Die Ukraine steht an einem Scheideweg
Die Anlehnung an Russland macht die herbeigewünschte Modernisierung schwierig
Höherwertige Exporte statt Rohwaren und Stahl und Ausrichtung nach Westen statt Verharren in postsowjetischen Strukturen, die eine Modernisierung behindern: So wünschen sich Wirtschaftsführer die Ukraine. Die Realität sieht anders aus.
Die Anlehnung an Russland macht die herbeigewünschte Modernisierung schwierig
Höherwertige Exporte statt Rohwaren und Stahl und Ausrichtung nach Westen statt Verharren in postsowjetischen Strukturen, die eine Modernisierung behindern: So wünschen sich Wirtschaftsführer die Ukraine. Die Realität sieht anders aus.
von Rudolf Hermann, Kiew
Eine innovative und flexible
Wirtschaft, die zu Hause Mehrwert erarbeitet und statt Rohwaren
hochwertige Produkte auf anspruchsvolle Märkte exportiert, ein
institutionelles Umfeld, das die ökonomische Entwicklung begünstigt
statt behindert, und eine Bevölkerung, in der sich eine international
mobile und zunehmend wohlhabende Mittelklasse herausbildet, die den
inländischen Konsum ankurbelt - so sieht das Zukunftsszenario aus, das
man sich in der Ukraine sowohl seitens Regierungsvertretern wie auch
seitens von Wirtschaftsakteuren wünscht. Wie dies zu verwirklichen ist,
war Anfang November in Kiew Gegenstand eines strategischen Dialogs von
Wirtschaftsführern und Exponenten der Politik unter dem Dach des World
Economic Forum.
Drei Szenarien
Kontrastiert wurde diese Vision
durch ein anderes Szenario. Es ging von einem durch hohe Preise
charakterisierten, ungenügend reformierten Energiesektor aus, der
zusammen mit ungezügelten Staatsausgaben die öffentlichen Finanzen
belastet, was wiederum Investoren abschreckt und zu Kapitalflucht und
Braindrain führt. Als eine Art Mittelweg zwischen den beiden
Extrempunkten wurde schliesslich die Variante zur Diskussion gestellt,
dass eine schleppende Nachfrage für die traditionellen Exportprodukte
der Ukraine das Land zu einer Neuorientierung seines Exports zwingt,
sowohl geografisch wie auch hinsichtlich des Produkteportfolios. Dadurch
würde das institutionelle Umfeld zwar graduell verbessert, in der
Wirtschaft würden aber weiterhin grosse Industrie-Konglomerate den Ton
angeben. Eine Mittelklasse auf der Grundlage prosperierender Klein- und
Mittelbetriebe würde sich nur zögerlich herausbilden.
In welcher Kombination Elemente
dieser Szenarien in der näheren Zukunft zum Tragen kommen, hängt
einerseits zu einem gewissen Teil vom weltwirtschaftlichen Umfeld ab und
bewegt sich damit ausserhalb des direkten Einflusses der Kiewer
Wirtschaftspolitiker. Andrerseits können von den Politikern wichtige
Weichen durchaus selber gestellt werden. So betrachteten an der Tagung
zahlreiche Kommentatoren als entscheidende Voraussetzung für ein
positives Szenario, dass die Ukraine mit der EU Ende November beim
Gipfeltreffen der sogenannten östlichen Partnerschaft das Assoziations-
und Freihandelsabkommen unterzeichnen könne, weil sich daraus ein
notwendiger Reformschub ableite. Da Kiew sich allerdings in letzter
Minute aus der EU-Annäherung zurückgezogen hat, wird dieser Impuls
vorläufig fehlen.
Mehr Vertrauen nötig
Allerdings würde sich eine
Annäherung an die EU ohnehin kaum sofort in steigendem Wohlstand
niederschlagen (wie es die ukrainische Bevölkerung vielleicht
unrealistischerweise erwartet). Vielmehr würde die einheimische
Wirtschaft durch den Freihandel unvermittelt dem scharfen Wind der
europäischen Konkurrenz ausgesetzt und müsste sich in diesem Umfeld erst
einmal zurechtfinden. Dies dürfte von Präsident Janukowitsch, der 2015
wiedergewählt werden möchte, als Problem betrachtet worden sein. Dass
Russland mit Handelssanktionen drohte, die kurzfristig sowohl die
ukrainischen Erdgasimporte wie auch die substanziellen Exporte zum
östlichen Nachbarn gefährdet und damit auf die Stimmung gedrückt hätten,
kam noch hinzu.
