Der laute Nachhall des Attentats von Sarajevo
Auf dem Westbalkan blickt man mit gemischten Gefühlen auf den hundertsten Jahrestag der Ermordung Franz Ferdinands
von Thomas Fuster, Wien
Auf dem Westbalkan blickt man mit gemischten Gefühlen auf den hundertsten Jahrestag der Ermordung Franz Ferdinands
von Thomas Fuster, Wien
2014 jährt sich die Ermordung des
habsburgischen Thronfolgerpaars in Sarajevo zum hundertsten Mal. Serbien
blickt dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegen. Man fürchtet,
erneut auf die Anklagebank der Weltgeschichte gesetzt zu werden.
Man muss kein Prophet sein, um dem
Westbalkan für das kommende Jahr einige hitzige historische Debatten
vorauszusagen. Den Anlass dazu liefert der 28. Juni 2014. An diesem
Datum jährt sich zum hundertsten Mal die Ermordung des habsburgischen
Thronfolgers Franz Ferdinand und von dessen Gemahlin Sophie in Sarajevo.
In den meisten Geschichtsbüchern wird das Attentat als die Stunde null
des Ersten Weltkriegs behandelt. Sarajevo gilt demnach als Epizentrum,
von wo aus sich im Sommer 1914 in Windeseile jenes verheerende Beben
ausbreitete, das bald den ganzen europäischen Kontinent erfasste und
einen Krieg nach sich zog, der als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
in die Geschichte einging. Ausgelöst wurde all dies durch Gavrilo
Princip, einen 19-jährigen bosnischen Serben, der die zwei
folgenschweren Schüsse abgab.
Präsidiale Intervention
Gar so simpel ist die Sache aber nicht. Das verdeutlichen die auf dem Westbalkan schon ein halbes Jahr vor dem Jubiläum entfachten Streitereien rund um Princip und seine Tat. Vor allem auf serbischer Seite blickt man dem Jahrestag mit gemischten Gefühlen entgegen. Das ohnehin gekränkte Nationalgefühl des Landes droht in den kommenden Monaten eine weitere Verletzung zu erleiden. Nicht genug damit, dass Serbien in den Augen des als notorisch antiserbisch empfundenen Auslands als Hauptschuldiger für die Jugoslawienkriege der neunziger Jahre betrachtet wird. Dasselbe Etikett, so die Erwartung vieler Serben, wird man im Jubiläumsjahr 2014 auch mit Blick auf den Ersten Weltkrieg angeheftet erhalten, in zahllosen Reden, Artikeln, Konferenzen. Das negative Image wird gleichsam zum Selbstläufer für die Serben.
Mit welcher Brille daher die Öffentlichkeit in den kommenden Monaten auf die Anfänge des Ersten Weltkriegs zurückblicken wird, interessiert auf dem Balkan nicht nur Historiker. Auch die hohe Politik meldet sich zu Wort und propagiert die als richtig betrachtete Lesart. Unlängst tat dies Serbiens Präsident Tomislav Nikolic in einem Artikel für die Zeitung «Politika». Darin ärgert er sich über Versuche, die Ermordung des Thronfolgerpaars als einen Akt des Terrorismus darzustellen. Das sei ein weiterer Versuch, Serbien in ungerechtfertigter Weise zu einem Schuldigen zu machen, der wiederholt weltweites Unglück ausgelöst habe. Das Land dürfe solchen Geschichtsrevisionismus nicht stumm hinnehmen, mahnt Nikolic. Schliesslich seien die Opfer für den Befreiungskampf nicht vergebens gewesen; und schliesslich sei Versöhnung auf Kosten der Wahrheit nicht möglich.
Wie zahlreiche Serben wehrt sich Nikolic dagegen, in Princips Tat den zentralen Kriegsgrund zu sehen. Den Anstoss hätten vielmehr die Grossmachtpolitik der europäischen Kaiserhäuser und vorab die Annexion von Bosnien-Herzegowina durch die Habsburger im Jahr 1908 gegeben. Auch Serbiens Ministerpräsident Ivica Dacic, wie Nikolic einst ein Verfechter grossserbischer Phantasien, wertet den Versuch, Serbien als Verursacher des Ersten Weltkriegs zu präsentieren, als Verbiegung der Geschichte und als Resultat jahrzehntelanger Propaganda, die darauf abziele, Serbien als Störfaktor nicht nur für den Balkan, sondern für die ganze Welt darzustellen. Dass man diese Rolle leid ist, eint nicht nur Serbiens Politiker. Auch in der Bevölkerung scheint das Gefühl tief verwurzelt, vom Ausland ungerecht behandelt zu werden - in jüngerer Vergangenheit etwa vom Haager Kriegsverbrechertribunal oder von der EU.
