Mittwoch, 30. April 2014

Max Weber als Diagnostiker der Moderne.

aus nzz.ch, Freitag, 18. April 2014, 05:30                                                                Schabolowka-Funkturm, Moskau

Entzauberung und Berechenbarkeit Eine der häufig zitierten Wendungen aus dem an zitierfähigen Formulierungen reichen Werk Max Webers ist die von der «Entzauberung der Welt». – Was besagt sie eigentlich des Näheren? 

von Andreas Anter 

Max Weber sagte über sich selbst, er sei «religiös unmusikalisch». Diese Formulierung hat man oft missverstanden. Weber war keineswegs ein Atheist. Pietistisch erzogen, blieb er von der christlichen Religion zeitlebens fasziniert. Diese Faszination erstreckte sich auch auf andere Weltreligionen. Die drei Bände seiner Religionssoziologie zeigen, wie intensiv er sich mit der tiefgreifenden Wirkung der Religion auf die Menschen und die Entwicklung verschiedenster Gesellschaften beschäftigte. Zu seinen wichtigsten religionsgeschichtlichen Diagnosen gehört die «Entzauberung der Welt». Sie gehört überdies zu den populär gewordenen Weber-Formeln, die sich verselbständigt haben.

Im Schwange

Der Begriff «Entzauberung» war keine Erfindung Max Webers, sondern eine zu seiner Zeit bereits geläufige Metapher. Weber griff sie auf und verwendete sie in seinen Studien ab 1911 zur Beschreibung religionsgeschichtlicher Entwicklungen. Anders, als man zunächst meinen könnte, ist der Vorgang der Entzauberung per se keineswegs eine religionsfeindliche Entwicklung. Entzauberung ist für Weber vielmehr ein innerreligiöser Vorgang, der sich allein gegen eine bestimmte Form der religiösen Praxis wendet: die Magie, die Weber als Versuch der «Beeinflussung übersinnlicher Mächte» versteht. Er zeigt detailliert, wie die Magie immer weiter zurückgedrängt wurde. Diese Entwicklung setzte nicht erst in der Moderne ein, sondern begann schon im antiken Judentum, bevor sie sich in der jüdisch-christlichen Tradition entfaltete, sich mit dem hellenistischen Denken verband, um im reformierten Protestantismus schliesslich ihren Höhepunkt und Abschluss zu erreichen.

Die reformierten Protestanten, vor allem Puritaner und Calvinisten, waren die Vollender dieser Entwicklung. Sie bekämpften radikal alle magischen Formen als Aberglauben. Weber bemerkt: «Der echte Puritaner verwarf ja sogar jede Spur von religiösen Zeremonien am Grabe und begrub die ihm Nächststehenden sang- und klanglos, um nur ja keinerlei ‹superstition› . . . aufkommen zu lassen.» Es waren erst die reformierten Protestanten, die nach Webers Befund die Welt radikal «entzauberten» und die Magie vollständig zu eliminieren versuchten. Die Entzauberung war für ihn nicht notwendig mit einer Schwächung der Religion verbunden, im Gegenteil, die religiöse Kraft habe sogar eine neue Qualität auf dem Wege einer strikten Ausrichtung des menschlichen Handelns an Gottes Wort erlangt. Noch heute lässt die reformierte Kirche nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit erkennen, dass eine antimagische Haltung nicht im Widerspruch zu einer strengen Religiosität stehen muss.

In ökonomischer Hinsicht war die alltägliche Lebenspraxis der reformierten Protestanten nicht zuletzt von universalgeschichtlicher Bedeutung. In seiner berühmten Studie «Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» von 1904/05 zeigte Weber, wie die methodisch-rationale Lebensführung und die protestantische Berufsethik mit der ökonomischen Entwicklung korrespondierten. Er diagnostizierte eine «innere Verwandtschaft» zwischen jener Lebensführung, dem rastlosen Streben nach einer «rein auf Gewinn gerichteten Tätigkeit», und dem Geist des Kapitalismus.

Die einmal eingelebten Handlungs- und Einstellungsmuster wirkten nach Webers Befund auch in ihren säkularen Formen weiter. Durch die «Entzauberung» wurde nicht nur die religiöse und wirtschaftliche Entwicklung geprägt, sondern auch die Wissenschaftsentwicklung. Weber demonstrierte in seinem Vortrag «Wissenschaft als Beruf», den er 1917 vor Münchner Studenten hielt, wie die okzidentale Wissenschaft zu einem rationalisierten Betrieb wurde und die zunehmende Entzauberung zu dem Glauben führte, dass es «prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe», dass «man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.» Dieser Glaube an die Berechenbarkeit der Welt gehört heute mehr denn je zu den Grundlagen des Wissenschaftssystems.

Gegenbewegungen

Heute gilt Weber vielen als eine Art Entzauberungspapst. Dabei stand er dem Prozess der Rationalisierung und Entzauberung, wenngleich er ihn für unabwendbar hielt, eher skeptisch gegenüber. Der Ausdruck «Fortschritt» steht bei ihm meist in Anführungszeichen. Für Weber stellte sich insbesondere die Frage, um welchen Preis jener Prozess erkauft wird und welche Auswirkungen er auf menschliches Handeln und gesellschaftliche Institutionen hat. Seine Bilanz fiel eher gemischt aus. Der Soziologe erhoffte sich jedenfalls keine Freiheitsgewinne, sondern befürchtete vielmehr eine zunehmende Reglementierung und Bevormundung: die Entstehung eines neuen «Gehäuses der Hörigkeit».

In den Geistes- und Sozialwissenschaften ist der Begriff der Entzauberung weltweit rezipiert worden. Dieser Erfolg beruht zweifellos auch auf der Evidenz einer ebenso prägnanten wie vielseitig adaptierbaren Metaphorik. Man kann sie in der Tat auf die Phänomene der verschiedensten Kulturen anwenden. Heute wird der Begriff der Entzauberung meist als Synonym für den Prozess der Säkularisierung gebraucht, obwohl er diesen weit überschreitet. Kritisch wurde gegen Webers Diagnose eingewandt, dass der Protestantismus gar nicht gegen eine magische Praxis immun gewesen sei, wie die Hexenprozesse gezeigt hätten. Womöglich wird man seine Diagnose also punktuell korrigieren müssen. Allerdings war es Weber selbst, der historische Gegenbewegungen zum Entzauberungsprozess aufgezeigt hat. Dieser provoziere zwangsläufig Gegenreaktionen. Nicht von ungefähr beziehen sich Darstellungen neuerer religionsgeschichtlicher Entwicklungen wie die der «Rückkehr der Religionen» oder die der «Wiederkehr der Götter» auf keinen Geringeren als Max Weber.

