„Eine kurze Geschichte der Menschheit“ räumt mit einigen Vorurteilen auf
Yuval Noah Hararis erstaunliches Buch "Eine kurze Geschichte der Menschheit" räumt mit einigen Vorurteilen auf.
Wenn der 37-jährige Historiker Yuval Noah Harari demnächst auf der Leipziger Buchmesse erscheint, kommt mit ihm nicht nur ein smarter Oxford-Absolvent und Professor der Jerusalemer Hebrew University, sondern auch der Shootingstar unter den israelischen Historikern. Wenn sich eine Universalgeschichte wie seine "Eine kurze Geschichte der Menschheit" mehr als hundert Wochen auf Platz Eins der nationalen Sachbuch-Bestsellerliste hält, ist mehr als eine trockene Aneinanderreihung von Daten und Fakten zu erwarten. Die 526 leicht lesbaren Seiten sind eine hochrasante Tour d’Horizon durch die vergangenen 100 000 Jahre, ein kulturevolutionärer Blick auf die Menschheit aus der Vogelperspektive – oder aus der Perspektive eines Außerirdischen.
Worum es dem Autor geht, sind die Makrostrukturen, genauer gesagt: die drei großen "Revolutionen" in der Entwicklung unserer Spezies: "Die kognitive Revolution brachte vor 70 000 Jahren die Geschichte überhaupt erst in Gang, (...) die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigte sie (...) und die wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas ganz Neuem sein." Jeder dieser epochalen Wenden ist eine ausführliche Analyse gewidmet, und auch wenn keineswegs alles neu und spektakulär erscheint, räumt Harari doch mit populären Geschichtsirrtümern auf: etwa dem von der genealogischen Folge unserer Vorväter. Der weise Mensch – Homo sapiens – erscheint als mörderischster Vertreter unserer Gattung, denn aller Wahrscheinlichkeit nach kappte er gewaltsam sämtliche weiteren Äste der Menschheitsfamilie, darunter den berühmten Neandertaler.
- Der Sündenfall, oder: Arbeit ist der Sinn des Lebens.
- Der Niedergang der Arbeitsgesellschaft und die Kritik der Politischen Ökonomie.
Der zweite Geschichtsirrtum: Die neolithische Revolution, der Übergang von der Lebensweise nomadisierender Wildbeuter zur agraischen Sesshaftigkeit, sei ein Erfolgsmodell gewesen. Bei Harari liest sich das so: "In Wirklichkeit waren es diese Pflanzen, die den Homo Sapiens domestizierten, nicht umgekehrt. Weizen kann sich nicht vor anderen Organismen wie Kaninchen und Heuschrecken schützen, die ihn gern fressen, weshalb die Bauern ihn schützen mussten. Weizen ist durstig, also schleppten die armen Sapiens Wasser aus Quellen und Flüssen herbei, um ihn zu bewässern. Und der Weizen ist hungrig, weshalb die Menschen Tierkot sammelten, um den Boden zu düngen, auf dem er wuchs." In letzter Konsequenz sei die Menschheit versklavt worden von der Ackerpflanze, auf Monokulturen beschränkt, an die Scholle gekettet, Missernten und Epidemien schutzlos ausgeliefert, bis hin zur extremen Ungleichverteilung der landwirtschaftlichen Ressourcen. Die Lebensmittelvorräte allerdings "wurden der Treibstoff der Geschichte und der Zivilisation".
Herrschereliten bildeten sich, und da die Sprache (laut Harari entstanden aus Klatsch und Tratsch) zur Bindung von mehr als 150 Personen nicht mehr reichte, hielten nun Mythen und (religiöse) Erzählungen als Bindemittel her. Hararis Kapitel über die Religion – mit einem entschiedenen Votum für den Polytheismus – ist eines der brillantesten des Buches. Ein weiteres effektives Bindemittel größerer Gruppen und komplexer Gesellschaften war die Schrift – auch sie herrlich zwiespältig: "Freie Assoziation und ganzheitliches Denken mussten Bürokratie und Kästchendenken weichen".
Auch wenn es ein Telos der Geschichte bei Harari selbstredend nicht gibt, ein Zug zur Vereinheitlichung ist unübersehbar: politisch als Drang zum Großstaat, rechtlich als Akzeptanz der Menschenrechte und kulturell zum Imperium von Coca Cola. Entscheidender Motor der Geschichte sei aber die Rückkopplung zwischen der modernen Wissenschaft und den Zielgebern Politik, Wirtschaft und Religion. Die Europäer gewannen die Welt durch Neugier, Entdeckungs- und Eroberungsdrang, vor allem aber durch die einmalige Ménage à trois von Kapital, Politik und Wissenschaft.
Das alles mag nicht neu sein, aber so provokant und pointiert formuliert wie selten mündet es in die Frage nach dem Selbstentwurf: "Welchen Menschen wollen wir?" Sind wir überhaupt zur Utopie noch imstande oder längst nur noch willfährige Opfer des Kapitalismus? Das Energieproblem dürfte nach Harari noch das geringste sein, der Machbarkeitswahn und der unstillbare Konsumismus verwandeln unseren "einstmals blauen und grünen Planeten" hingegen schon heute "in eine Mischung aus Einkaufszentrum und städtischer Müllkippe".
Der Mensch von morgen, prognostiziert Harari, dürfte mit der aktuellen Gestalt kaum mehr Ähnlichkeit haben und seinen omnipotenten Götterträumen bedrohlich nahe kommen: Die Zukunft gehört den Cyborgs. Was soll’s: Der Mensch ist für diesen Autor alles andere als die Krone der Schöpfung. Die bisweilen sarkastische Kühle, mit der Harari seinen fernen Blick über die Weltläufte schweifen lässt, macht bei aller Brillanz bisweilen frösteln – trotz seiner Sympathie für die leidende Tierwelt. Zwischen Religion und Ideologie macht er nicht den geringsten Unterschied. Begriffe wie "humanistische Ideologie" für den Nationalsozialismus (der neue Mensch im Zentrum) befremden hochgradig. Trotzdem ist dieses Buch in hohem Maß inspirierend.
Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlagsanstalt, München 2013. 526 Seiten, 24,50 Euro.