Mittwoch, 1. Januar 2014

Der Große Krieg.

aus NZZ, 31. 12. 2013

1914 - klirrend in den Abgrund
Gedanken zum Ersten Weltkrieg.  


Von Martin Meyer 

Der Satz des Heraklit, der Krieg sei der Vater aller Dinge, galt noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein als zwar unbequeme, aber doch auch realistische Wahrheit. Aus den Kabinettskriegen des Zeitalters der Aufklärung hatten sich unter der Regie Napoleons bereits Volkskriege mitsamt Partisanenkämpfen entwickelt. Der Neugründung des Deutschen Reichs waren drei heftige Kriege vorausgegangen. Auch an anderen Fronten und zwischen diversen Mächten stellten feindliche Begegnungen ein probates Mittel, die eigenen Interessen durchzudrücken. Ein wachsender Nationalismus schuf aggressives Selbstbewusstsein, das sich bald in den Ansprüchen kolonialer Ferngriffe äusserte. Daran vermochte auch der Wiener Kongress von 1814/1815 mit der Sicherung eines europäischen Gleichgewichts letztlich nichts zu ändern.

Kausalität und Zufall

Hinzu kamen massive Wirtschaftsinteressen, die nach globaler Erweiterung suchten. Und schliesslich lieferten Wissenschaft und Technik beschleunigt überraschende Instrumente sowohl für die Verteidigung wie für den Angriff. So veränderte sich mit der politischen auch die militärische Tektonik, und Clausewitz' vorsichtige Analyse, dass der Krieg nur die Ultima Ratio für die Politik sein sollte - eine Fortsetzung mit anderen Mitteln eben -, verwandelte sich zusehends in eine Philosophie der Machterweiterung bei immer stärkerer Konkurrenz unter den führenden Protagonisten. Für die Vorsorge, dass es insbesondere auf dem europäischen Kontinent nicht mehr zum Äussersten kommen sollte, wurden dagegen Bündnissysteme entworfen und ratifiziert. In den letzten Jahrzehnten des Dixneuvième durchzogen diese Verträge und Rückversicherungsstrategien die Landkarte auf immer komplexere Weise. Mitunter trugen sie selbst bei den leitenden Gremien zu Verwirrung bei, und überdies unterlagen sie einem raschen und unübersichtlichen Wandel.


Dies alles gilt es zu bedenken, wenn von den Voraussetzungen des Ersten Weltkriegs gesprochen werden muss. Der Grosse Krieg, wie er bald genannt wurde, wäre aus der Perspektive der Vernunft nicht nötig gewesen. Er entstand, wie viele später meinten, aus eher nichtigem Anlass. Aber erstens gehorcht die Geschichte keinem Plan und noch weniger einem Willen des Weltgeists, und zweitens entsprang der zündende Funken von Sarajevo einer vulkanischen Gemengelage, die den Beteiligten erst vollumfänglich bewusst wurde, als es längst zu spät war. Territoriale Begehrlichkeiten, ethnische Ein- und Ausschliessungen, der Ruf nach Autonomie zumal im Balkan, imperiale Sehnsüchte, viel aufgeheizter Chauvinismus, Verbrüderungen unter Partnern bei geschärfter Wahrnehmung möglicher und wirklicher Feinde, der Niedergang des Osmanischen Reichs, schliesslich Animositäten zwischen den häufig durch Verwandtschaftsbande liierten Herrscherhäusern, Konflikte oder bloss Ungereimtheiten zwischen den Monarchien und ihren parlamentarischen Regierungen - dies alles harrte der Klärung, ohne dass dafür letztlich die Mittel diplomatischer Verständigung erfolgreich aufgeboten werden konnten.

Viele Ursachen, wenig Logik

Auch der Geist oder spirit, der der Katastrophe vorspurte, war seinerseits vielerorts nicht dazu angetan, im europäischen Haus die Besonnenheit auszurufen. Der Pazifismus stand auf schwachen Füssen. Herausragende Vertreter der Intelligenz lehrten, dass Kampf und Krieg - immer im Reflex auf das Grosse der eigenen Nation - legitim, ja notwendig seien. Die im späteren 19. Jahrhundert mächtig kursierende Lebensphilosophie predigte den Vitalismus sowohl unter den Vorzeichen der Gattung wie als Energie nationaler Selbstbestimmung. Aus Darwins Entwicklungstheorie wurde das Recht des Stärkeren bequem abgeleitet. Für Deutschland und Frankreich gewann Nietzsche eine drängende und bedrängende Aktualität. Sogar Sigmund Freud, der der gehobenen Damenwelt und ihren Verklemmungen das unerfüllt Unbewusste aufdecken wollte, fühlte sich nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien «vielleicht zum ersten Mal seit dreissig Jahren als Österreicher». Seine «ganze Libido», so schrieb er in einem Anfall von Selbstanalyse, «gehört Österreich-Ungarn».