Nur beschränkt attraktiv ist die
Westintegration für Janukowitsch ferner wegen Forderungen nach mehr
demokratischer Transparenz und besserer Rechtssicherheit. Denn dies
würde bedeuten, dass er den Griff lockern müsste, in dem er das
politische System hält und auf dem seine Macht gründet.
Doch wäre eine vertraglich
besiegelte Annäherung an die EU ein Grund für westliche Investoren, dem
Land mehr Vertrauen entgegenzubringen. Zwar wird der Ukraine schon lange
attraktives Potenzial attestiert, etwa im Bereich der Landwirtschaft.
Doch wirken unübersichtliche Verhältnisse mit Bürokratie und
verbreiteter Korruption nach wie vor abschreckend. Dass das Land sich im
«Ease of doing business»-Report der Weltbank gegenüber dem Vorjahr
substanziell verbessern konnte, ist zweifellos positiv. Aber solange
niemand weiss, welche Integrations-Option die Ukraine schliesslich wählt
(oder welche ihr letztlich offensteht) und wie sich der gewählte Weg
auf das Unternehmensklima auswirkt, bleiben grosse Unsicherheitsfaktoren
bestehen.
Indem Kiew die Möglichkeit
vorbeigehen lässt, jetzt die Verträge mit der EU zu unterzeichnen,
scheint eine Zementierung des Negativ-Szenarios vorgezeichnet, das in
Grundzügen bereits angelaufen ist. Verlust an internationaler
Glaubwürdigkeit und das Fehlen eines Drucks auf Reformen würden
unweigerlich in eine Abwärtsspirale münden, meinte an der
WEF-Veranstaltung ein prominenter ukrainischer Unternehmer warnend.
Entwicklungen der jüngsten Zeit
geben tatsächlich Anlass zu Besorgnis. Die drei grossen internationalen
Rating-Agenturen haben über die letzten Wochen die Kreditwürdigkeit der
Ukraine allesamt herabgestuft. Als Gründe wurden das
Leistungsbilanzdefizit von rund 8% des Bruttoinlandprodukts (BIP) und
die faktische Anbindung der Hrywna an den Dollar genannt, die zusammen
die Landeswährung einem starken Abwertungsdruck aussetzten; ferner der
schwierige und teure Zugang zu internationalen Finanzierungsquellen in
Absenz eines Beistandsabkommens mit dem Internationalen Währungsfonds
(IMF) und nicht zuletzt auch der Druck des Fiskaldefizits, das 2013 bei
6% des BIP zu liegen kommen dürfte. Auch die Europäische Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung hielt zur Ukraine in ihrem jüngsten Bericht
über die Aussichten der ostmitteleuropäischen Region fest, dass
erhebliche externe Risiken bestünden, indem die Devisenreserven der
Nationalbank nur noch Importe von 2,5 Monaten decken könnten und das
Land dabei von internationalen Finanzierungsmöglichkeiten praktisch
ausgeschlossen sei. Nach der Abwendung von der EU-Variante kann die
Ukraine zwar darauf hoffen, dass ihr vorläufig Russland finanziell aus
der Patsche hilft. Eine allfällige Reorientierung nach Westen zu einem
späteren Zeitpunkt wird für Kiew dadurch allerdings nicht einfacher.
Neue Export-Philosophie
Unabhängig davon, welchen Pfad der
Integration die Ukraine schliesslich gehen wird, herrscht unter
Wirtschaftsakteuren weitgehende Einigkeit, dass das Land danach streben
müsse, von seiner Abhängigkeit von Stahlexporten wegzukommen. Lange Zeit
stellten diese ein Standbein der Exportwirtschaft mit einem Anteil von
30 bis 40% dar. Doch in einem Umfeld mit weltweiten Überkapazitäten und
einer einheimischen Schwerindustrie, die an mangelnden Investitionen
leidet und deshalb an Konkurrenzfähigkeit verliert, lautet nun die
Forderung, dass die ukrainische Wirtschaft mehr Wertschöpfung im eigenen
Land erreichen müsse. Statt Rohwaren und Halbfabrikaten gelte es
höherwertige Produkte zu exportieren.
