Charakterologie und Judenfeindschaft
Per Leos Studie über die geistesgeschichtlichen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland
Judith Leister · Die Urszene zu seinem Buch beschreibt Per Leo folgendermassen: Als er 1995 den Nachlass seines Grossvaters, eines früheren SS-Sturmbannführers aus dem «Rasse- und Siedlungshauptamt», sortierte, fanden sich bald neben einem Stapel mit Werken von Goethe, Schopenhauer und Hölderlin ebenso viele Bücher von antisemitischen Theoretikern wie Lagarde, Chamberlain und Rosenberg. Ein Band jedoch, «Handschrift und Charakter» des Charakterologen Ludwig Klages, schien nicht recht zuordenbar zu sein. Das 1917 erschienene Werk des einst populären Lebensphilosophen und George-Jüngers zeugte für Leo einerseits von «ernstzunehmendem Erkenntnisinteresse» und «anschaulichem Denken, das an Goethe und Lavater denken liess». Andererseits wies es jedoch auch einen deutlichen «Gestus kriminologischer Entlarvung» im Stil der Rassenkunde auf.
Per Leos Studie über die geistesgeschichtlichen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland
Judith Leister · Die Urszene zu seinem Buch beschreibt Per Leo folgendermassen: Als er 1995 den Nachlass seines Grossvaters, eines früheren SS-Sturmbannführers aus dem «Rasse- und Siedlungshauptamt», sortierte, fanden sich bald neben einem Stapel mit Werken von Goethe, Schopenhauer und Hölderlin ebenso viele Bücher von antisemitischen Theoretikern wie Lagarde, Chamberlain und Rosenberg. Ein Band jedoch, «Handschrift und Charakter» des Charakterologen Ludwig Klages, schien nicht recht zuordenbar zu sein. Das 1917 erschienene Werk des einst populären Lebensphilosophen und George-Jüngers zeugte für Leo einerseits von «ernstzunehmendem Erkenntnisinteresse» und «anschaulichem Denken, das an Goethe und Lavater denken liess». Andererseits wies es jedoch auch einen deutlichen «Gestus kriminologischer Entlarvung» im Stil der Rassenkunde auf.
«Weltanschauungskultur»
Diese - so die These - für die
deutsche Geistesgeschichte charakteristische Besonderheit macht Leo zum
Ausgangspunkt seiner Untersuchung «Der Wille zum Wesen.
Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft
1890-1940». Das Buch untersucht den bisher von der Forschung eher
vernachlässigten Zusammenhang zwischen spezifisch deutscher
Weltanschauungskultur und Nationalsozialismus. Als «politisch offenes»,
von einer fertigen Ideologie weit entferntes «Weltanschauungsfeld» wurde
der Nationalsozialismus von Intellektuellen wie Gottfried Benn, Carl
Schmitt oder eben Ludwig Klages verstanden - und damit als Einladung,
«der Bewegung» ein geistiges Profil zu geben. Leos Denkgeschichte
zeichnet anhand Dutzender Autoren, die meist ausserhalb des akademischen
Betriebs standen, den Weg von der Herausbildung der Charakterologie im
19. Jahrhundert bis zum Rassismus des Dritten Reichs nach. Der Titel
«Wille zum Wesen» verweist auf den Machtanspruch, der mit der
Zuschreibung charakterologisch definierter Eigenschaften von vorneherein
verbunden war.
Per Leo: Der Wille zum Wesen.
Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft 1890-1940.
Matthes & Seitz. Berlin 2013. 734 S., Fr. 66.90.
Zunächst zeigt Leo auf, dass die
um 1900 neue Erfahrung des Grossstadtlebens mit seinem Tempo und der
Auflösung fester Identitäten in der deutschen Weltanschauungsliteratur
vorwiegend unter negativen Vorzeichen diskutiert wurde. Im Rahmen eines
«Gefährdungsdiskurses» entwarfen Autoren wie Ernst von Salomon, Werner
Sombart und Oswald Spengler ein negatives Bild der Masse als «das
absolut Formlose» (Spengler). Um den «fremden Anderen», der einem in der
Grossstadt bedrückend nahekam, einschätzen zu können, suchte man
Orientierungsstrategien: Eine systematische Charakterologie sollte es
dem geschulten Betrachter ermöglichen, das Wesen eines Menschen zu
erkennen. Dabei war es schon Ende des 19. Jahrhunderts üblich, so Leo,
zwischen der «Oberfläche» und dem wahren «Wesen» zu unterscheiden.