Die Faktoren, die diesen Krieg auslösten - den ersten Weltkrieg in der Geschichte unter Beteiligung von vierzig Staaten und fast siebzig Millionen Männern unter Waffen -, sind das eine. Das andere sind die Folgen. Nur wenige Beobachter und player - wie etwa der britische Aussenminister Sir Edward Grey, kein Freund der Deutschen - sahen sie anfangs genauer voraus. Am Ende war das Reich der Habsburger ebenso wie jenes der Osmanen zerfallen. Das Zarentum, das 1914 noch energisch aufspielte, war drei Jahre später liquidiert. Deutschland sah sich ruiniert und nach dem freilich masslosen Vertrag von Versailles in die Rolle des Hauptschuldigen geschoben. Auf dem Balkan formierte sich ein Staatenteppich mit instabiler Unterlage. Nur Frankreich und das britische Inselreich schienen mit dem Etikett von Siegern versehen - doch auch dieser Schein begann zu verdampfen. Lediglich die Amerikaner zogen aus dem fernen Geschehen einigen Profit.

Nicht nur die Deutschen

Eine «Urkatastrophe» also war geboren, wie es der Historiker Fritz Stern rechtens formuliert hat. Die Metapher kann andeuten, dass das unerhörte Ereignis - anders dann als der nachfolgende Zweite Weltkrieg - nicht kurzerhand mit der Bilanz von Tätern und Opfern zusammengebracht werden darf. Gewiss, es war viel Dummheit zuerst in den Köpfen, dann auf den Schlachtfeldern, zuletzt über dem europäischen Parkett. Doch wer um Gerechtigkeit bemüht ist, wird auch einsehen müssen, dass eigentümlich irritierende Sachzwänge dem Ganzen Vorschub leisteten.

Dazu zählen die bereits erwähnten Bündnissysteme. Dazu gehörten - nachdem die Kriegsmaschinen einmal ins Rollen gekommen waren - die Entscheidungen der Militärs. Nachdem Wilhelm II. in der Juli-Krise, die dem Attentat folgte, zunächst noch zur Vorsicht geraten hatte, erzwang die Solidarität mit Franz Joseph schnelle Entschlüsse: Es war der sogenannte Schlieffen-Plan, ein Blitzangriff auf Frankreich mit Sichelbewegung unter Verletzung der Neutralität Belgiens, der nun die riskante Belastung des Zweifrontenkriegs eindämmen sollte. Doch General von Kluck veränderte den Plan, worauf der Stellungskrieg über Jahre zu toben begann.

Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass die Hauptverursacher des Weltkriegs im Lager der Mittelmächte zu suchen seien. Schon vorher sassen den Franzosen die seit 1871 von den Deutschen usurpierten Gebiete von Elsass-Lothringen als Dorn im Fleisch des nationalen Stolzes. Doch präsentierten sie sich ihrerseits in Afrika als unbedenkliche Aggressoren, und dasselbe galt erst recht für die Briten: Das Empire duldete keinerlei Einmischung und hatte mit seiner Flotte ein wirkungsreiches Vehikel zur Verteidigung der Expansion gebildet. Die Russen förderten gegen Österreich-Ungarn die Idee des Panslawismus, waren aber zugleich begierig darauf, dem Sultanat die Kontrolle über die Meerengen vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer streitig zu machen, was wiederum den Argwohn Londons beflügelte. Hier gut, da böse? Solche Kategorien griffen zu kurz. Und dass das Deutsche Reich bereits vor der Jahrhundertwende seine Wirtschaftsleistung gegenüber den Hauptkonkurrenten enorm zu steigern wusste, trug seinerseits dazu bei, ihm wenn möglich den Garaus zu machen. Insofern schienen die Schüsse von Sarajevo wenn nicht willkommen, so doch verwertbar zu sein.