Prof. Dr. Andreas Anter lehrt politische Wissenschaft an der Universität Erfurt. 2012 ist sein Buch «Theorien der Macht» erschienen.

Dienstag, 29. April 2014

Max Webers «Wirtschaft und Gesellschaft» neu ediert.

Spuren eines akribischen Geistes – Autorkorrekturen in der Druckfahne vom April 1920.
aus nzz.ch, 18. April 2014, 05:30

Das unvollendete Hauptwerk 
Es gilt als Max Webers Hauptwerk und ist jedenfalls einer der gewichtigsten Klassiker der Soziologie: «Wirtschaft und Gesellschaft». Die aufwendige Neuedition des kompilierten und postum erschienenen Buches liegt nun komplett vor.



Als 1786 nach jahrelanger Arbeit endlich der «Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuchs für die Preussischen Staaten» dem Alten Fritz vorgelegt wurde, lautete dessen lapidarer Kommentar: «Es ist aber sehr dicke.» Das darf mit Fug und Recht auch von der Neuausgabe der ersten vier Kapitel von Max Webers Beitrag zum «Grundriss der Sozialökonomik» gesagt werden, die seit 1922 den ersten Teil von «Wirtschaft und Gesellschaft» bildeten.

Was in den fünf Auflagen, die dieses Werk bis 1972 erlebt hat, 180 Seiten füllte, ist nun, dank dem leserfreundlicheren Druck sowie den Erläuterungen, Querverweisen und bibliografischen Angaben der Herausgeber, auf rund 450 Seiten angeschwollen. Dazu kommen 120 Seiten Korrekturfahnen der ersten Lieferung, die besonders zum zweiten Kapitel zahlreiche (allerdings nur mühselig zu erschliessende) Textvarianten bieten, sowie der für die Gesamtausgabe übliche aufwendige Apparat, so dass ein stattlicher Band von über 800 Seiten entstanden ist. Über den neuen Titelzusatz «Soziologie» wird mancher staunen, doch können sich die Herausgeber auf eine noch zu Webers Lebzeiten erschienene Verlagsankündigung berufen, die ebendiese Formulierung enthielt.

Ein neuer Text

Rechtzeitig zum hundertfünfzigsten Geburtstag seines Autors ist damit nach nunmehr fünfzehn Jahren die Neuedition von Webers Opus magnum abgeschlossen. Was von mehreren Generationen von Wissenschaftern und Studenten noch als einheitliches Werk rezipiert wurde, ist nun in sechs Bände aufgelöst, von denen die ersten fünf den vor 1914 entstandenen Nachlass Webers enthalten, während der soeben erschienene Band die einzigen in dem Sinne authentischen Texte versammelt, dass Weber selbst sie noch in den Druck gegeben und korrigiert hat. Im Unterschied zu allen früheren Ausgaben wird damit der Tatsache Rechnung getragen, dass Weber nach 1918 mit seinem Beitrag noch einmal ganz neu ansetzte, um seine Gedanken in wesentlich verknappter und lehrbuchartiger Form zu präsentieren: in Paragrafen gegliedert wie ein Gesetzbuch, mit hoch verdichteten Definitionen und kleingedruckten Erläuterungen, über deren Prägnanz nur staunen kann, wer einmal Ähnliches versucht hat.

Von einer Nachkriegs- oder Neufassung zu reden, ist freilich nur bedingt zutreffend. Zum einen lässt sich nicht genau sagen, wann Weber mit der Niederschrift begonnen hat. Belege für einen Beginn vor Sommer 1919 gibt es zwar nicht, doch ist ein früheres Datum auch nicht grundsätzlich auszuschliessen. Zum andern kann zumindest mit Blick auf das Kapitel «Soziologische Kategorien des Wirtschaftens» von einer Neufassung nicht gesprochen werden, findet sich doch in den Vorkriegsmanuskripten hierzu keine Vorlage. Tatsächlich hat man es mit einem ganz neuen Text zu tun, um den übrigens die bisherige Rezeption einen auffällig grossen Bogen gemacht hat.

Der Aspekt der Legitimität

Für die «Soziologischen Grundbegriffe» gibt es wohl einen Vorgänger, den Aufsatz «Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie» von 1913, doch ist dieser stärker entwicklungsgeschichtlich ausgerichtet und im Übrigen in einer Terminologie gehalten, deren Eigenwilligkeit und Umständlichkeit schon die Zeitgenossen befremdet hat. Beim dritten Kapitel – «Typen der Herrschaft» – konnte Weber aus dem Vollen schöpfen, gab es doch die Fülle der heute im Band «Herrschaft» zusammengestellten Texte, die aber verglichen mit der Neufassung deutlich heterogener sind. So kommt etwa der Gesichtspunkt der Legitimität nun viel besser zur Geltung, da er im alten Manuskript nur in einigen Kapiteln wie beispielsweise demjenigen über das Charisma konsequent Anwendung findet, im Bürokratie-Kapitel dagegen fehlt. Andererseits sucht man in der Neufassung vergeblich nach einer dem veränderten Reflexionsstand entsprechenden Reformulierung des Vorkriegsmanuskripts über «Staat und Hierokratie», das mit hundert Seiten zu den umfangreichsten Texten des Nachlassbandes zählt. Ob Weber sich dies für die ins Auge gefasste Religions- oder die ebenfalls geplante Staatssoziologie vorbehalten hat, wissen wir nicht; wie überhaupt die Frage, wie es nach den vier neuen Kapiteln weitergehen sollte, weitgehend unbeantwortbar ist.