Drei grosse Denker des 19.
Jahrhunderts, die «Spuren» für die spätere Charakterologie legten, hebt
Leo besonders hervor. Von Goethes Naturforschung, die das breite
Publikum erst um 1900 erreichte, übernahm die Weltanschauungsliteratur
die Methode. Nach Goethe sind Idee und Sinn einer Formation oder Epoche
nicht durch apparative Experimente zu gewinnen, sondern durch die
Anschauung sinnlich wahrnehmbarer Phänomene. Dieser Ansatz traf den Nerv
bildungsbürgerlicher Kreise, die sich die Welt als ganzheitlichen
«Organismus», nicht als mechanisches «Mosaik» (Chamberlain) wünschten.
Vornehme Niedertracht
Neben Goethes Morphologie war auch
Schopenhauers Persönlichkeitsverständnis einflussreich. Schopenhauer -
dessen Schüler Julius Bahnsen 1867 den Begriff «Charakterologie» prägte -
erklärte den Intellekt gegen Kant zum reinen «Zuschauer der
Willensaktivität». Der Charakter sei im Prinzip unveränderlich und
verborgen - wobei der Philosoph «das Genie» säuberlich von anderen
Menschentypen schied. Vom Gedanken der Verborgenheit ausgehend, dachte
auch Nietzsche in elitärem Duktus über die Verschiedenheit der Menschen
nach. Psychologisch positiv markiert wurden etwa «Genie» und
«Deutscher», während «Frau» und «Jude» schlecht wegkamen. Nietzsche
unterstellte, dass sich die «Lebensschwachen» im Lauf der
geschichtlichen Dekadenz Strategien der Verstellung und Verkleidung
angeeignet hätten, die es zu demaskieren gelte. Leo resümiert, dass
Nietzsche der Charakterfrage «einen grossen Verdacht» hinterliess.
Die Zahl derer, die nach 1900 am
grossen Weltanschauungszirkus beteiligt waren, ist Legion. Der
Dekadenzbegriff hatte Konjunktur, der Gestus der Demaskierung war ebenso
verbreitet wie das sozialmorphologische Denken und die Hierarchisierung
von Menschentypen. 1903 veröffentlichte Otto Weininger seine Schrift
«Geschlecht und Charakter», in der «das Jüdische» und «das Weibliche» zu
analogen Negativsymbolen der Welterklärung wurden. Wirkungsmächtig bei
der Verbreitung der Idee einer angeblichen Opposition der Rassen und
Kulturen waren Chamberlains «Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts»
(1899) und später dann Spenglers «Untergang des Abendlandes» (1918 und
1922). Zu den zahlreichen interessanten Diagnosen Leos gehört, dass sich
bei vielen Weltanschauungsdenkern, die sich nachdrücklich vom
«volkstümlichen» Judenhass absetzen wollten, ein «nüchterner» oder
«gebildeter» Antisemitismus feststellen lässt. Die ressentimentgeladene
Bestrebung, «das Wesen des Jüdischen als geistiges Problem» aufzufassen,
ist somit ein wichtiger Aspekt der deutschen Sonderwegsgeschichte.
Auch bei der Herausbildung des
rassistischen Weltbildes im Nationalsozialismus spielte die
Charakterologie eine zentrale Rolle. Da die Biologie die Existenz eines
«jüdischen Körpers» nach wissenschaftlichen Standards nicht nachweisen
konnte, stützten sich Rassentheoretiker wie der populäre Hans F. K.
Günther auf das Konstrukt eines «jüdisches Charakters», von dem bereits
Schopenhauer, Nietzsche, Weininger, Chamberlain und Spengler gesprochen
hatten. Es ist das Verdienst von Per Leos akribischer Studie, die eine
überwältigende Stofffülle souverän arrangiert, die Rolle der deutschen
Weltanschauungskultur auf dem Weg ins Dritte Reich nachdrücklich in
Erinnerung zu rufen.
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