Donnerstag, 27. Februar 2014

Macht ohne Verantwortung.

aus NZZ, 27. 2. 2014                                                                                                           Jerzy Sawluk  / pixelio.de

Die Magie der direkten Demokratie
Das Volk als Staatsorgan kann für seine Entscheidungen nicht in die Verantwortung genommen werden.  
Von Andreas Auer


Dass Regierungen gelegentlich das Volk an der Nase herumführen, gehört weltweit leider zum Allgemeinbestand an politischen Gepflogenheiten, die oft in den zynischen Befund münden, dass «die da oben immer machen, was sie wollen». Dass aber das Volk seine eigene Regierung an der Nase herumführen kann und dafür noch Lob erntet, ist eine Errungenschaft der schweizerischen Direktdemokratie. Man höre und staune: Nach dem Nein des Souveräns zum EWR im Dezember 1992 gelang es dem Bundesrat sieben Jahre später, nach langen und komplexen Verhandlungen mit der EU und den Mitgliedstaaten, die bilateralen Abkommen zu unterzeichnen, die vom Volk in mehreren Schüben genehmigt worden sind. Herzstück des ersten Pakets ist das Abkommen über die Personenfreizügigkeit von 1999. Der Bundesrat hat im Abstimmungskampf über die Masseneinwanderungsinitiative beherzt auf die nach seiner Ansicht negativen politischen und wirtschaftlichen Folgen einer Infragestellung der Personenfreizügigkeit mit der EU hingewiesen.

Nun hat eine denkbar knappe Mehrheit der an der Abstimmung vom 9. Februar 2014 teilnehmenden Stimmbürger Ja gesagt zu dieser Volksinitiative und damit das staatsvertraglich gewährleistete Grundrecht der Personenfreizügigkeit durch den Grundsatz der Kontingentierung der Zahl der Bewilligungen für Ausländer ersetzt. Diesen Grundsatz hat nun derselbe Bundesrat nach innen mit einem Gesetzesentwurf und nach aussen mit Erklärungen und wenn möglich Verhandlungen umzusetzen. Eine demokratisch verfügte Kehrtwende also, in zwei Bereichen, die zu den Grundkompetenzen der Exekutive gehören: Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens und Führung der Aussenpolitik. Die Behörden müssen den Volksentscheid, den sie im Abstimmungskampf zu verhindern versuchten, nun gegen jegliche Kritik verteidigen. Regierung und Parlament sind in der direkten Demokratie dem Volk direkt verpflichtet.

Auch die Stimmbürger sind von diesem eigenartigen «chilling effect» der Volksabstimmung betroffen. Vor dem Urnengang durften sie das Anliegen der Initianten kritisieren, nach der Abstimmung aber verhallt jegliche inhaltliche Kritik am Resultat ins Leere. Kritik an einer Idee oder Vorlage setzt nämlich voraus, dass jemand dafür verantwortlich ist. Das Volk als Staatsorgan zeichnet sich nun aber vor allem darin aus, dass es für seine Entscheide nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Denn wer sind sie denn, diese 1 463 954 Stimmbürger, die mit einem Vorsprung von knapp 20 000 Stimmen das Resultat herbeigeführt haben? Niemand weiss es, und niemand darf es wissen. Und selbst wenn man es wüsste, könnten die Ja-Sager weder kollektiv noch individuell zur Rechenschaft gezogen werden.

Das Volk ist eine mathematische Konstruktion, eine der direkten Demokratie innewohnende Fiktion, denn die Summe jener Aktivbürger, die am Stichtag eine Mehrheit bilden, ist keine organische Gesamtheit und kann weder denken noch diskutieren, noch handeln. Die Rolle des Volkes im politischen Entscheidungsprozess ist gewaltig, denn ihm stehen die grundlegendsten Entscheide zu, nach denen sich Behörden und Bürger zu richten haben. Gleichzeitig aber beschränkt sie sich auf ein passives Ja oder Nein zu einer Vorlage, die immer ein anderes Organ - das Parlament oder die Initianten - ausgearbeitet hat. Von allen Staatsorganen ist das Volk das mächtigste, aber auch das abhängigste, denn für sich allein ist es hilf- und machtlos. Weil es zwar sehr konkrete und wichtige Entscheide trifft, aber nicht fassbar, nicht sichtbar, nicht greifbar ist, und sich auch nicht äussern kann, schwingen sich Politiker unverfroren zu seinem Sprachrohr auf.