Das vierte Kapitel über «Stände und Klassen» ist wesentlich differenzierter als das entsprechende Vorkriegsmanuskript. Dafür lässt es aber die handlungstheoretischen Unterscheidungen zwischen Massen-, Gemeinschafts- und Klassenhandeln in den Hintergrund treten, mit denen Weber seinerzeit auf die grundlegende Bedeutung der Erkennbarkeit von Bedingtheit und Wirkung der Klassenlage für ein Gemeinschaftshandeln der Klassenzugehörigen hingewiesen hatte, also für das, was Georg Lukács später als Klassenbewusstsein fasste. Problematisch an diesem Kapitel ist nicht nur sein unabgeschlossener Charakter, sondern auch seine Stellung im begrifflichen Aufbau, operiert doch bereits das vorausgehende Kapitel über «Typen der Herrschaft» mit Begriffen wie «ständischer Patrimonialismus», «ständische Gewaltenteilung» oder «Klassenparteien», so dass man sich fragt, warum Weber die Definition für Stand und Klasse nicht bereits in den «Soziologischen Grundbegriffen» gibt.

Ein «work in progress»

Der Eindruck, hier sei manches mit heisser Nadel gestrickt, ist nicht von der Hand zu weisen und wird im Übrigen auch durch den editorischen Bericht verstärkt, der ernüchternde Einblicke in den teilweise chaotischen Drucklegungsprozess dieser Texte gewährt. Welch ein Vertrauen muss der Verleger in seinen Autor gesetzt haben, dass er mit dem Druck eines Werkes begann, für das nicht einmal eine Gliederung vorlag, wenn man von dem veralteten Plan von 1914 absieht! Und was liess er ihm nicht alles durchgehen: ständige Terminverschiebungen, Vertröstungen, nachträgliche Erweiterungen des bereits gesetzten Textes, mehrere Korrektur- und Revisionsgänge usw.

Webers Soziologie, das zeigt die Neuausgabe von «Wirtschaft und Gesellschaft», ist ein «work in progress», das vermutlich noch manche Revisionen und Umbauten erlebt hätte, wenn seinem Verfasser mehr Zeit gegönnt gewesen wäre. Die vier Kapitel, die nun sein letztes Wort geblieben sind, bieten zahlreiche Fortschritte in Bezug auf begriffliche Verdichtung und Architektonik, vermögen aber viele der Einsichten nicht zu ersetzen, die in der Vorkriegsfassung zu finden sind. So mag es einem mit Blick auf «Wirtschaft und Gesellschaft» wie jenem geistreichen Franzosen gehen, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Wort prägte, er liebe Deutschland und freue sich deshalb, dass es gleich zwei davon gebe.

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920. Herausgegeben von Knut Borchardt, Edith Hanke und Wolfgang Schluchter. Max-Weber-Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 23, Ln., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 2014. 845 S., Fr. 525.–.


Sonntag, 27. April 2014

L'homme machine.

Mensch und Roboter: Nicht nur Ungetüme wie der Roboter im Bild, sondern auch Geräte Navigationssysteme, Smartphones und Staubsauger helfen und manipulieren uns täglich.
aus nzz.ch, 27. 4. 2014 

Mensch und Maschine
Roboter unter uns
Sie sind da, und es werden immer mehr. Intelligente Maschinen beeinflussen unser Leben. Sie helfen uns, verführen uns, manipulieren und betrügen uns – ohne dass wir es merken. Bald sollen sogar Mini-Roboter in unserem Körper zirkulieren. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine hat längst begonnen. Ist das gefährlich?

Von Hannes Grassegger

AA Für Pal war es ein Treffer mitten ins Herz. Die schöne Aaliyah schien sich für ihn zu interessieren. In der Flirt-App Tinder auf seinem Handy sprang ein Dialogfenster auf. «Hey», schrieb er vorsichtig und wartete ein paar Minuten. «Hey :-)», textete Aaliyah, und sein Herz schlug höher. «Was machst du so?» fragte er, und er wusste um die Bedeutung dieser simplen Frage. Eine Stunde später erschien Aaliyahs Antwort auf dem Bildschirm: «Wie geht’s dir?»

Damit war es vorbei. Aaliyah hatte Pals Roboter-Prüfung nicht bestanden: den Turing-Test, benannt nach dem Pionier der künstlichen Intelligenz, Alan Turing. Weil auf «Was machst du so?» ein sinnloses «Wie geht es dir?» folgte, erkannte Pal Aaliyah als ein Programm mit dem geklauten Gesicht einer schönen Frau. «Du bist eine Fälschung», schrieb er. Sie antwortete ungerührt: «Ich erhol mich immer noch von letzter Nacht :-). Bin am Relaxen mit einem Spiel auf meinem Handy, Castle Clash.» Und dann: «Hast du schon davon gehört?» Es folgte ein Link, der zu einem Kreditkarten-Eingabefeld führte. «Spiel mit mir und du kriegst meine Nummer :-).» Das war keine Liebe, sondern ein Griff nach seinem Geld.

Die Frustration darüber, zu entdecken, dass man sein Herz einer Maschine in die Hände gelegt hat, beschrieb der deutsche Romantiker E. T. A. Hoffmann bereits vor fast 200 Jahren. In seinem Schauermärchen «Der Sandmann» von 1816 stürzt sich der junge Nathanael von einem Turm, nachdem er erfahren hat, dass die von ihm begehrte Olimpia nur ein «lebloser Automat», kurz: ein Roboter ist.

Heute nennen sich die flirtenden Roboter Lovebots und sind Verwandte der bösartigen Spambots, die heimlich E-Mail-Adressen aus dem Netz fischen, der höflichen Chatbots, die Online-Foren beaufsichtigen, und der Twitterbots, die auf dem Kurznachrichtendienst automatisiert Nachrichten von sich geben.

Bots sind programmierte Handlungsabläufe. Wie Roboter in der physischen Welt nehmen sie Menschen Arbeit ab. Manche sind mit ihrer menschlichen Umgebung verknüpft, einige lernen gar von ihr. Wir leben mit ihnen, arbeiten mit ihnen, bemerken sie aber nur am Rande. Es sind Programme, letztlich Maschinen, die mit Menschen in einen Dialog treten, ähnlich den automatisierten Spracheingaben in Telefon-Warteschleifen oder sprechenden Betriebssystemen wie Siri von Apple.