Diese Schüsse aber, die an einem hellen Sommertag mit Datum des 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie töteten, konnten schon zur Stunde des Fanals nicht einfach als Ausdruck irregeleiteter Fanatiker angesehen werden. Gavrilo Princip und seine Genossen, blutjunge Männer mit wilden Ideen, waren alles andere als Einzelgänger. Schon einige Zeit zuvor war es zu Anschlägen gegen Exponenten der Doppelmonarchie gekommen.

Der Faktor Serbien

All diese Aktionen liefen vor einem Hinterland, das sowohl organisatorisch wie ideologisch gegen das Kaiserreich mobilgemacht hatte. Führende serbische Politiker und Rädelsführer, die sich seit Jahrzehnten ein Grossserbien erträumt und dann teilweise auch erschlossen hatten, schufen den Nährboden. Ein Geheimnetz von Agenten und Brandstiftern aus radikaler Gesinnung formierte sich, bis hin zur Vereinigung jener «Schwarzen Hand», deren Adepten von höchsten Militärkreisen gefördert waren. Nikola Pasic, der langjährige Regierungschef und Meister vielfacher Vernebelungstaktik, zählte ebenfalls zu den Eingeweihten. In seinem vor kurzem auch auf Deutsch erschienenen Buch «Die Schlafwandler», das virtuos und detailgenau den Ursachen und Konstellationen des Ersten Weltkriegs bis zu Sarajevo nachforscht, zeichnet der Historiker Christopher Clark ein eindrückliches Bild auch Serbiens im Vorlauf auf den Grosskonflikt.

Es geht Clark nicht darum, die Verantwortung der Mittelmächte an dessen Ursachen und Weiterungen kleinzureden. Doch die Gärungen im Lande, die Missachtung jeglicher politisch-repräsentativen Rechtskultur, die grausame Liquidierung eines ähnlich grausamen Königs und seiner Frau vom Juni 1903, die nachfolgenden Expansionsgelüste serbischer Ultranationalisten - solche Vergegenwärtigung illustriert, dass es Belgrad intensiv darum zu tun war, der Donaumonarchie den Todesstoss zu versetzen. Die Parole lautete Sieg oder Untergang: Allein ein Sieg hätte die Institution eines grossserbischen Reichs ermöglicht.

Das berühmte Ultimatum Wiens war vermutlich nicht zu erfüllen. Es hätte, dies waren die heiklen Punkte, auch verlangt, dass österreichische Inquisitoren an der Aufdeckung des Mords von Sarajevo hätten beteiligt werden müssen. Damit aber wären jene Hintergründe ans Licht getreten, die die serbische Führung unter allen Umständen zu verbergen trachtete. - Der Rest ist bekannt. In einer dämonischen Spirale begannen zuerst die Hauptakteure auf dem Kontinent, dann immer mehr Verbündete auf beiden Seiten gegeneinander anzutreten. Waren Heerscharen von jungen Männern namentlich in Deutschland zu Beginn noch unter Hurra und im Siegestaumel losgezogen, so herrschte nur wenige Monate später die Depression eines Stellungskriegs unter unsäglichen Bedingungen.

Es war kein harmloser Katzenjammer, der 1918 einsetzte. Das alte Europa hatte sich in den Untergang gerissen. «Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.» Schillers Wort aus dem «Wallenstein» bewahrheitete sich einmal mehr. Es sollte alles noch viel schlimmer kommen. Ein österreichischer Meldeläufer an der Westfront, geboren in Braunau am Inn, schuf sich nun eine Plattform, auf der er die Urkatastrophe noch überbot. Davon wird niemals loszukommen sein.


Nota.

Der Erste Weltkrieg mag vermeidbar gewesen sein, aber Deutschlands Griff nach der Weltmacht war es nicht - es sei denn, England und Frankreich hätten ihm freiwillig den beanspruchten Platz eingeräumt, doch daran war nicht zu denken. Das 'kurze' zwanzigste Jarhundert scheint unterm Strich nur dazu gut gewesen zu sein, Deutschland als unverhohlene Führungsmacht an die Spitze eines schlecht und recht vereinten Europas zu setzen - und "alles andere" war offenbar nur Randerscheinung.
JE.

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