Sonntag, 24. November 2013

Ukraine

aus NZZ, 23. 11. 2013

Die Ukraine steht an einem Scheideweg
Die Anlehnung an Russland macht die herbeigewünschte Modernisierung schwierig 


Höherwertige Exporte statt Rohwaren und Stahl und Ausrichtung nach Westen statt Verharren in postsowjetischen Strukturen, die eine Modernisierung behindern: So wünschen sich Wirtschaftsführer die Ukraine. Die Realität sieht anders aus.

von Rudolf Hermann, Kiew

Eine innovative und flexible Wirtschaft, die zu Hause Mehrwert erarbeitet und statt Rohwaren hochwertige Produkte auf anspruchsvolle Märkte exportiert, ein institutionelles Umfeld, das die ökonomische Entwicklung begünstigt statt behindert, und eine Bevölkerung, in der sich eine international mobile und zunehmend wohlhabende Mittelklasse herausbildet, die den inländischen Konsum ankurbelt - so sieht das Zukunftsszenario aus, das man sich in der Ukraine sowohl seitens Regierungsvertretern wie auch seitens von Wirtschaftsakteuren wünscht. Wie dies zu verwirklichen ist, war Anfang November in Kiew Gegenstand eines strategischen Dialogs von Wirtschaftsführern und Exponenten der Politik unter dem Dach des World Economic Forum.

Drei Szenarien

Kontrastiert wurde diese Vision durch ein anderes Szenario. Es ging von einem durch hohe Preise charakterisierten, ungenügend reformierten Energiesektor aus, der zusammen mit ungezügelten Staatsausgaben die öffentlichen Finanzen belastet, was wiederum Investoren abschreckt und zu Kapitalflucht und Braindrain führt. Als eine Art Mittelweg zwischen den beiden Extrempunkten wurde schliesslich die Variante zur Diskussion gestellt, dass eine schleppende Nachfrage für die traditionellen Exportprodukte der Ukraine das Land zu einer Neuorientierung seines Exports zwingt, sowohl geografisch wie auch hinsichtlich des Produkteportfolios. Dadurch würde das institutionelle Umfeld zwar graduell verbessert, in der Wirtschaft würden aber weiterhin grosse Industrie-Konglomerate den Ton angeben. Eine Mittelklasse auf der Grundlage prosperierender Klein- und Mittelbetriebe würde sich nur zögerlich herausbilden.

In welcher Kombination Elemente dieser Szenarien in der näheren Zukunft zum Tragen kommen, hängt einerseits zu einem gewissen Teil vom weltwirtschaftlichen Umfeld ab und bewegt sich damit ausserhalb des direkten Einflusses der Kiewer Wirtschaftspolitiker. Andrerseits können von den Politikern wichtige Weichen durchaus selber gestellt werden. So betrachteten an der Tagung zahlreiche Kommentatoren als entscheidende Voraussetzung für ein positives Szenario, dass die Ukraine mit der EU Ende November beim Gipfeltreffen der sogenannten östlichen Partnerschaft das Assoziations- und Freihandelsabkommen unterzeichnen könne, weil sich daraus ein notwendiger Reformschub ableite. Da Kiew sich allerdings in letzter Minute aus der EU-Annäherung zurückgezogen hat, wird dieser Impuls vorläufig fehlen.

Mehr Vertrauen nötig

Allerdings würde sich eine Annäherung an die EU ohnehin kaum sofort in steigendem Wohlstand niederschlagen (wie es die ukrainische Bevölkerung vielleicht unrealistischerweise erwartet). Vielmehr würde die einheimische Wirtschaft durch den Freihandel unvermittelt dem scharfen Wind der europäischen Konkurrenz ausgesetzt und müsste sich in diesem Umfeld erst einmal zurechtfinden. Dies dürfte von Präsident Janukowitsch, der 2015 wiedergewählt werden möchte, als Problem betrachtet worden sein. Dass Russland mit Handelssanktionen drohte, die kurzfristig sowohl die ukrainischen Erdgasimporte wie auch die substanziellen Exporte zum östlichen Nachbarn gefährdet und damit auf die Stimmung gedrückt hätten, kam noch hinzu.

Nur beschränkt attraktiv ist die Westintegration für Janukowitsch ferner wegen Forderungen nach mehr demokratischer Transparenz und besserer Rechtssicherheit. Denn dies würde bedeuten, dass er den Griff lockern müsste, in dem er das politische System hält und auf dem seine Macht gründet.

Doch wäre eine vertraglich besiegelte Annäherung an die EU ein Grund für westliche Investoren, dem Land mehr Vertrauen entgegenzubringen. Zwar wird der Ukraine schon lange attraktives Potenzial attestiert, etwa im Bereich der Landwirtschaft. Doch wirken unübersichtliche Verhältnisse mit Bürokratie und verbreiteter Korruption nach wie vor abschreckend. Dass das Land sich im «Ease of doing business»-Report der Weltbank gegenüber dem Vorjahr substanziell verbessern konnte, ist zweifellos positiv. Aber solange niemand weiss, welche Integrations-Option die Ukraine schliesslich wählt (oder welche ihr letztlich offensteht) und wie sich der gewählte Weg auf das Unternehmensklima auswirkt, bleiben grosse Unsicherheitsfaktoren bestehen.