Sechs von zehn sind bösartig

Die Roboter verbreiten sich rasend schnell. Laut der «New York Times» sind mittlerweile fast zwei Drittel der Twitter-Follower keine Menschen, sondern Maschinen. Letztes Jahr flog auf, dass eine der lange einflussreichsten brasilianischen Journalistinnen auf Twitter namens «Carina Santos/@Scarina91» ein Roboter war. Twitterbots mischten sich mit pro-russischen Nachrichten in die Krim-Krise ein. Viele Klickzahlen bei Youtube sind das Ergebnis von Robotern. Der Sicherheitsanbieter Distil schätzt, dass die Maschinen mittlerweile für rund 40 Prozent des Datenverkehrs im Netz verantwortlich sind. Sechs von zehn hegten keine guten Absichten. Über acht Milliarden Bots will das Unternehmen bisher identifiziert haben. Incapsula, ein anderer Sicher–heitsanbieter, schätzt, dass die Maschinen mittlerweile den Grossteil des Datenverkehrs auf dem World Wide Web ausmachen.

Bei Tinder, einer der beliebtesten Flirt-Apps in den USA, sind die Roboter zum ersten Mal im März 2013 aufgetaucht. Das Unternehmen fing an, sie zu bekämpfen, doch die Flirtbots veränderten sich. Sie haben ausgefeilte Taktiken entwickelt. Erst wenn sie kontaktiert werden, bauen sie mit Phrasen einen Pseudo-Dialog auf. Die meisten Tinderbots sind weiblich, ihr Schreibstil imitiert den amerikanischen SMS-Slang der Zielgruppe. Mittlerweile sprechen sie sogar mehrere Sprachen. Sie sind das vielleicht grösste Problem der erfolgreichen Apps. Wenn sie das Netzwerk kolonisierten, könnten die Menschen abziehen.

Logische Fragen wie die von Pal oder sogenannte Captchas, verschwommene Buchstabenfolgen, die man vielerorts zusätzlich zum Passwort zur Anmeldung eingeben muss, sind nichts anderes als Mauern, um Maschinen von Menschen fernzuhalten. Durch immer bessere Filter aber würden auch die Roboter immer besser, sagt Tim Hwang, Forschungsleiter bei der Pacific Social Architecting Corporation, die gesellschaftliche Effekte von Technologien untersucht. Zunehmend eigneten sich Maschinen menschliche Züge an, um sich einzuschleichen.

Maschinen haben weder Herz noch Bewusstsein. Doch immer mehr können beides imitieren. Eine seltsame Nähe beginnt zu entstehen. Viele Menschen haben eine solche Nähe zu ihrem sprechenden Navigationssystem im Auto aufgebaut. Sie beschimpfen oder loben es, je nachdem, wie zufrieden sie mit seiner Leistung sind. Manche streicheln beim Einschlafen ihr warmes Smartphone.

Mittlerweile hat Hollywood das Thema entdeckt: Der Kinoerfolg «Her» erzählt von der verstörende Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einem Betriebssystem namens Samantha. Und in «Transcendence» verliert eine Frau die Liebe zu ihrem verstorbenen Partner, der als auf einen Computer geladene Persönlichkeit fortlebt. «Dass Hollywood sich jetzt so für die Beziehung zwischen Mensch und Maschine interessiert, liegt daran, dass wir mittlerweile alle zu verstehen beginnen, wie eng wir mit Maschinen verwoben sind», meint Katherine Hayles. Sie ist Professorin an der Duke-Universität in North Carolina und die führende Denkerin auf dem Gebiet des Post-Humanismus, der die Verschmelzung von Mensch und Technik erforscht.

Zahnbürste spricht mit Zahnarzt

An den Finanzmärkten beispielsweise sei die Mensch-Maschine-Verbindung schon weit fortgeschritten, sagt Hayles. Grosse Teile des Handels beruhen auf der Vernetzung von Menschen mit intelligenten Maschinen, die dem Menschen Entscheidungen abnehmen, weil er zu langsam ist, um mitzuhalten. Und fast jeder Mensch in fortgeschrittenen Industrieländern hat heute grosse Teile seiner persönlichen Erinnerungen auf Festplatten oder in einer Datenwolke ausgelagert.

Diese Verbindung wird wohl untrennbar werden. Die Roboter werden zu einem Teil von uns. Ray Kurzweil, der Chefingenieur von Google, prognostiziert in einem Interview mit dem «Wall Street Journal», dass in absehbarer Zukunft die Roboter auch in unseren Blutbahnen kursieren werden. Sie werden Nanobots genannt, haben die Grösse eines Blutkörperchens und würden nicht nur Krankheiten vor Ort bekämpfen, sondern auch unser Gehirn mit Computernetzwerken verbinden. Das biologische Gehirn würde verbunden mit künstlicher Intelligenz. Wir könnten nach unserem Gesundheitszustand googeln. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine soll, so Kurzweil, in 15 bis 30 Jahren Tatsache werden.

Selbst wenn die Maschinen nicht in unsere Körper einziehen sollten, werden wir dennoch ein Teil von ihnen. Unsere Umwelt besteht zunehmend aus vernetzten intelligenten Systemen. Durch das sogenannte Internet der Dinge, bei dem Apparate mit dem Internet verbunden werden, werden wir zunehmend enger verknüpft: Unsere Zahnbürste könnte in Zukunft mit einem Sensor ausgerüstet sein und würde dem Zahnarzt unseren Gesundheitszustand mitteilen. Die Information ginge auch an die Pharmabranche, und die zahlte uns dafür die Zahnpasta. Google schätzt die Wichtigkeit dieses allgegenwärtigen, uns umfassenden Internets so hoch ein, dass der Konzern im letzten Januar 3,2 Milliarden Dollar für den kleinen Haushaltssensorik-Hersteller Nest Labs bezahlte.

Die Maschinen werden uns Aufgaben wie das Einkaufen und das Autofahren abnehmen – aber auch unsere Jobs. Die «LA Times» veröffentlichte diesen März den ersten News-Report, der von einem Roboter geschrieben worden war. Auch komplexe medizinische Operationen lassen sich automatisieren. Bis in den Tod hinein werden die Maschinen uns begleiten. Im alternden Japan blinzeln Roboter-Kuscheltiere greise Senioren in Altersheimen freundlich an.

