Mittwoch, 12. Februar 2014

Asien und das britische Weltreich.

aus NZZ, 12. 2. 2014                                                                                                           clio-Foto JM Kiener

Weltgeschichte mit asiatischem Fokus
Pankaj Mishra und John Darwin eröffnen neue Perspektiven auf das 20. Jahrhundert

von Michael Kempe · Geschichte zu betrachten, bedeutet, Zäsuren zu setzen. Für das 20. Jahrhundert beispielsweise sind wir es gewohnt, in den Zäsuren von 1914 und 1989 zu denken. Das eine Datum markiert den Beginn eines Weltkrieges, das andere das Ende des Kalten Krieges. Zwei neue Bücher, die jetzt in deutscher Übersetzung vorliegen, relativieren diese Zäsuren aus globalhistorischer Perspektive und setzen andere. Pankaj Mishra, indischer Essayist, Sachbuchautor und Erzähler, lässt «Aus den Ruinen des Empires» mit dem Jahr 1905 beginnen, weil in jenem Jahr mit der Niederlage Russlands gegen Japan in der Seeschlacht von Tsushima der Wiederaufstieg Asiens begonnen habe. Der britische Historiker John Darwin lässt seine Geschichtserzählung von «Aufstieg und Niedergang des britischen Empire» mit dem Jahr 1997 enden, weil in diesem Jahr mit der Unabhängigkeit Hongkongs das Ende des einstigen Imperiums besiegelt worden sei. Was beide Monografien gemeinsam haben, ist ein neuer Blick auf das vergangene Jahrhundert - ein Blick jenseits der üblichen eurozentrischen Koordinaten. 

Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 432 S., Fr. 39.90.


John Darwin: Das unvollendete Weltreich. Aufstieg und Niedergang des Britischen Empire 1600-1997
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Michael Bayer. Campus, Frankfurt am Main 2013. 482 S., Fr. 59.90.

Nicht der Anfang des Ersten Weltkrieges oder der Fall des Eisernen Vorhangs scheinen so für den Fortgang der Geschichte und den Weg in die Zukunft entscheidend, sondern die Emanzipation Asiens von der Vorherrschaft der Europäer.


Antiimperialistische Opposition


In den europäischen Geschichtsbüchern galt die Vernichtung der Flotte des Zarenreiches in den Gewässern der Koreastrasse im Mai 1905 bisher vornehmlich als Auftakt zur russischen Revolution von 1917. Pankaj Mishra hingegen verdeutlicht, dass der japanische Sieg in den Augen vieler zeitgenössischer aussereuropäischer Intellektueller vor allem als asiatischer Triumph über die bis dahin unbesiegbar scheinenden Mächte Europas und des Westens gefeiert wurde. Das erwachende Selbstbewusstsein asiatischer Vordenker zeichnet der Autor anhand der Lebensgeschichte zweier - im Westen eher unbekannter - intellektueller Aktivisten nach: Jamal al-Din al-Afghani (1838-1897) reiste durch Europa und Asien und propagierte die islamische Wiedererweckung, Liang Qichao (1873 bis 1929) engagierte sich für die Vereinigung asiatischer Völker und kämpfte für ein wiedererstarkendes chinesisches Nationalbewusstsein. Al-Afghanis Einfluss prägte nachhaltig die panislamischen Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts bis hin zu Usama bin Ladin oder der Muslimbruderschaft in Ägypten. Qichaos Wirken inspirierte Mao Zedong bei dessen Ausbau des kommunistischen China zur neuen Weltmacht. Anschaulich stellt Mishra dar, dass die Biografien dieser beiden schillernden, umtriebigen Intellektuellen das widersprüchliche Pendeln des antieuropäischen Widerstandes zwischen radikaler Abkehr von der westlichen Moderne und deren partieller Übernahme, zwischen Rückbesinnung auf religiöse Traditionen und der Propagierung revolutionärer Säkularisation widerspiegeln.


Steht bei Pankaj Mishra die antiimperialistische Opposition im Vordergrund, so geht John Darwin der Frage nach, was ein solches Imperium wie das britische so lange zusammenhalten konnte. Trefflich kann der in Oxford lehrende Historiker herausarbeiten, dass das Empire des englischen Königshauses kein monolithisches Gebilde darstellte, das von einer einheitlichen Ideologie oder Vision getragen wurde. Vielmehr konvergierten in der Empire-Idee die unterschiedlichsten Interessen und Utopien, fanden Abenteurer, Siedler, Missionare und Händler einen kleinsten gemeinsamen politischen Nenner. 

Fast vierhundert Jahre hielt das Imperium, nicht weil es straff und zentral regiert wurde, sondern - im Gegenteil - weil es ein loses, dezentrales Netzwerk aus politischen Kooperationen mit jeweiligen lokalen Eliten war, weil es sich ständig neu erfand und permanent improvisierte. Die Herrschaft der Briten blieb unvollkommen, aber gerade diese Unvollkommenheit bildete die Stärke ihres Weltreiches.


Zwiespältige Moderne


Deutlich zeigen die beiden Bücher, dass aus den Ruinen westlicher Imperien eine zwiespältige Moderne erstanden ist. Etwa ein Viertel der heutigen souveränen und wirtschaftlich selbständigen Staaten ist allein aus dem British Empire hervorgegangen. Doch das Streben nach endlosem Wirtschaftswachstum und die dahinterstehende Hoffnung, «dass Milliarden von Konsumenten in Indien und China eines Tages denselben Lebensstandard haben werden wie Europäer und Amerikaner», hält Pankaj Mishra für eine «ebenso absurde und gefährliche Phantasie wie die Träume von al-Kaida». Globale Umweltzerstörung sieht er als möglichen Preis der asiatischen Aufholjagd. Zugleich ist dies auch der Preis für ein Geschichtsverständnis, das Weltgeschichte vorrangig als grosses Ringen imperialer Kräfte deutet. - Wer den Verlauf der Weltgeschichte in solchem Licht interpretiert, muss zu dem Ergebnis kommen, dass sich jeder Sieg über ein Imperium fast zwangsläufig in einen Pyrrhussieg verwandeln wird.

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