Der Fluch der Kolchosen
Während der Modernisierungsdruck auf Russlands Landwirtschaft steigt, machen sich alte Versäumnisse bitter bemerkbar
Das sowjetische Erbe lässt Russlands Landwirtschaft um internationalen Anschluss ringen. Ackerbau und Viehzucht im grössten Land der Erde haben Potenzial, aber es fehlen Kapital, Konsolidierung und Effizienz.
Während der Modernisierungsdruck auf Russlands Landwirtschaft steigt, machen sich alte Versäumnisse bitter bemerkbar
Das sowjetische Erbe lässt Russlands Landwirtschaft um internationalen Anschluss ringen. Ackerbau und Viehzucht im grössten Land der Erde haben Potenzial, aber es fehlen Kapital, Konsolidierung und Effizienz.
von Benjamin Triebe, Ust-Labinsk
Die Sowjetunion grüsst von den
Wänden, aber Ljudmila Demjanenko redet von Wettbewerb. Wenn sich eine
Zuckerfabrik nicht modernisiere, müsse sie sterben, sagt sie. Fünf
Fabriken in der Region hätten schon Bankrott gemacht. Demjanenkos
Zuckerfabrik im südrussischen Ust-Labinsk bisher nicht. Die Fabrik ist
55 Jahre alt, heisst immer noch «Freiheit» und kann auch sonst ihre
sowjetische Abstammung nicht verbergen. In der Produktionshalle hängen
grosse Mosaike im Stil des sozialistischen Realismus: der Arbeiter auf
dem Felde, eine überdimensionale Steckrübe und ein Obstkorb. Am Eingang
empfangen 33 Porträts unter der Überschrift «Unsere besten Arbeiter»
(jene, die den Plan vorbildlich übererfüllten). Einige Steinchen sind
aus den Mosaiken gebröckelt, aber diese Modernisierung hat Demjanenko
auch nicht gemeint.
Hinter den Möglichkeiten
Um die russische Landwirtschaft
ist es schlecht bestellt. Im flächengrössten Land der Erde liegt laut
der Uno-Fachorganisation FAO ein Zehntel des global für die
Landwirtschaft nutzbaren Landes, etwa 120 Mio. Hektaren. Dennoch steuert
Russland nur 3% zur weltweiten Produktion von Getreide bei, beim Gemüse
ist es 1%, bei der Milch immerhin 4%. Aus der Kollektivierung in der
Sowjetunion und den Privatisierungen in den 1990er Jahren ist ein
zersplitterter, international nicht wettbewerbsfähiger und ineffizienter
Agrarsektor hervorgegangen, der den Bedarf des Landes nicht decken kann
und für die gebotene Qualität oft zu teuer produziert. Seit dem
Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) im August 2012 und
den damit verbundenen Zollsenkungen weht der Branche ein noch schärferer
Wind ins Gesicht.
Ein Betrieb, der nicht reagiert,
spielt mit seiner Existenz. Die Zuckerfabrik «Freiheit» ist mit der
jährlichen Produktion von 83 000 t zwar eine der kleineren in
Russland, aber profitabel. 500 Menschen arbeiten im Betrieb in drei
Schichten. Heute feiert Dmitri seinen 30. Geburtstag, wozu das digitale
Schriftband am Haupttor herzlich gratuliert. Es ist ebenso modern wie
die Anzeige mit «Soll» und «Ist» der täglichen Produktion. In den
vergangenen sechs Jahren hat man umgerechnet 18 Mio. $ investiert,
finanziert aus Gewinnen. Noch ist der Erneuerungsbedarf nicht zu Ende,
die Anlagen stammen aus zwei Zeitaltern: links die modernen Tanks und
Rohre zum Kochen des Zuckerrübensaftes, rechts die sowjetischen. Doch
würde alles auf einmal saniert, müsste die Produktion stillstehen. Der
WTO-Beitritt sei gut für die Fabrik, sagt Ljudmila Demjanenko. Und er
sei gut für den Wettbewerb, vor dem sie keine Angst habe.