Eins steht fest: intelligente Maschinen können uns nützen und schaden – aber sie werden immer da sein. Ob unser Verhältnis zu ihnen freundlich oder feindlich sein wird, entwickelt sich zur entscheidenden Frage für Gesellschaften, in denen es keinen Augenblick mehr ohne die Anwesenheit der mitdenkenden Maschine geben wird.

Die Angst vor der Maschine

Zieht mit der immer engeren Verknüpfung von Mensch und Maschine der Konflikt mit den zielstrebigen Maschinen direkt in uns selber ein? Werden wir gar «uns» verlieren, weil jede Person zukünftig auch noch aus Maschinen besteht?

Wir werden uns verändern. Katherine Hayles spricht von einem «posthumanen Dasein»: «Was uns von den Höhlenbewohnern unterscheidet, ist das dauernde Bewusstsein, Bestandteil eines technologischen Systems zu sein.» Dass Maschinen ein eigenes Bewusstsein entwickeln, in welches wir uns verlieben oder mit dem wir streiten, hält sie für unwahrscheinlich. Eine Art interpersoneller Austausch zwischen Mensch und Maschine sei möglich – nicht aber ein innerer Konflikt. «Es gibt eine lange Geschichte der Angst vor der Maschine», sagt sie, «in Wahrheit sehen wir für jeden Konflikt hundert Fälle der Kooperation.» Das Verhältnis sei grösstenteils harmonisch, aber nicht mehr. Ausser den «engen Beziehungen, die manche mit ihren Smartphones führen», sei ihr kein Fall von Verliebtheit in Maschinen zu Ohren gekommen.

Optimisten denken, die Vernetzung könnte ein Akt der Vervollständigung sein. Bei einem Experiment trat Schach-Grossmeister Garri Kasparow zusammen mit einem Computer an und gewann gegen ein Grossaufgebot menschlicher Gegner. Sein Fazit: Die Maschine sei besser in der Taktik, er sei besser in der langfristigen Strategie. Science-Fiction-Forscher Philipp Theisohn, Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich, argumentiert gar, dass der Mensch daher so auf die Verschmelzung hinarbeite, weil er hoffe, endlich zu sich selbst zu finden. «Weil wir glauben, gar nicht zu wissen, was wir wollen, arbeiten wir seit Jahrtausenden an einem neutralen Ratgeber, einem ständigen Begleiter, der uns, unberührt von unseren Emotionen, zu uns führen soll.»

Solange die Maschine ohne eigenen Willen bleibt, steckt hinter ihrer vorgeblichen Lebendigkeit nichts anderes als unsere eigene. Das hatte schon E. T. A. Hoffmann erkannt: Als der junge Nathanael seine geliebte Roboterfrau Olimpia an sich drückt, erschrickt er erst über ihre Kälte. Dann berühren seine Lippen die ihren, und «in dem Kuss schienen die Lippen zum Leben zu erwarmen».

Samstag, 26. April 2014

Novalis über den Philister

Carl Spitzweg [Spaziergänger]

Unser Alltagsleben besteht aus lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen. Dieser Zirkel von Gewohnheiten ist nur Mittel zu einem Hauptmittel, unserm irdischen Dasein überhaupt, das aus mannigfaltigen Arten zu existieren gemischt ist.

Philister leben nur ein Alltagsleben. Das Hauptmittel scheint ihr einziger Zweck zu sein. Sie tun das alles, um des irdischen Lebens willen; wie es scheint und nach ihren eignen Äußerungen scheinen muß. Poesie mischen sie nur zur Notdurft unter, weil sie nun einmal an eine gewisse Unterbrechung ihres täglichen Laufs gewöhnt sind. In der Regel erfolgt diese Unterbrechung alle sieben Tage, und könnte ein poetisches Septanfieber heißen. Sonntags ruht die Arbeit, sie leben ein bißchen besser als gewöhnlich und dieser Sonntagsrausch endigt sich mit einem etwas tiefern Schlafe als sonst; daher auch Montags alles noch einen raschern Gang hat. Ihre parties de plaisir müssen konventionell, gewöhnlich, modisch sein, aber auch ihr Vergnügen verarbeiten sie, wie alles, mühsam und förmlich.

Ballermann, MallorcaDen höchsten Grad seines poetischen Daseins erreicht der Philister bei einer Reise, Hochzeit, Kindtaufe, und in der Kirche. Hier werden seine kühnsten Wünsche befriedigt, und oft übertroffen.

Ihre sogenannte Religion wirkt bloß wie ein Opiat: reizend, betäubend, Schmerzen aus Schwäche stillend. Ihre Früh- und Abendgebete sind ihnen, wie Frühstück und Abendbrot, notwendig. Sie können’s nicht mehr lassen. Der derbe Philister stellt sich die Freuden des Himmels unter dem Bilde einer Kirmeß, einer Hochzeit, einer Reise oder eines Balls vor: der sublimierte macht aus dem Himmel eine prächtige Kirche mit schöner Musik, vielem Gepränge, mit Stühlen für das gemeine Volk parterre, und Kapellen und Emporkirchen für die Vornehmern.

gorlebenDie schlechtesten unter ihnen sind die revolutionären Philister, wozu auch der Hefen der fortgehenden Köpfe, die habsüchtige Rasse gehört.

Grober Eigennutz ist das notwendige Resultat armseliger Beschränktheit. Die gegenwärtige Sensation ist die lebhafteste, die höchste eines Jämmerlings. Über diese kennt er nichts höheres. Kein Wunder, daß der durch die äußern Verhältnisse par force dressierte Verstand nur der listige Sklav eines solchen stumpfen Herrn ist, und nur für dessen Lüste sinnt und sorgt.

Carl Spitzweg, Aschermittwoch
Novalis, Blütenstaub, N°77.

