Mittwoch, 22. Januar 2014

Beste Grüße aus Davos.


Lars Paege  / pixelio.de
aus NZZ, 22. 1. 2014

Neugestaltung der Welt
Die nächste Phase der Globalisierung sollte weniger Risiken und Ungerechtigkeiten schaffen, dafür umso mehr Chancen. Die Neugestaltung der Welt verlangt kollektive Einsicht und gemeinsames Handeln. 

Von Klaus Schwab

Seattle, Prag, Genua, Melbourne: In diesen Städten kam es vor mehr als einem Jahrzehnt zu gewalttätigen Demonstrationen gegen ein diffuses Feindbild - die «Globalisierung». Die Proteste richteten sich gegen Treffen hochrangiger Vertreter internationaler Institutionen wie der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und nicht zuletzt auch gegen unsere eigenen Veranstaltungen des World Economic Forum. Im Rahmen dieser Treffen wurde die Gewalt der Demonstranten zwar einstimmig verurteilt, aber in Bezug auf deren Anliegen und die entsprechende Reaktion darauf war man geteilter Meinung.

Fehlende Koordination

Viele Teilnehmer dieser Treffen realisierten, dass die immer enger vernetzte Welt auf ihrem immer schnelleren Kurs ins 21. Jahrhundert gleichzeitig auch ungerechter und anfälliger wurde. Aber nur wenige waren sich darüber einig, was zu tun war. Es mangelte an der nötigen Koordination und Übereinstimmung, um mit der Komplexität dieser neuen Welt in geeigneter Weise umzugehen. Heute bezahlt die Welt den Preis für die Unentschlossenheit und die Uneinigkeit, die damals herrschten. Unsere Jahrestreffen in Davos waren in jüngster Zeit des Öfteren von einer einzigen Frage bestimmt, mit der sich die Weltgemeinschaft konfrontiert sah. Ob weltweite Finanzkrise, «arabischer Frühling» oder drohender Zusammenbruch des Euro - die Führungsverantwortlichen kamen zumeist mit einem Hauptanliegen nach Davos und waren gezwungen zu reagieren.

Heute stellt sich die Lage anders dar. Wir haben es mit einer Welt vieler möglicher Krisenherde zu tun, deren Anzahl wohl noch zunehmen wird. Man denke dabei nur an die Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten, das Auslaufen der Wertpapier-Notkäufe der amerikanischen Notenbank (Fed), die Spannungen im Südchinesischen Meer oder die weltweite Jugendarbeitslosigkeit, von der 75 Millionen Menschen betroffen sind.

Ich bin der Meinung, dass diese Lage auf ein kollektives Versagen im internationalen Umgang mit den Folgen der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen ist. Im Grunde genommen war die Botschaft der Globalisierungsgegner in der Zeit der Jahrhundertwende klar und richtig: Es besteht keine geeignete weltweite Governance, um mit den Konsequenzen der bereits in Gang gekommenen Neugestaltung der Welt umzugehen. Dem ist immer noch so, und die Herausforderungen der Welt von heute sind erst noch komplexer geworden.

Seit der Jahrhundertwende sind bereits Hunderte Millionen von Menschen dank der Globalisierung aus der Armut herausgekommen. Viele dieser Menschen sind in neue städtische Ballungsräume gezogen und zu Kunden der Weltwirtschaft geworden, die Infrastruktur und Ressourcen benötigen, was wiederum der Robustheit der Versorgungsketten und der Qualität des Krisenmanagements grössere Bedeutung verleiht.

Die Treibhausgasemissionen steigen weiterhin unvermindert an, und die Bemühungen der Weltgemeinschaft um eine koordinierte Reaktion auf diese komplexe Tragik der Allmende sind in sich zusammengebrochen. Auf den weltweiten Finanzmärkten lässt sich mehr als nur deutlich erkennen, wie katastrophal sich latente Risiken und unkoordinierte Gegenmassnahmen auf der ganzen Welt auswirken können. Gleichzeitig verändert die immer schnellere technologische Entwicklung unseren Alltag in jeder erdenklichen Hinsicht, von unserer Fähigkeit zur Bildung von Gemeinschaften bis hin zu den Quellen und der Zusammensetzung unserer Energieversorgung. Die Nutzung von Technologie durch Staat und Wirtschaft wirft die Grundsatzfrage auf, was unter Privatsphäre genau zu verstehen ist und welche Stellung eine Einzelperson in der modernen Gesellschaft einnimmt.

Alle diese Beispiele machen deutlich, dass die moderne, vernetzte Welt zwei Seiten hat, nämlich eine glänzende Vorderseite und eine komplexe und unberechenbare Kehrseite. Deswegen ist eine stärkere und bessere Koordination der weltweiten Bemühungen zur Milderung und Bewältigung der Folgen gefragt.

Die Führungspersönlichkeiten dieser Welt kommen dieses Mal in Davos zusammen, ohne sich mit einer unmittelbaren Krise auseinandersetzen zu müssen. Sie sollten deshalb den nötigen Freiraum haben, um sich auf langfristiges Denken konzentrieren zu können. Das Leitthema des Jahrestreffens «The Reshaping of the World: The Consequences for Society, Politics and Business» (zu Deutsch etwa «Neugestaltung der Welt und deren Bedeutung für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft») verweist darauf, dass die Anwesenden aufgefordert sind, von Grund auf neu einzuschätzen, wie sich die tektonischen Platten der Welt im Bezug zueinander verschieben, um dann aufgrund der Erkenntnisse die zu erwartenden Erdbeben besser voraussehen und wirksamer abfedern zu können.

Vernetztheit nutzen

Wenn wir mit unserem Einfallsreichtum und unserer Vernetztheit einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen leisten wollen, statt die schlimmsten Befürchtungen der Globalisierungsgegner zu bestätigen, so müssen sich die Führungsverantwortlichen aus dem endlosen Strom schnell aufeinanderfolgender Krisen losreissen können. Die Demonstrationen um die Jahrhundertwende erinnern uns daran, dass sich die in dieser Woche geführten Debatten nicht nur auf den Zustand der Welt im Jahr 2014 oder in den kommenden zehn Jahren, sondern auch auf unsere langfristige gemeinsame Zukunft auswirken werden.

Wir dürfen es nicht zulassen, dass die nächste Phase der Globalisierung genauso viele Risiken und Ungerechtigkeiten schafft wie Chancen. Die Neugestaltung der Welt verlangt kollektive Einsicht und gemeinsames Handeln.

Klaus Schwab ist Gründer und Executive Chairman des World Economic Forum (WEF)


Nota.

"Wir dürfen es nicht zulassen...": Das ist Beschwörung und frommer Wunsch. Aber der Beitrag hat den Vorzug, die Themen aufzuzählen und zueinander in ein Verhältnis zu setzen. Er versimpelt die Dinge, aber genau darin besteht der Auftrag von Politkern: Die Dinge so weit zu vereinfachen, dass klare Entscheidungen möglich werden. Nicht jede Vereinfachung ist gelungen; aber darüber kann man erst streiten, wenn welche vorliegen.
JE 

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