Demjanenko leitet die
Zucker-Abteilung der Kuban Agro Holding, einer Dachgesellschaft von 30
Agrarunternehmen in der besonders fruchtbaren südrussischen Region
Krasnodar. Das Portfolio reicht von Zuckerproduktion und Getreideanbau
über Schweine- und Rinderzucht bis zur Saatentwicklung. Kuban Agro ist
Teil des Konglomerats Basic Element, das der Magnat Oleg Deripaska
aufgebaut hat. Basic Element vereint Geschäfte vom Finanzsektor bis zur
Luftfahrt und erwirtschaftet nach eigenen Angaben 1% des russischen
Bruttoinlandprodukts. Die Landwirtschaft, gebündelt in Kuban Agro, ist
mit 5000 Mitarbeitern ein kleines Segment. Deripaska ist in Ust-Labinsk
aufgewachsen, inzwischen gehören ihm nicht nur die Flughäfen der Region,
sondern auch rund 80% des Agrarlandes im Verwaltungsbezirk der Stadt.
Für seine Holding kaufte der 45-jährige Magnat ab 2002
Produktionsstätten, die zum Teil seit den fünfziger Jahren existieren.
Die Reformen der Sowjetzeit haben
die russische Landwirtschaft von Grund auf umgekrempelt: Ende der
zwanziger Jahre wurden alle Böden beschlagnahmt, die Bauern enteignet
sowie grosse staatliche Betriebe (Sowchosen) und landwirtschaftliche
Produktionsgenossenschaften (Kolchosen) geschaffen. Die
Niederlassungsfreiheit der Bauern wurde aufgehoben. Die Moral war
schlecht, das System ineffizient. Verschwendung und Verschleiss
explodierten, die Planwirtschaft erzeugte Mangelwirtschaft. In den
Anfangsjahren kam es zu Hungersnöten. Auch später waren Produktivität
und Ertrag pro Hektare trotz forciertem Einsatz von Maschinen und
Chemikalien niedrig; die wenigen erlaubten privaten Betriebe
wirtschafteten weitaus besser.
Wende und Abstieg
Nach der Wende erhielten die
Arbeiter Anteilscheine an ihren ehemaligen Sowchosen und Kolchosen, die
ihnen auf dem Papier einen Teil des Betriebes zugestanden. Wer sich
allerdings mit seinen Landansprüchen selbständig machen wollte, musste
ein abschreckendes Registrierungsverfahren durchlaufen - da pflanzte man
lieber im eigenen Garten an. In den ehemaligen Kollektivbetrieben
mangelte es derweil an Kapital und Managementfähigkeiten, die Qualität
der Erzeugnisse liess oft zu wünschen übrig. Von 1992 bis 1998
schrumpfte Russlands Agrarproduktion um rund 40%. Die bebaute Fläche ist
bis heute im selben Mass gesunken. Jeder fünfte arbeitsfähige
Sowjetbürger soll in den achtziger Jahren in der Landwirtschaft
gearbeitet haben; heute sind es 7% aller russischen Beschäftigten.
Zunächst unterstützte die
Regierung die Kleinbauern, die aber zu klein waren, um produktiv zu
arbeiten und zu investieren. Neben den Nachfolgern der Kollektivbetriebe
entstanden derweil durch den Aufkauf der Anteilscheine Konzerne und
Konglomerate. Kuban Agro zählt heute zu den zwanzig grössten Agrarfirmen
und erwirtschaftete 2012 einen Umsatz von 224 Mio. $ bei einem
Reingewinn von 21 Mio. $. Doch unter dem Strich bleibt die Branche
fragmentiert. Rund die Hälfte der Produktion wird von kleinen oder sehr
kleinen Erzeugern geleistet, die ihre geringen Mengen homogener Produkte
mit wenig Preissetzungsmacht an die verarbeitende Industrie oder
Grosshändler verkaufen. Weil sich wenige Ketten den Detailhandel
aufteilen, zahlen am Ende die Konsumenten hohe Preise.
In der Branche lautet das
Zauberwort deshalb «vertikale Integration»: In entwickelten und
differenzierten Märkten lassen sich Vorprodukte wie etwa Saatgut günstig
einkaufen und eigene Erzeugnisse zur Weiterverarbeitung mit attraktiven
Margen veräussern. Anders sieht es aus, wenn in akzeptabler Nähe nur
wenige vor- und nachgelagerte Anbieter mit akzeptabler Qualität
verfügbar sind. Dann sind die Transportkosten hoch und die Margen klein.
Deshalb dreht sich auch bei Kuban Agro die Wachstumsstrategie nicht um
schiere Grösse, sondern um die Ausweitung des Geschäfts. Es ist
billiger, das Saatgut selber herzustellen, als es am Markt zu kaufen -
also soll die Produktionsanlage aufgerüstet werden. Auch für Sojabohnen
wird eine eigene Verwertung gebaut, genau wie ein Schlachthaus für
Rinder und Schweine. Mindestens in den nächsten fünf Jahren stehe die
vertikale Integration auf dem Programm, sagt CEO Anton Ulanow. Zudem
werden alle Segmente auf Produktivität getrimmt: «Den Preis können wir
nicht kontrollieren, aber unsere Kosten.»