Eine Biographie Max Webers.

aus nzz.ch, 18. April 2014, 05:30

Ein «Galilei der Geisteswissenschaften»
Max Weber, der als einer der Begründer der Soziologie gelten darf, wurde vor einhundertfünfzig Jahren im thüringischen Erfurt geboren. Dirk Kaeslers voluminöse Biografie zeichnet ihn als «Preussen», «Denker» und – als «Muttersohn».

von

Der hundertfünfzigste Geburtstag von Max Weber beschert uns gleich zwei neue Biografien dieser intellektuellen Jahrhundertgestalt. Jürgen Kaube bringt in seinem Buch «Ein Leben zwischen den Epochen» – einer gelungenen «intellectual biography» – den Bürger und Gelehrten Max Weber konzentriert auf den Punkt (NZZ 29. 1. 14). Dirk Kaesler liefert nun das krasse Gegenstück, an Länge und im Stil. So ausladend – von den Gerüchen der Stadt Erfurt zur Zeit von Webers Geburt dort am 21. April 1864 bis zu den verschiedenen Wohnstätten der Geliebten Else Jaffé in Webers letzten Münchner Jahren – ist das Leben des Gelehrten noch nie dargestellt worden. Alles ist zusammengeführt, was der emeritierte Marburger Soziologe Dirk Kaesler, ein ausgewiesener Kenner der soziologischen Klassiker, in seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Weber angesammelt hat.

Tausend Seiten – ohne Nachweise

Wer diese tausendseitige Biografie aufschlägt, sollte mit dem Kleingedruckten im Anhang beginnen. Aus stilistischen Gründen, steht dort, wurde für diese Lebensschilderung darauf verzichtet, die Fundorte der Zitate nachzuweisen. Den wissenschaftlichen Wert des Werkes schmälert das gewaltig. Denn kaum zu prüfen ist, was aus primären Quellen geschöpft und was aus zweiter oder dritter Hand übernommen wurde. Die Leser müssten, nicht anders als bei einem Plagiatsverdacht, Software einsetzen, um die exakten Nachweise zu finden. Ist das die Lektüre der Zukunft?

Lesenswert ist Kaeslers Opus magnum als roman vrai. Zwei Souffleure bereiten ihm eingangs die Bühne für eine grosse Erzählung: Goethe und Dostojewski. Letztgenannter, weil er lehre, wie man einen Menschen zu sehen habe. Wie Dostojewskis Romanfiguren sei auch Weber «ein seltsamer Mensch, ein Sonderling, ein Einzelner» gewesen.

Ausführlich referiert Kaesler alle Schriften, die Weber zu anhaltender Weltgeltung verholfen haben. In manchem setzt er anregende Akzente. Webers Interesse an der besonderen protestantischen Arbeitsethik verfolgt er zurück bis zu dessen Reise ins spanische Baskenland von 1897, dort habe der Soziologe die jesuitisch-kapitalistische Moral der Basken studiert. Einen Vortrag Webers während des Ersten Weltkriegs in Wien vor k. u. k. Offizieren über Sozialismus rückt er mit Recht als eine «fulminante» Analyse politischer Herrschaft wieder ins Bewusstsein.

Nur den berühmten «Objektivitätsaufsatz», mit dem Weber den Historismus überwand und in dem er lehrte, allein unter explizit ausgewiesenen Gesichtspunkten sei kulturwissenschaftliche Erkenntnis überhaupt möglich – dieses Bekenntnis zum radikalen Perspektivismus mag Kaesler offenbar nicht. Denn er verzichtet in seiner «Erzählung», wie er seine Biografie immer wieder bezeichnet, demonstrativ auf eine ausdrückliche Fragestellung. Immerhin lassen sich thematische Fokussierungen dem Titel seines Werkes entnehmen: «Max Weber. Preusse, Denker, Muttersohn».

Weber, der Preusse, gar der «ewige» Preusse? Das muss man vom Kopf auf die Füsse stellen. In Webers Werteskala steht die «Nation» über den Einzelstaaten. Nationale Interessen gehen dem «animal politicum» in ihm über alles. Auf Preussen ist er deshalb negativ fixiert. «Was war Bismarcks politisches Erbe?», fragt er im Weltkrieg. Die Antwort: «Er hinterliess eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte.» Im Krisenjahr 1917 fordert Weber dezidiert eine Beseitigung der grosspreussischen Hegemonie des Deutschen Kaiserreiches.

Eine Koautorin

Weber, der Denker? Zweifellos. Mit seinen Forschungen zur religiösen Prägung ökonomischen Verhaltens oder zu den sozialen Bedingungen politischer Herrschaft wirkt er in alle Bereiche der modernen Kultur hinein. Kaesler verweist auf Karl Jaspers, der Weber einen «Galilei der Geisteswissenschaften» nannte, und zählt den Soziologen ausserdem zu den «wirkungsvollsten politischen Denkern des 20. Jahrhunderts». Man muss nur sehen, wie regelmässig Weber als Journalist zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften mit geschliffenen Artikeln beliefert hat. In der Revolution von 1918 wechselt er sogar für einige Wochen als Berater in die Redaktion der «Frankfurter Zeitung». Dort publiziert er auch seine wichtigsten Beiträge zur demokratischen Neuordnung Deutschlands.

Weber, der Muttersohn? Das zielt auf den privaten Teil der Biografie, und Kaesler setzt damit Helene Weber, geborene Fallenstein, ein Denkmal. Für diese private Seite hat sich Kaesler eine Koautorin gewählt. In grossen Blöcken und das ganze Buch hindurch zitiert er Marianne Webers «Lebensbild» ihres Gatten von 1926. Weitgehend verlässt der Autor sich auf diese Darstellung, sei es mit Blick auf Max Webers folgenreiche Krankheit, sei es in Sachen intellektueller «Salon», den die Webers führten und der den «Mythos von Heidelberg» befestigt hat. In zwei entscheidenden Punkten widerspricht Kaesler Marianne Weber. Wo sie verklärt und heroisiert, will er entzaubern und Max Webers «angeborene Ängstlichkeit und seine Scheu vor emotionaler Abhängigkeit» betonen. Und von den Frauen, die Max Weber schützend umgaben, hält er nicht Marianne Weber, erst recht nicht Else Jaffé, sondern Mutter Helene für die bedeutendste – eben deshalb nennt er ihn «Muttersohn», manchmal «Muttersöhnchen». Unter einem Gesichtspunkt, den Kaesler gar nicht einmal stark herausstreicht, ist das treffend: Die Mutter hatte das Geld. Sie stammte aus vermögendem hugenottischem Wirtschaftsbürgertum und trug wesentlich dazu bei, ihrem Erstgeborenen nach dessen Erkrankung eine sorgenfreie Existenz als Privatgelehrter zu sichern.