Die grössten Hoffnungen werden
dabei in die Landwirtschaft und die nachgelagerte Lebensmittelindustrie
gesetzt. Mit ihrem Reichtum an fruchtbarer Schwarzerde ist die Ukraine
dabei neuerdings ins Blickfeld Chinas gerückt, das bemüht ist, im
Ausland über Beteiligungen an Agribusiness-Unternehmen seine Versorgung
sicherzustellen. Laut der «Financial Times» befindet sich Oleg
Bachmatjuk, ein ukrainischer Grossunternehmer mit verzweigten Interessen
in der Landwirtschaft, in Gesprächen mit Partnern aus China sowie dem
Mittleren Osten, die in milliardenschwere Deals über Getreide- und
Fleischproduktion münden könnten.
Die Entwicklung zeigt, dass die
Ukraine mittelfristig mehr Optionen hat als bloss die Alternativen West
oder Ost. Ebenso sind sich Fachleute aber einig darin, dass eine
Annäherung an die EU trotz den Schwierigkeiten, die es dafür zu
überwinden gilt, die besseren Perspektiven für die nötige Modernisierung
der Ukraine böte als eine Anlehnung an Russland.
ebd.
Der Mittelstand hat gegen die Oligarchie keine Chance
ruh. Kiew · In der
Diskussion um die Notwendigkeit wirtschaftlicher Modernisierung der
Ukraine taucht immer wieder auch die Forderung auf, das Land müsse sich
vom Modell oligarchischer Strukturen hin zu einer Wirtschaft entwickeln,
in welcher Klein- und Mittelbetriebe als flexible und
innovationsfreudige Elemente eine grössere Rolle spielten. Die Frage ist
allerdings, ob eine solche Strukturveränderung plausibel ist angesichts
des politischen und wirtschaftlichen Hintergrunds der Ukraine aus
zaristischer Zeit und sowjetischer Epoche sowie der Entwicklung in 22
Jahren Unabhängigkeit.
Grossunternehmen statt KMU
Erhellend ist etwa ein Blick auf
die Website von System Capital Management (SCM), der Holdinggesellschaft
des Grossunternehmers Rinat Achmetow. Bekannt ist SCM namentlich für
Bergbau, Stahlproduktion und Energiegewinnung, doch das weitverzweigte
Konglomerat ist auch noch in vielen anderen Bereichen tätig, von
Landwirtschaft über Finanzen und Immobilien bis zu Telekommunikation,
Transport, Medien und Lebensmittel-Detailhandel. Wenn aber solch grosse
Spieler auch Felder besetzen, in denen eigentlich der unternehmerische
Mittelstand präsent sein sollte, dann fragt man sich, wo für diesen dann
noch Platz sei.
«Wir steigen in Sektoren ein, wo
wir gute langfristige Wachstumsmöglichkeiten sehen», sagt der Schotte
Jock Mendoza-Wilson, der bei SCM die Abteilung für Investoren- und
internationale Beziehungen leitet. «Langfristiges Denken bedeutet, das
unternehmerische Portfolio zu diversifizieren und damit das Risiko zu
verringern.» Dass dies den KMU-Bereich zurückdränge, will Mendoza-Wilson
so nicht gelten lassen. Bei SCM bemühe man sich, Klein- und
Mittelbetriebe in die Zulieferkette einzubinden und ihnen dadurch zu
helfen, Umsatz zu generieren. Indem man als Abnehmer gewisse Standards
verlange, könne man zur Unternehmenskultur der Zulieferer beitragen und
sie damit voranbringen.