Ein jugoslawischer Held
Entsprechend wohlwollend oder gar ehrenvoll beurteilt man in Serbien den Schützen von 1914. Laut einer im November von der Nachrichtenagentur Tanjug veröffentlichten Umfrage wird Princip von einer klaren Mehrheit der Serben nach wie vor als Held betrachtet; nur ein Viertel erkennt in ihm einen blossen Attentäter. Eine besonders positive Meinung zu Princip haben die über 44-Jährigen. Sie wurden noch zu jugoslawischen Zeiten sozialisiert. Damals veranstaltete man im ganzen Land einen wahren Heldenkult um den Freiheitskämpfer. Zahlreiche Strassen und Brücken trugen den Namen von Princip, und Generationen von Schülern pilgerten an jenen Ort, wo der Sohn eines armen Postbeamten die fremden Herrscher niederschoss. Princip wurde gleichsam als Partisan der ersten Stunde gefeiert, als einer, der mit seinem Tyrannenmord den Weg ebnete für die Zusammenführung der südslawischen Völker.
Tatsächlich waren die Befreiung vom habsburgischen Joch und der Zusammenschluss der südslawischen Provinzen zwei zentrale Ziele der Organisation Junges Bosnien, der Princip angehörte. Zu dieser revolutionären Vereinigung gehörten zwar nicht nur Serben, sondern auch Muslime oder Kroaten wie etwa der spätere Literaturnobelpreisträger Ivo Andric. Die Vereinigung stand jedoch unter dem starkem Einfluss der serbischen Geheimorganisation Schwarze Hand. Diese Organisation war es auch, die Princip für seine Tat ausbildete und mit Waffen versorgte. Dass der Attentäter für den Mord nicht die Todesstrafe erhielt, erklärt sich allein damit, dass er zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig war. Doch weder die Strafe (zwanzig Jahre Isolationshaft in Theresienstadt) noch den Ersten Weltkrieg überlebte Princip; er starb im April 1918 an Knochentuberkulose.
Die landesweite Verehrung für den Attentäter erfuhr mit dem Kollaps des sozialistischen Jugoslawien eine Zäsur. Mit der Zergliederung des Vielvölkerstaates zu Beginn der neunziger Jahre ging auch eine Zergliederung des Geschichtsbildes einher, vor allem im Zuge der dreijährigen Belagerung Sarajevos durch serbische Verbände. Bosnjakische (muslimische) und kroatische Historiker betonten nun in verstärktem Mass die Instrumentalisierung von Princip durch serbische Nationalisten, und auch in Belgrad wurde der Attentäter als Vorkämpfer für eine grossserbische Nation neu zu erfinden versucht. Die Vereinnahmung führte dazu, dass man sich im bosnjakisch dominierten Sarajevo rasch der Erinnerungen an Princip zu entledigen begann. Ein ihm zu Ehren errichtetes Denkmal wurde entfernt, und die nach ihm und seinen Mitkämpfern von Junges Bosnien benannten Strassen, Brücken und Museen erhielten neue Namen.
Der Bosnienkrieg als Zäsur
In Sarajevo sind die Spuren der früheren Heldenverehrung denn auch verwischt. In einem kleinen Museum neben dem Tatort wird das Geschehen von 1914 in sehr nüchternem Ton und ohne jeden Anflug von Heroismus dargestellt. Die Ermordung von Franz Ferdinand und seiner Frau wird in der bosnjakischen Öffentlichkeit weit kritischer beurteilt als in Serbien. Damit verbunden ist auch ein vergleichsweise mildes Urteil über die Habsburger Herrschaft zwischen 1878 und 1918. Diese Milde mag mit den opferreichen Jugoslawienkriegen der neunziger Jahren und der anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Misere in Bosnien-Herzegowina zusammenhängen. Tatsache ist, dass die Habsburgerzeit von vielen Bosnjaken nicht zuletzt als eine Zeit der Modernisierung und grosszügiger Investitionen in die Infrastruktur gewürdigt wird.