Ein Beispiel ist die
Milchproduktion: Ein Liter Mich kostet im Laden 60 Rbl. (Fr. 1.70),
davon erhält der Milchbauer etwa einen Drittel. Weil für die
Verarbeitung so viel Marge verloren geht, denkt Kuban Agro darüber nach,
auch diese selber zu erledigen. Wo die Milch dafür herkommen soll,
lässt sich einige Fahrminuten von der Zuckerfabrik entfernt erkennen -
aus einem der grössten Kuhställe Russland. Die flachen Baracken
existieren erst seit 2008, im Gegensatz zu den antiquarischen Tankwagen,
die in sowjetischem Stil nur den weiss-blau lackierten Schriftzug
«Milch» tragen. 7500 Kühe haben auf der Anlage Platz. Doch wie
Tierwirtin Ljubow Gretschanaja erläutert, stehen in den Ställen keine
russischen, sondern kanadische Tiere, die für grosse Milchleistung
gezüchtet sind. Die Arbeiterinnen in der modernen Melkbaracke werden
nach gemolkener Milchmenge bezahlt.
Im September hat Präsident Putin
die Ställe besucht. Der Betrieb profitierte von einem Staatsprogramm,
genau wie fast alle Teile der russischen Landwirtschaft. Die Regierung
zahlt eine Pauschale pro bewirtschaftete Hektare und für Saatgut -
allerdings deutlich weniger als in Westeuropa, wie die Landwirte klagen.
Für manche Projekte gibt es zinsvergünstigte Kredite, alle
Agrarunternehmen sind von Gewinnsteuern befreit. Doch durch den
WTO-Beitritt steigt der Druck: Russland musste die Agrarsubventionen
reduzieren, zunächst auf maximal 9 Mrd. $ im Jahr 2012 und bis 2018
auf jährlich 4,4 Mrd. $. Der durchschnittliche Importzoll für
Agrarprodukte wird von 13,2% auf 10,8% gesenkt. Stark betroffen sind
Weizen und Milchprodukte, auch wenn teilweise Übergangsfristen von bis
zu acht Jahren gelten. Die Branche klagt dennoch, sie sei nicht bereit.
Allerdings wurde über den Beitritt 18 Jahre verhandelt - niemand kann
sagen, er sei überraschend gekommen.
Investoren gesucht
Die Konkurrenz aus dem Ausland
macht Investitionen im Inland umso wichtiger, genau wie der inländische
Kapitalmangel auch ausländische Geldgeber erfordert. Einer davon ist die
TKS Union, eine Gesellschaft von zwei Agrarbeteiligungsfirmen aus
Deutschland. Zusammen mit dem grossen deutschen Fleischproduzenten
Tönnies besitzt die TKS zwei Schweinezuchtbetriebe in Belgorod und
Woronesch im Südwesten Russlands. Gelockt hat die TKS der wachsende
Appetit der Russen auf Schweinefleisch, der zu weniger als 70% aus
inländischer Produktion gedeckt wird, und der hohe Anteil an fruchtbarer
Schwarzerde in dieser Region. Sie erlaubt einen Ertrag von 3,5 t
Weizen pro Hektare, 1 t mehr als im landesweiten Durchschnitt. Das ist
wichtig, weil die Firmengruppe namens Sojuz, an der die TKS beteiligt
ist, von der Getreideproduktion über die Futterherstellung bis zur
Schweinemast die ganze Arbeitskette abdecken will - vertikale
Integration ist auch hier die Devise.
Ende des Jahres soll ein eigenes
Futtermittelwerk die Produktion aufnehmen, später kommt vielleicht eine
Fleischverarbeitung hinzu. Bis 2017 will die Sojuz-Gruppe die
Ackerfläche von 45 000 auf 60 000 Hektaren erweitern und bis zu 1,5
Mio. Schweine pro Jahr statt gegenwärtig 650 000 züchten. Die Betriebe
sollen zum zweitgrössten Schweineproduzenten des Landes aufsteigen. Die
Gruppe erreichte 2012 mit 750 Mitarbeitern einen Umsatz von 100 Mio. €
und ein Betriebsergebnis (Ebit) von 21 Mio. €. Er habe nur Positives
zu berichten, sagt TKS-Vorstand Georg Reese. Mit der umständlichen
Bürokratie müsse man leben, aber die Verwaltung funktioniere. Er fühle
sich als Investor in Russland willkommen.