Ein «Rechner»

Für Max Weber machte es den Grundzug des modernen Kulturmenschen aus, alles «durch Berechnung beherrschen» zu wollen. Auch persönlich war er ein «Rechner». So hiess das Amt des Schatzmeisters, das er sich im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ausgesucht hatte. Er hatte diese wegweisende Gesellschaft für die akademische Etablierung der Soziologie 1909 mitbegründet, verliess sie aber schon nach kurzer Zeit im Zorn darüber, dass die Kollegen seinen Idealen einer «deutend verstehenden und ursächlich erklärenden» Wissenschaft nicht folgen wollten. Und privat wachte Max Weber als Rechner über das Familienvermögen. Der Mutter konnte er anhaltende Vorwürfe machen, die ständische Lebensführung des jüngeren Bruders Arthur als Offizier in der Reichshauptstadt Berlin zu grosszügig zu unterstützen und zu viel Geld für soziale Zwecke zu spenden. Regelmässige Zuwendungen der Mutter hatte Max Weber für seine eigene Privatgelehrtenexistenz nicht anders einkalkuliert als die Erbschaft der Familie seiner Frau.

Erst am Ende des Weltkrieges, als die patriotisch gezeichneten Kriegsanleihen das gesamte Familienvermögen stark dezimiert hatten, musste Weber zurück an die Universität und wählte München. Hier starb er am 14. Juni 1920 an einer Lungenentzündung, ein spätes Opfer der Spanischen Grippe, die nach dem Krieg in ganz Europa wütete. Die Mutter Helene war am 14. Oktober 1919 in Charlottenburg gestorben, und der Biograf stellt am Ende seiner Erzählung keinen ursächlichen, eher einen mystischen Zusammenhang her: «Es dürfte kein Zufall sein, dass Max Weber gerade mal fünf Monate nach dem Tod seiner Mutter stirbt.»

Worin liegt nun aber Max Webers anhaltende Relevanz? Ein Versuch in drei Sätzen: Weber ist ein universalhistorischer Problemdenker, aber stets ausgerichtet auf die Gegenwart, auf das «So-und-nicht-anders-geworden-Sein» der heutigen Kultur. Unübertroffen ist sein Denkstil, seine Scharfsichtigkeit, mit der er schonungslos über die grossen Konflikte der «uns umgebenden Wirklichkeit» aufklärt, vor allem über die Widersprüche zwischen demokratischem Staat und kapitalistischem Markt. Was Max Weber ein Leben lang antreibt, ist – in seinen eigenen Worten – der unbedingte Wille, «Klarheit» zu gewinnen über die Realitäten des Lebens und der Zeit «in ihr ernstes Antlitz» zu blicken.

Dirk Kaesler: Max Weber. Preusse, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. C. H. Beck, München 2014. 1007 S., Fr. 54.90.

Donnerstag, 17. April 2014

Nachtrag: Des Romantikers Schatten.

Der Philister, zu deutsch: der Spießer…


…war das Inbild der Romantik: als ihr Gegner.

Der Romantiker ist einer, der vor allen Dingen den Philister jagt – aber wie seinen eigenen Schatten! Dieser ist nichts ohne jenen. Auch darum sind wir Deutschen sicher die “romantischste” Nation von allen: Weil wir von den einen so viele haben, wimmelt es von den andern.

Zwar ist keine Gattung so naturwüchsig international wie der Spießer. Wir alle tragen irgendwo einen kleinen Spießer versteckt in unserer Brust. In unsern lausigen bürgerlichen Verhältnissen hat sich jeder von uns schon öfter, als er zugeben mag, unter so manches Joch gebeugt und ist in so manchen A… gekrochen. Stolz darauf ist keiner: “Das hast du getan, sagt meine Gedächtnis. Das kannst du nicht getan haben, sagt mein Stolz. Nach einer Weile gibt mein Gedächtnis nach.” (Nietzsche) 

Der Spießer ist einer, der Sein Gedächtnis prophylaktisch auf Eis gelegt hat. “Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit”, und darum wird er sich nie etwas vorzuwerfen haben. Das sind die ‘Leute mit dem pathologisch reinen Gewissen’. Es gibt eine Sorte Stolz, die ganz ohne Gedächtnis auskommt: die nennt man Dünkel (lat. vanitas = eine der sieben Todsünden). Der erfüllt den Spießer bis zum Scheitel.

Wie gesagt, einen kleinen Spießer trägt jeder von uns im Herzen. Die Frage ist immer nur, wie groß er ihn werden lässt.

Es gibt einen Berufsstand, in dem dieser angenehme Wesenszug stärker kon- zentriert ist als anderswo, und der ist im Bildungsbeflissenen Deutschland seit hundertfünfzig Jahren wirkmächtiger als sonst wo: Das ist der Stand der Kinderkümmerer. Sie haben schon immer das Beste gewollt, von Hause aus. Wer einmal den Entschluss gefasst hat, mit Kindern sein Geld zu verdienen (statt mit Versicherungen oder Obst und Gemüse), wie sollte der fehlen können? Denn selbst, wenn er ein Mal (1 x) nicht Recht ‘haben’ sollte, so wird er doch immer ‘im’ Recht ’sein’. Er ist der Normalmensch, ihn können sich alle zum Vorbild nehmen. Darum darf – und will – er Kinder auch erziehen: “Erziehung ist Liebe und Beispiel.” Soll heißen, er ist das Beispiel, und darum wird man ihn ja wohl auch lieben müssen, oder?

Ist jeder Kinderkümmerer ein Spießer?
Wenn er nicht energisch dagegen angeht, ja.
 