Grundsätzlich ist zwar auch
Mendoza-Wilson der Meinung, dass die treibende Kraft in einer
zukunftsgerichteten ukrainischen Wirtschaft der unternehmerische
Mittelstand sein sollte. Er bemerkt aber, dass der Sektor die nötige
Stärke noch nicht habe. Die Frage ist allerdings, ob er sie überhaupt
erreichen kann in einem Umfeld, das von einigen wenigen
Grossunternehmern beherrscht wird. Diese sind zudem nicht nur
wirtschaftlich dominant, sondern auch politisch bestens vernetzt und
entweder selber oder über Gewährsleute direkt und bis auf höchster Ebene
an politischen Entscheidungen beteiligt.
Reform des Bildungswesens
Eine ukrainisch-amerikanische
Unternehmerin, die im Anlagebereich tätig ist, glaubt deshalb, dass das
gegenwärtige «Top-down»-System auch in einer sich modernisierenden
ukrainischen Wirtschaft fortbestehen werde. Für die Klein- und
Mittelbetriebe werde es kaum genügend Spielraum für eine tragende Rolle
geben. Unbedingt notwendig sei aber für die Förderung des Mittelstands
eine Reform des Bildungswesens, das die qualifizierte Arbeitskraft für
eine Volkswirtschaft auf der Basis von Wissen heranziehe, und eine
Änderung der Gesetzgebung zum Unternehmensbankrott. Ein Bankrott dürfe
nicht länger ein gesellschaftliches Stigma darstellen, sondern müsse
Ansporn sein, es nochmals zu versuchen.
Bekannte Hindernisse für die
Erschliessung des unbestrittenen wirtschaftlichen Potenzials der Ukraine
sind Bürokratie, Korruption, oligarchische Vormachtstellungen in
wirtschaftlichen Schlüsselbereichen und ungenügender Schutz von
Eigentumsrechten. Das wurde von Präsident Janukowitsch und
Ministerpräsident Asarow an der WEF-Veranstaltung in Kiew auch
eingeräumt.
Die «Kyiv Post» verwies allerdings
darauf, dass zwischen Worten und Taten immer noch eine Kluft liege.
Janukowitsch habe zwar vom Willen zur Bekämpfung der Korruption
gesprochen.
Gleichzeitig habe der Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Chakrabarti, eine Reise nach Kiew vertagt, weil die ukrainische Seite nicht bereit gewesen sei, eine - gesetzlich nicht einmal bindende - Vereinbarung mit der EBRD über gemeinsame Massnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu unterzeichnen. Ebenso habe der Präsident, trotz all seiner Rhetorik, unlängst ein Gesetz unterzeichnet, das die Transparenz bei Beschaffungsaufträgen von Staatsunternehmen de facto verringere.
Gleichzeitig habe der Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Chakrabarti, eine Reise nach Kiew vertagt, weil die ukrainische Seite nicht bereit gewesen sei, eine - gesetzlich nicht einmal bindende - Vereinbarung mit der EBRD über gemeinsame Massnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu unterzeichnen. Ebenso habe der Präsident, trotz all seiner Rhetorik, unlängst ein Gesetz unterzeichnet, das die Transparenz bei Beschaffungsaufträgen von Staatsunternehmen de facto verringere.
Dieser Bereich ist dabei bekannt
für seine Korruptions-Anfälligkeit. Im Jahr 2012 wurden laut der «Kyiv
Post», die sich auf Daten des ukrainischen Wirtschaftsministeriums und
der Weltbank berief, öffentliche Aufträge im Volumen von 64 Mrd. $
(36% des BIP) vergeben, davon 36 Mrd. $ ohne Wettbewerb.
Klarere Regeln gefordert
Die starke Verankerung vertikaler
Strukturen sowohl in der politisch-gesellschaftlichen Ordnung wie auch
in der Wirtschaft der Ukraine sprechen eher gegen einen
Paradigmenwechsel hin zu flacheren Hierarchien und einem stärkeren
Mittelstand. Was man sich aber bei grossen Spielern wie etwa SCM von
einer Westintegration erhofft, ist bessere weltwirtschaftliche
Integration und Akzeptanz. Die mächtigen ukrainischen Imperien mögen
ihre Existenz dem «wilden Kapitalismus» der ersten Nachwendezeit
verdanken. Doch für den Erfolg in einem globalisierten Umfeld wünschen
sich ihre Kapitäne nun klarere Regeln.
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