Indem Kiew die Möglichkeit vorbeigehen lässt, jetzt die Verträge mit der EU zu unterzeichnen, scheint eine Zementierung des Negativ-Szenarios vorgezeichnet, das in Grundzügen bereits angelaufen ist. Verlust an internationaler Glaubwürdigkeit und das Fehlen eines Drucks auf Reformen würden unweigerlich in eine Abwärtsspirale münden, meinte an der WEF-Veranstaltung ein prominenter ukrainischer Unternehmer warnend.

Entwicklungen der jüngsten Zeit geben tatsächlich Anlass zu Besorgnis. Die drei grossen internationalen Rating-Agenturen haben über die letzten Wochen die Kreditwürdigkeit der Ukraine allesamt herabgestuft. Als Gründe wurden das Leistungsbilanzdefizit von rund 8% des Bruttoinlandprodukts (BIP) und die faktische Anbindung der Hrywna an den Dollar genannt, die zusammen die Landeswährung einem starken Abwertungsdruck aussetzten; ferner der schwierige und teure Zugang zu internationalen Finanzierungsquellen in Absenz eines Beistandsabkommens mit dem Internationalen Währungsfonds (IMF) und nicht zuletzt auch der Druck des Fiskaldefizits, das 2013 bei 6% des BIP zu liegen kommen dürfte. Auch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hielt zur Ukraine in ihrem jüngsten Bericht über die Aussichten der ostmitteleuropäischen Region fest, dass erhebliche externe Risiken bestünden, indem die Devisenreserven der Nationalbank nur noch Importe von 2,5 Monaten decken könnten und das Land dabei von internationalen Finanzierungsmöglichkeiten praktisch ausgeschlossen sei. Nach der Abwendung von der EU-Variante kann die Ukraine zwar darauf hoffen, dass ihr vorläufig Russland finanziell aus der Patsche hilft. Eine allfällige Reorientierung nach Westen zu einem späteren Zeitpunkt wird für Kiew dadurch allerdings nicht einfacher.

Neue Export-Philosophie

Unabhängig davon, welchen Pfad der Integration die Ukraine schliesslich gehen wird, herrscht unter Wirtschaftsakteuren weitgehende Einigkeit, dass das Land danach streben müsse, von seiner Abhängigkeit von Stahlexporten wegzukommen. Lange Zeit stellten diese ein Standbein der Exportwirtschaft mit einem Anteil von 30 bis 40% dar. Doch in einem Umfeld mit weltweiten Überkapazitäten und einer einheimischen Schwerindustrie, die an mangelnden Investitionen leidet und deshalb an Konkurrenzfähigkeit verliert, lautet nun die Forderung, dass die ukrainische Wirtschaft mehr Wertschöpfung im eigenen Land erreichen müsse. Statt Rohwaren und Halbfabrikaten gelte es höherwertige Produkte zu exportieren.

Die grössten Hoffnungen werden dabei in die Landwirtschaft und die nachgelagerte Lebensmittelindustrie gesetzt. Mit ihrem Reichtum an fruchtbarer Schwarzerde ist die Ukraine dabei neuerdings ins Blickfeld Chinas gerückt, das bemüht ist, im Ausland über Beteiligungen an Agribusiness-Unternehmen seine Versorgung sicherzustellen. Laut der «Financial Times» befindet sich Oleg Bachmatjuk, ein ukrainischer Grossunternehmer mit verzweigten Interessen in der Landwirtschaft, in Gesprächen mit Partnern aus China sowie dem Mittleren Osten, die in milliardenschwere Deals über Getreide- und Fleischproduktion münden könnten.

Die Entwicklung zeigt, dass die Ukraine mittelfristig mehr Optionen hat als bloss die Alternativen West oder Ost. Ebenso sind sich Fachleute aber einig darin, dass eine Annäherung an die EU trotz den Schwierigkeiten, die es dafür zu überwinden gilt, die besseren Perspektiven für die nötige Modernisierung der Ukraine böte als eine Anlehnung an Russland.


ebd.
Der Mittelstand hat gegen die Oligarchie keine Chance

ruh. Kiew · In der Diskussion um die Notwendigkeit wirtschaftlicher Modernisierung der Ukraine taucht immer wieder auch die Forderung auf, das Land müsse sich vom Modell oligarchischer Strukturen hin zu einer Wirtschaft entwickeln, in welcher Klein- und Mittelbetriebe als flexible und innovationsfreudige Elemente eine grössere Rolle spielten. Die Frage ist allerdings, ob eine solche Strukturveränderung plausibel ist angesichts des politischen und wirtschaftlichen Hintergrunds der Ukraine aus zaristischer Zeit und sowjetischer Epoche sowie der Entwicklung in 22 Jahren Unabhängigkeit.

