Montag, 4. November 2013

Der Wille zum Wesen.

aus NZZ, 31. 10. 2013                                                                                                         Jürgen Nießen, pixelio.de      
                  

Charakterologie und Judenfeindschaft
Per Leos Studie über die geistesgeschichtlichen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland 


Judith Leister · Die Urszene zu seinem Buch beschreibt Per Leo folgendermassen: Als er 1995 den Nachlass seines Grossvaters, eines früheren SS-Sturmbannführers aus dem «Rasse- und Siedlungshauptamt», sortierte, fanden sich bald neben einem Stapel mit Werken von Goethe, Schopenhauer und Hölderlin ebenso viele Bücher von antisemitischen Theoretikern wie Lagarde, Chamberlain und Rosenberg. Ein Band jedoch, «Handschrift und Charakter» des Charakterologen Ludwig Klages, schien nicht recht zuordenbar zu sein. Das 1917 erschienene Werk des einst populären Lebensphilosophen und George-Jüngers zeugte für Leo einerseits von «ernstzunehmendem Erkenntnisinteresse» und «anschaulichem Denken, das an Goethe und Lavater denken liess». Andererseits wies es jedoch auch einen deutlichen «Gestus kriminologischer Entlarvung» im Stil der Rassenkunde auf.

«Weltanschauungskultur»

Diese - so die These - für die deutsche Geistesgeschichte charakteristische Besonderheit macht Leo zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung «Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft 1890-1940». Das Buch untersucht den bisher von der Forschung eher vernachlässigten Zusammenhang zwischen spezifisch deutscher Weltanschauungskultur und Nationalsozialismus. Als «politisch offenes», von einer fertigen Ideologie weit entferntes «Weltanschauungsfeld» wurde der Nationalsozialismus von Intellektuellen wie Gottfried Benn, Carl Schmitt oder eben Ludwig Klages verstanden - und damit als Einladung, «der Bewegung» ein geistiges Profil zu geben. Leos Denkgeschichte zeichnet anhand Dutzender Autoren, die meist ausserhalb des akademischen Betriebs standen, den Weg von der Herausbildung der Charakterologie im 19. Jahrhundert bis zum Rassismus des Dritten Reichs nach. Der Titel «Wille zum Wesen» verweist auf den Machtanspruch, der mit der Zuschreibung charakterologisch definierter Eigenschaften von vorneherein verbunden war.

Per Leo: Der Wille zum Wesen. 
Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft 1890-1940. 
Matthes & Seitz. Berlin 2013. 734 S., Fr. 66.90. 

Zunächst zeigt Leo auf, dass die um 1900 neue Erfahrung des Grossstadtlebens mit seinem Tempo und der Auflösung fester Identitäten in der deutschen Weltanschauungsliteratur vorwiegend unter negativen Vorzeichen diskutiert wurde. Im Rahmen eines «Gefährdungsdiskurses» entwarfen Autoren wie Ernst von Salomon, Werner Sombart und Oswald Spengler ein negatives Bild der Masse als «das absolut Formlose» (Spengler). Um den «fremden Anderen», der einem in der Grossstadt bedrückend nahekam, einschätzen zu können, suchte man Orientierungsstrategien: Eine systematische Charakterologie sollte es dem geschulten Betrachter ermöglichen, das Wesen eines Menschen zu erkennen. Dabei war es schon Ende des 19. Jahrhunderts üblich, so Leo, zwischen der «Oberfläche» und dem wahren «Wesen» zu unterscheiden.

Drei grosse Denker des 19. Jahrhunderts, die «Spuren» für die spätere Charakterologie legten, hebt Leo besonders hervor. Von Goethes Naturforschung, die das breite Publikum erst um 1900 erreichte, übernahm die Weltanschauungsliteratur die Methode. Nach Goethe sind Idee und Sinn einer Formation oder Epoche nicht durch apparative Experimente zu gewinnen, sondern durch die Anschauung sinnlich wahrnehmbarer Phänomene. Dieser Ansatz traf den Nerv bildungsbürgerlicher Kreise, die sich die Welt als ganzheitlichen «Organismus», nicht als mechanisches «Mosaik» (Chamberlain) wünschten.

Vornehme Niedertracht

Neben Goethes Morphologie war auch Schopenhauers Persönlichkeitsverständnis einflussreich. Schopenhauer - dessen Schüler Julius Bahnsen 1867 den Begriff «Charakterologie» prägte - erklärte den Intellekt gegen Kant zum reinen «Zuschauer der Willensaktivität». Der Charakter sei im Prinzip unveränderlich und verborgen - wobei der Philosoph «das Genie» säuberlich von anderen Menschentypen schied. Vom Gedanken der Verborgenheit ausgehend, dachte auch Nietzsche in elitärem Duktus über die Verschiedenheit der Menschen nach. Psychologisch positiv markiert wurden etwa «Genie» und «Deutscher», während «Frau» und «Jude» schlecht wegkamen. Nietzsche unterstellte, dass sich die «Lebensschwachen» im Lauf der geschichtlichen Dekadenz Strategien der Verstellung und Verkleidung angeeignet hätten, die es zu demaskieren gelte. Leo resümiert, dass Nietzsche der Charakterfrage «einen grossen Verdacht» hinterliess.

Die Zahl derer, die nach 1900 am grossen Weltanschauungszirkus beteiligt waren, ist Legion. Der Dekadenzbegriff hatte Konjunktur, der Gestus der Demaskierung war ebenso verbreitet wie das sozialmorphologische Denken und die Hierarchisierung von Menschentypen. 1903 veröffentlichte Otto Weininger seine Schrift «Geschlecht und Charakter», in der «das Jüdische» und «das Weibliche» zu analogen Negativsymbolen der Welterklärung wurden. Wirkungsmächtig bei der Verbreitung der Idee einer angeblichen Opposition der Rassen und Kulturen waren Chamberlains «Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts» (1899) und später dann Spenglers «Untergang des Abendlandes» (1918 und 1922). Zu den zahlreichen interessanten Diagnosen Leos gehört, dass sich bei vielen Weltanschauungsdenkern, die sich nachdrücklich vom «volkstümlichen» Judenhass absetzen wollten, ein «nüchterner» oder «gebildeter» Antisemitismus feststellen lässt. Die ressentimentgeladene Bestrebung, «das Wesen des Jüdischen als geistiges Problem» aufzufassen, ist somit ein wichtiger Aspekt der deutschen Sonderwegsgeschichte.

Auch bei der Herausbildung des rassistischen Weltbildes im Nationalsozialismus spielte die Charakterologie eine zentrale Rolle. Da die Biologie die Existenz eines «jüdischen Körpers» nach wissenschaftlichen Standards nicht nachweisen konnte, stützten sich Rassentheoretiker wie der populäre Hans F. K. Günther auf das Konstrukt eines «jüdisches Charakters», von dem bereits Schopenhauer, Nietzsche, Weininger, Chamberlain und Spengler gesprochen hatten. Es ist das Verdienst von Per Leos akribischer Studie, die eine überwältigende Stofffülle souverän arrangiert, die Rolle der deutschen Weltanschauungskultur auf dem Weg ins Dritte Reich nachdrücklich in Erinnerung zu rufen.

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