Doch auch in Bosnien ist man sich mit Blick auf 1914 alles andere als einig. Die ethnischen Trennlinien des fragilen Vielvölkerstaates treten auch bei der Erinnerung an das Attentat zutage. Wenige Gemeinsamkeiten gibt es vor allem zwischen dem serbischen Landesteil, der Republika Srpska, und der bosnjakisch-kroatischen Föderation. Der starke Mann der Republika Srpska, Präsident Milorad Dodik, hat seine Teilnahme an den Gedenkanlässen in Sarajevo bereits abgesagt. Das hat zum einen damit zu tun, dass er die Legitimität eines bosnischen Gesamtstaates mit Sarajevo als Hauptstadt ohnehin negiert und mit einer Reise nach Sarajevo nicht allfällige Zweifel an dieser Haltung erwecken möchte. Zum anderen zeigt er sich aber auch überzeugt, dass die Veranstaltungen sowieso auf eine reine Propaganda gegen Serbien hinauslaufen werden.
Dodik wehrt sich gegen Versuche, Princip vom Heldendenkmal zu stürzen. In seinem straff geführten Reich finden sich noch immer zuhauf Strassen, die nach dessen Namen benannt sind. In der offiziellen Geschichtsschreibung des serbischen Landesteils erscheint die Herrschaft der Habsburger nicht zuletzt als eine Periode brutaler Unterdrückung. Dodik begrüsst daher den Plan, das 1995 von kroatischen Truppen in Brand gesetzte Geburtshaus von Princip - es liegt im westbosnischen Ort Obljaj nahe der Grenze zu Kroatien - neu aufbauen zu lassen. Unterstützung erhält auch der serbische Regisseur Emir Kusturica, der am Jubiläumstag zu Ehren von Ivo Andric in Visegrad die Filmstadt Andricgrad - von Dodik zu einem serbischen Vorzeigeprojekt stilisiert - eröffnen will. Kusturica hat ferner einen Dokumentarfilm angekündigt, der beweisen soll, dass Princips Kugeln keineswegs verantwortlich waren für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Beide Seiten zitieren Kronzeugen, die ihre Lesart der Geschichte abstützen. Serbiens Präsident Nikolic untermauert seine Thesen zum Kriegsausbruch in seinem Gastbeitrag für «Politika» etwa mit dem deutschen Historiker Fritz Fischer (1908-1999). Das von Fischer 1961 publizierte Werk «Griff nach der Weltmacht» führt den Ausbruch des Ersten Weltkriegs primär auf die hegemonialen Ambitionen des deutschen Kaiserreichs zurück. So habe Deutschland die Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien unterstützt und - überzeugt von der eigenen militärischen Überlegenheit - bewusst einen Konflikt mit Russland und Frankreich in Kauf genommen. Das deckt sich mit Nikolics Überzeugung, wonach sich Deutschland und Österreich schon lange vor Princips Attentat auf einen Krieg gegen die Slawen vorbereitet hatten.
Zu viel Geschichte
Einen Gegenentwurf zu Fischers Ursachenforschung formuliert der australische Historiker Christopher Clark, der in Cambridge doziert. Sein Werk «Die Schlafwandler», das dieses Jahr in deutscher Übersetzung erschien, relativiert die Kriegsschuld Deutschlands. Zwar wehrt sich Clark angesichts der komplexen weltpolitischen Gemengelage bei Kriegsausbruch gegen simple Schuldzuweisungen. Er räumt den serbischen Hintermännern, die das Attentat auf Franz Ferdinand planten, aber vergleichsweise viel Gewicht ein; dasselbe gilt mit Blick auf die expansionistischen Pläne des Königreichs Serbiens, das eine Vereinigung aller Serben anstrebte. In serbischen Zeitungen schlug das Werk hohe Wellen. Es erhielt nicht selten das Prädikat «antiserbisch». Kritiker werten Clarks Thesen mitunter als Versuch, die Mitglieder der EU zu versöhnen und die Kriegsschuld Akteuren ausserhalb der Union anzulasten.
Weitere Bücher werden in den kommenden Monaten folgen und damit wohl auch weitere Kontroversen rund um die adäquate Einordnung der Ereignisse von 1914. Die Differenzen darüber, ob nun Princip in den Geschichtsbüchern passend als Volksheld oder als Terrorist zu bezeichnen ist und warum es zum beispiellosen Gemetzel des Ersten Weltkriegs kam, werden nicht aus dem Weg geräumt sein, wenn am 28. Juni die Wiener Philharmoniker in der neu restaurierten Nationalbibliothek von Sarajevo vor viel politischer Prominenz zum Gedenkkonzert aufspielen werden. Man wird sich bei dieser Zusammenkunft klugerweise Churchills berühmtes Diktum in Erinnerung rufen, wonach der Balkan seit je mehr Geschichte produziert, als er zu verbrauchen vermag - ein Ausspruch, der angesichts des anhaltend lauten Nachhalls von Princips zwei Gewehrschüssen wenig an Gültigkeit eingebüsst hat.