Das Unvermögen des Volkes, für seine Entscheide Verantwortung zu übernehmen, obwohl Behörden und Bürger zur Erklärung des Abstimmungsresultats nur auf das Volk verweisen können, ist eigenartigerweise die Quelle seiner von keinem anderen Staatsorgan erreichten Legitimität. Direktdemokratische Entscheide werden allgemein als legitim erkannt und anerkannt, gerade weil sie nicht das Resultat einer politischen Mehrheit sind, die bis zu den nächsten Wahlen die Oberhand hat. Volksentscheide können nur akklamiert oder hingenommen werden; Kritik daran prallt ab an dem sie umhüllenden Mantel der Legitimität.

Dieser Legitimität ist es zu verdanken, dass in der Schweiz selbst die entschiedensten Befürworter der Personenfreizügigkeit nicht einmal daran denken, wegen des für sie so negativen Abstimmungsresultats vom 9. Februar 2014 die direkte Demokratie grundsätzlich infrage zu stellen. Nicht so aber jenseits der Grenze, wo diese Form der Demokratie auf nationaler Ebene nicht existiert oder nicht so weit ausgebaut ist. Rechtspopulisten von nah und fern, die sich an Ausländerfeindlichkeit erlaben, begeistern sich plötzlich unverhohlen für Referenden und Volksinitiativen und erhoffen sich davon politische Gewinne auf ihrem bevorzugten Schlachtfeld. Liberale Kreise und Wirtschaftsvertreter hingegen, die dem Volk instinktiv ein gewisses Misstrauen entgegenbringen, finden im Schweizer Nein zur Personenfreizügigkeit ein willkommenes Argument, um sich einer «blauäugigen» Übernahme direktdemokratischer Institutionen mit Nachdruck zu widersetzen.

Die Häufigkeit von Volksabstimmungen in der Schweiz und die unvergleichbare Vielfalt ihrer Gegenstände bringen es mit sich, dass diejenigen Stimmbürger, die mit einer gewissen Regelmässigkeit daran teilnehmen - das sind nach neuesten Erhebungen mehr als 70 Prozent der Bürger -, gewohnt sind, sich einmal in der Lage der Verlierer und ein anderes Mal in der Rolle der Sieger zu finden. Sie unterliegen daher nicht der Versuchung, die direkte Demokratie aufgrund einzelner Resultate pauschal in den Himmel zu heben oder zu verdammen. Ihr Reiz, ihr Wert, ihre Einzigartigkeit liegen keineswegs in der besseren Qualität der getroffenen Entscheide, sondern ergeben sich aus der stets nur relativen Voraussehbarkeit des Resultats der Volksabstimmungen. Aufgrund der Unsicherheiten müssen sich Mehrheiten und Minderheiten verständigen, und darin liegt der Ursprung der vielbeschworenen Konsensdemokratie.

Letztlich ist die Frage, wem die Schweiz und ihre Vertragspartner den denkwürdigen Entscheid vom 9. Februar 2014 zu verdanken haben bzw. wer dafür einzustehen hat, ebenso müssig wie die fast schon verzweifelte Ergründung der Motive, die den Ausschlag gegeben haben mögen. Aus der umstrittenen SVP-Initiative ist eine unanfechtbare Verfassungsbestimmung geworden, die nun von den zuständigen Behörden - und nicht von den Initianten - ausgelegt und umgesetzt werden muss. Nach der gelassenen Überraschung der Sieger und dem betretenen Schweigen der Verlierer werden im nun anlaufenden Ringen um die konkrete Umsetzung der Verfassungsbestimmung umso harschere Töne angeschlagen. Vielleicht muss der Verfassungsgeber noch einmal über die Bücher, was politisch viel Staub aufwirbeln würde, rechtlich aber durchaus im Bereich des Möglichen liegt.
Denn die Magie der direkten Demokratie überlässt den Entscheid über die Gültigkeit eines Volksentscheids dem Volk selbst.

Andreas Auer ist em. Professor für Öffentliches Recht an der Universität Zürich und Konsulent Umbricht Rechtsanwälte.


Nota.

Die Verantwortlichtkeit der gewählten Verfassungsorgane beschränkt sich freilich darauf, beim nächsten Mal eventuell nicht wiedergewählt zu werde. Die Stimmbürger jedoch müssen alles, was das Volk entscheidet, selber ausbaden. Nicht jeder im selben Maße, und wer dagegen gestimmt hat, eventuell mehr als wer dafür war, wer kann das wissen? Aber so ist es mit der Volkssouveränität immer. Wer heute kreuzige! schreit, hat gestern vielleicht Hosianna gerufen, und war jedesmal bei der Mehrheit.
JE  

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