ob das irgendetwas bedeutet. Auf einer
Parkbank vor dem einstigen Bürgermeisteramt sitzt ein älteres Ehepaar
mit seinem geistig behinderten Sohn. Ihre Schirmmützen deuten auf
Touristen hin. Mit der rhetorischen Grussformel «Unsere Stadt ist schön,
nicht wahr?» räumen sie das Missverständnis aus und folgern dann gleich
selbst: «Sonst wären Sie ja nicht von so weither zu uns gekommen.» Man
will die Leute nicht enttäuschen und geht, freundlich nickend, weiter.
«Danke für den Sieg», heisst es da unter einem Wahlplakat von Einiges
Russland. Das Bild zeigt weissgekleidete junge Frauen, Arm in Arm mit
Kriegsveteranen, deren Westen mit Orden üppig beladen sind. Eine
seltsame Eintracht, diese Paare. Weltfremd und vielleicht gerade deshalb
so passend zu Birobidschan.
Medwedjew in Birobidschan
Medwedjew in Birobidschan
Man hofft, dass sich das Nebulöse
dieses Ortes beim Gespräch mit dem Rabbiner ein wenig lichtet. Das wird
allerdings nicht einfach, denn Elyahu Riss ist gerade einmal
dreiundzwanzig Jahre alt. Die UdSSR stand bei seiner Geburt kurz vor dem
Zerfall. Noch hat er keinen Wikipedia-Eintrag wie sein Vorgänger
Mordechai Scheiner aus Israel. Doch dafür ist Riss der erste Rabbiner in
der achtzigjährigen Geschichte der Stadt, der hier geboren ist. Nein,
seine Eltern waren überhaupt nicht religiös, gibt er ohne Zögern zu.
Zwar habe es in seiner Kindheit keine Schinkenbrote gegeben, man ging
aber auch nicht zur Synagoge. So wie die Mehrzahl der Sowjetjuden halt.
Den Glauben habe er selbst entdeckt. Vor zehn Jahren errichtete die in
New York beheimatete Lubawitscher-Bewegung die neue Synagoge, der Riss
seit einigen Monaten stolz vorsteht. Er versteht diesen Ort als offenes
Gotteshaus, für alle zugänglich, auch für Nichtjuden. Freudvoll und mit
Humor führt der grossgewachsene Rabbiner den Besucher durch die an den
hellen Gebetsraum angrenzende Ausstellung über jüdische Geschichte und
Kultur. Eine Art Puppenstube für Erwachsene, ist diese kindlich-naiv
konzipiert: Ragusa-Schokolade und Fanta-Dose zur Illustration koscherer
Lebensmittel fehlen hier ebenso wenig wie eine Chuppa (Traubaldachin)
samt Brautpaar in Pappmaché. In der historischen Ecke erinnern Listen
mit Namen von KGB-Spitzeln innerhalb der jüdischen Gemeinde an die
dunklen Seiten der Vergangenheit dieses Orts.
China vor den Toren
Noch existiert Stalins
fernöstliches Jerusalem. Vor allem in den Köpfen. Das jüdische
Birobidschan soll nach dem Willen von Riss auch in Zukunft weiterleben,
obwohl die wenigsten der drei- bis viertausend hier ansässigen Juden
religiös sind. Die ebenfalls von den Chabad-Chassidim organisierte
Sonntagsschule zieht mittlerweile bereits Nichtjuden an. Doch davon,
dass Mitte der achtziger Jahre die jüdische Gemeinde in Birobidschan
selbst alte russische Frauen, die den Sabbat einhielten (möglicherweise
sogenannte Subbotniki), einladen musste, um das nötige Quorum von zehn
mündigen Juden sicherzustellen, hat Elyahu Riss nichts gehört. Hingegen
kennt er den weniger lustigen und vor Ort kursierenden Witz, das
Jüdische Autonome Gebiet werde dereinst in ein chinesisches umgewandelt.
Das im Kulturzentrum der Stadt
befindliche mehrstöckige Restaurant Teatralnij macht mitunter gerne
Werbung mit Spare-Ribs. Warum auch nicht in einer Utopie. Der Eigentümer
dieses stadtbekannten Etablissements ist Chinese mit, wie er sagt,
jüdischen Wurzeln. Er lebt vom Klischee Birobidschan und davon, dass vor
seinem Restaurant ein Notenschlüssel in Form einer Menora steht.
Hierher kommt bestimmt jeder ausländische Besucher, auch wegen des
Süss-Sauren und der Nähe zu China. Eine Morozhenoje, das allseits
geliebte russische Speiseeis, gönnt man sich dann aber vielleicht doch
lieber beim «Pensionär», dem sozialen Supermarkt, wie es über dem
Eingang an der Komsomolskaja 11b heisst. Doch der köstliche Stengel
schmilzt rasch dahin. Übrigens: Vor 1858 gehörte das ganze Gebiet zum
chinesischen Kaiserreich.
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