Tatsächlich hat das Land seine
Vorteile: Der Kauf einer Hektare Agrarlandes kostet hier rund 500 €,
verglichen mit bis zu 18 000 € in Deutschland. Da die Regierung
Schweinefleischimporte nicht fördert und die Selbstversorgung aus Sicht
von Georg Reese auch auf Jahre nicht erreicht sein wird, gibt es keinen
Preis- oder Verdrängungswettbewerb. Die Preise, zu denen Schweine an den
Schlachthof verkauft werden, liegen bis zu einem Viertel über denen in
Deutschland. Das und niedrige Personalkosten kompensieren auch die
kürzeren Anbauzeiten durch den härteren Winter und den geringeren Ertrag
pro Fläche im Vergleich mit dem Westen.
Druck zum Lokalisieren
Russland tut aber auch viel,
ausländische Produzenten mit Diskriminierungen zu Investitionen im
Inland zu bewegen. Es häufen sich nichttarifäre Hemmnisse wie
ungewöhnlich hohe Gesundheitsauflagen oder Nachweispflichten für
Lebensmittelimporte aus aller Welt. Auch die Produktionsmittel möchte
man am liebsten im eigenen Land hergestellt sehen: Beispielsweise
existiert auf die Einfuhr von Mähdreschern und deren Teile seit Februar
ein «Anti-Dumping-Zoll» von 27% zusätzlich zum normalen Zoll von 5%. Im
Juli wurde der Strafzoll nach grossem Protest vorerst ausgesetzt,
abgeschafft ist er nicht. Manch einer lässt sich von einer
Produktionsverlagerung überzeugen, zum Beispiel Claas: Der deutsche
Landtechnikhersteller eröffnete vor zehn Jahren als erster grosser
ausländischer Branchenvertreter ein Werk in Krasnodar. Im Mai kündigte
Claas an, für 115 Mio. € die Kapazität bis 2015 von 1000 auf 2500
Maschinen pro Jahr zu erweitern und die Mitarbeiter von 200 auf 500
aufzustocken.
Wer verkaufen wolle, müsse eben
lokalisieren, sagt Waleri Masjukewitsch, Leiter eines Wartungszentrums
von Kuban Agro. Es kümmert sich um 230 ausländische Maschinen und ist
das grösste in Osteuropa. Stolz präsentiert Masjukewitsch den
weitläufigen asphaltierten Hof, auf dem absolut nichts zu sehen ist:
Alle Maschinen sind einsatzfähig und auf den Feldern - es ist Oktober,
Erntezeit. In den Kaufverträgen sind Klauseln, wonach die Hersteller die
Techniker des Käufers für die Wartung trainieren müssen.
Reparaturbedarf sei vorhanden, denn der Boden sei härter als in
Westeuropa, erläutert Masjukewitsch. Die Traktoren müssen mehr aushalten
und wegen der grösseren Flächen weitere Wege zurücklegen. Wie es
heisst, übergeben die Hersteller in Russland neue Traktoren mit der
Bitte, sie «kaputt zu testen» - um herauszufinden, wo ihre Schwachpunkte
liegen.
Die Fehlerdiagnose für den
gesamten Agrarsektor ist komplizierter. Verglichen mit der Zeit kurz
nach der Perestroika hat sich zwar viel verbessert, aber Hürden bleiben:
Da ist der hohe Anteil an Kleinbauern und Hofwirtschaften, die wenig
unternehmerisch denken und nicht genug Kapital für Investitionen
aufbringen. Da ist die Abhängigkeit von politischer Unterstützung und
von Subventionen, die aber zu niedrig sind, um den Entwicklungsrückstand
zum Westen zu kompensieren, wo der Staat noch freizügiger ist. Da sind
die marktbeherrschenden Handelsketten, welche die Margen der
Agrarbetriebe drücken. Da ist das schlechtere Wetter als in Westeuropa,
die härteren Winter, die häufigeren Missernten. Und da ist ein
WTO-Beitritt, der das grösste Problem der Branche ist, aber auch ihre
beste Motivation, offener und produktiver zu werden. Gäbe es einen
einfachen Weg für Russlands Agrarwirtschaft, er wäre wohl schon
gefunden.
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