Grossunternehmen statt KMU

Erhellend ist etwa ein Blick auf die Website von System Capital Management (SCM), der Holdinggesellschaft des Grossunternehmers Rinat Achmetow. Bekannt ist SCM namentlich für Bergbau, Stahlproduktion und Energiegewinnung, doch das weitverzweigte Konglomerat ist auch noch in vielen anderen Bereichen tätig, von Landwirtschaft über Finanzen und Immobilien bis zu Telekommunikation, Transport, Medien und Lebensmittel-Detailhandel. Wenn aber solch grosse Spieler auch Felder besetzen, in denen eigentlich der unternehmerische Mittelstand präsent sein sollte, dann fragt man sich, wo für diesen dann noch Platz sei.

«Wir steigen in Sektoren ein, wo wir gute langfristige Wachstumsmöglichkeiten sehen», sagt der Schotte Jock Mendoza-Wilson, der bei SCM die Abteilung für Investoren- und internationale Beziehungen leitet. «Langfristiges Denken bedeutet, das unternehmerische Portfolio zu diversifizieren und damit das Risiko zu verringern.» Dass dies den KMU-Bereich zurückdränge, will Mendoza-Wilson so nicht gelten lassen. Bei SCM bemühe man sich, Klein- und Mittelbetriebe in die Zulieferkette einzubinden und ihnen dadurch zu helfen, Umsatz zu generieren. Indem man als Abnehmer gewisse Standards verlange, könne man zur Unternehmenskultur der Zulieferer beitragen und sie damit voranbringen.

Grundsätzlich ist zwar auch Mendoza-Wilson der Meinung, dass die treibende Kraft in einer zukunftsgerichteten ukrainischen Wirtschaft der unternehmerische Mittelstand sein sollte. Er bemerkt aber, dass der Sektor die nötige Stärke noch nicht habe. Die Frage ist allerdings, ob er sie überhaupt erreichen kann in einem Umfeld, das von einigen wenigen Grossunternehmern beherrscht wird. Diese sind zudem nicht nur wirtschaftlich dominant, sondern auch politisch bestens vernetzt und entweder selber oder über Gewährsleute direkt und bis auf höchster Ebene an politischen Entscheidungen beteiligt.

Reform des Bildungswesens

Eine ukrainisch-amerikanische Unternehmerin, die im Anlagebereich tätig ist, glaubt deshalb, dass das gegenwärtige «Top-down»-System auch in einer sich modernisierenden ukrainischen Wirtschaft fortbestehen werde. Für die Klein- und Mittelbetriebe werde es kaum genügend Spielraum für eine tragende Rolle geben. Unbedingt notwendig sei aber für die Förderung des Mittelstands eine Reform des Bildungswesens, das die qualifizierte Arbeitskraft für eine Volkswirtschaft auf der Basis von Wissen heranziehe, und eine Änderung der Gesetzgebung zum Unternehmensbankrott. Ein Bankrott dürfe nicht länger ein gesellschaftliches Stigma darstellen, sondern müsse Ansporn sein, es nochmals zu versuchen.

Bekannte Hindernisse für die Erschliessung des unbestrittenen wirtschaftlichen Potenzials der Ukraine sind Bürokratie, Korruption, oligarchische Vormachtstellungen in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen und ungenügender Schutz von Eigentumsrechten. Das wurde von Präsident Janukowitsch und Ministerpräsident Asarow an der WEF-Veranstaltung in Kiew auch eingeräumt.

Die «Kyiv Post» verwies allerdings darauf, dass zwischen Worten und Taten immer noch eine Kluft liege. Janukowitsch habe zwar vom Willen zur Bekämpfung der Korruption gesprochen.

Gleichzeitig habe der Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Chakrabarti, eine Reise nach Kiew vertagt, weil die ukrainische Seite nicht bereit gewesen sei, eine - gesetzlich nicht einmal bindende - Vereinbarung mit der EBRD über gemeinsame Massnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu unterzeichnen. Ebenso habe der Präsident, trotz all seiner Rhetorik, unlängst ein Gesetz unterzeichnet, das die Transparenz bei Beschaffungsaufträgen von Staatsunternehmen de facto verringere.

Dieser Bereich ist dabei bekannt für seine Korruptions-Anfälligkeit. Im Jahr 2012 wurden laut der «Kyiv Post», die sich auf Daten des ukrainischen Wirtschaftsministeriums und der Weltbank berief, öffentliche Aufträge im Volumen von 64 Mrd. $ (36% des BIP) vergeben, davon 36 Mrd. $ ohne Wettbewerb.

Klarere Regeln gefordert

Die starke Verankerung vertikaler Strukturen sowohl in der politisch-gesellschaftlichen Ordnung wie auch in der Wirtschaft der Ukraine sprechen eher gegen einen Paradigmenwechsel hin zu flacheren Hierarchien und einem stärkeren Mittelstand. Was man sich aber bei grossen Spielern wie etwa SCM von einer Westintegration erhofft, ist bessere weltwirtschaftliche Integration und Akzeptanz. Die mächtigen ukrainischen Imperien mögen ihre Existenz dem «wilden Kapitalismus» der ersten Nachwendezeit verdanken. Doch für den Erfolg in einem globalisierten Umfeld wünschen sich ihre Kapitäne nun klarere Regeln.

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