Kein normaler Mensch ist absichtlich ein Spießer. Und da keiner ein Spießer sein will, mag er auch den, den er in seiner Brust trägt, nicht wahr haben. Er erkennt ihn nicht. Also muss er ihm von seinen Freuden vor Augen geführt werden. Dann lacht er laut auf, schüttelt sich und jagt den albernen Patron zum Teufel. Man muss den kleinen Spießer aus seinen Winkeln in den Herzen herauslocken, hervor-rufen (lat. pro-vocare), ans Licht zerren und… zum Tempel hin-aus lachen.

Freilich, beim Vollblutspießer sind Hopfen und Malz verloren. Er ist nicht bloß brav, bieder und betulich, sondern auch besorgt, bierernst und bedeutsam. Er denkt positiv; vor allem von sich. Seine Welt ist aufgeräumt, das hat eine höhere Intelligenz (derer er kraft richtiger Gesinnung teilhaftig ward) so gefügt. Betroffen ist er gern, vor allem, wenn Publikum zuschaut, doch getroffen fühlt er sich selten. Sein Lieblingsgedanke: “Ich danke dir, HErr, dass ich nicht bin wie jene!” Gelacht hat er sein Lebtag nur über andere, und lacht ein Mal einer über ihn, dann ist er entrüstet: Der Tugend höhnen? Unerhört!

Untrügliches Merkmal: Der Spießer ist humorlos. Das Reinigungsmittel, das unfehlbar die kleinen Spießer austreibt und die großen kenntlich macht, ist das Lachen. (Katharsis nannten das die alten Griechen, und dazu hatte sie ihre Komödie.) Denn gegen Argumente ist er immun. Er wird immer irgendwas anderes – gerade in diesem Moment! – “wichtiger” finden, und er wird Bedenken tragen, “ob man das denn so sagen kann”; nicht, weil er selber zimperlich wäre, ach wo, sondern in Rücksicht auf “die andern”. An seinen Rücksichten und Bedenken meint man zu ersticken wie an ungepresster Watte oder an gehackten Borsten.


Der Spießer ist in eminentem Sinn ungebildet. Das bedeutet aber nicht, dass er nicht trotzdem allerhand gelesen haben mag. Manch einer hat gehört: Den Spießer erkennt man an der Humorlosigkeit. Darum höhnt und feixt er vorsorglich über alles, was ihm über den Weg läuft. Um’s Himmels Willen nicht als Spießer erkannt werden! Eher noch als Hanswurst oder Giftspritze… Den “Spötter” hat er sich als Kostüm angezogen. Aber den Spießer erkennt man immer noch daran, dass unter dem Kostüm… nix is: Red’ ihm über was Ernstes, und er ist verloren.

Man kann den Spießer zur Selbsterkenntnis nicht verführen. Ein bissel seiner selbst spotten? Da bräche die ganze Fassade ein: Was er wie Selbstironie vorträgt, ist eine kaum verhohlene Art des Eigenlobs. Mit dem Spießer gibt es kein Kompromisseln. Jeden Fußbreit Boden, den man ihm kampflos preisgibt, verbucht er als verdienten Sieg und geschuldeten Tribut an seine Vernünftigkeit. Die Konzessionen, die man ihm macht, sind nur Konzessionen an sein Selbstgefallen.


Aber: Das Gefährlichste am Kampf gegen die Spießerei ist die Gewöhnung; die Gewöhnung nämlich an… den Kampf gegen die Spießer! Denn von allen Dünkeln der spießigste ist der, man könne seinen eignen innern Spießer ein für alle mal hinter sich bringen, und sei dann vor ihm sicher. Doch wann immer einer länger als eine Viertel- stunde mit sich zufrieden ist, wächst ihm heimlich einer nach. 

im März 1993, für den Kinderring Berlin                                                                                                                     Bilder: Daumier und Ducreux

Mittwoch, 16. April 2014

Was heißt denn Romantik?

J. C. C. Dahl, Blick auf Schloss Pillnitz

Zeit für eine neue Romantik? 

Die Idee einer ganzen, umfassenden Kunst ist relativ jung. Sie ist eine Schöpfung der europäischen Renaissance. Sie galt als Königsweg zur Wahr- heit. Denn anders als die theoretischen Wissenschaften – denen sie erst den Weg ebnete – erfasst sie den “ganzen Menschen”. Die vollendete Gestalt wird, als Bild der Idee, zum Leitstern der Kunst. Malerei und Skulptur werden zu ihrem Inbegriff, und Harmonie wird zum Synonym des Schönen. Eine chaotische Natur nach den Gesetzen der Harmonie formieren – das war der Sinn des Fortschritts und galt als Zweck der Geschichte.

Aus dem Geist der Konstruktion entstanden die Wissenschaften und aus ihr die Industrie. Deren Triumphe rechtfertigten sich selbst. Auf die Idee, auf das Schöne und das Wahre kann die praktische Welt des Bürgertums seither verzichten. Der Welt ihre Geheimnisse abjagen und sie verfügbar machen – das war ihr Programm genug. „Das Wahre ist das Wirkliche“, lautet das Bekenntnis des Positivismus: Was ist, trägt nun seine Bedeutung in sich selbst, denn ihr gemeinsamer tragender Grund ist – die Arbeit.
 
 

Das war der Punkt, wo die Kunst in einen rebellischen Gegensatz zur Wirklichkeit trat. Sie wurde „rein“ und zweckfrei. Es ist die Stunde der Romantik. Das Bizarre wird interessanter als das Harmonische. Das Schöne nimmt einen subversiven Charakter an: das radikal Andere, das unter Umständen sogar hässlich sein darf – wenn es nur der Wirklichkeit spottet. Der Grundcharakter der romantischen Kunst ist ausdrücklich: Ironie. Sie macht die Unwahrheit, die logische Indifferenz des Wirklichen sichtbar. Ein besseres Verhältnis zur Wahrheit hat sie nicht. Seither wird auch, anstelle der Malerei, immer mehr die Musik zum Inbegriff der Künste – als die am wenigsten „positive“ unter ihnen. 
Denn das Wahre ist kein Etwas, das „ist“; sondern das, was schlechthin gelten soll. Es bezieht sich gar nicht auf die Dinge, sondern auf das, was ich tue. Es ist keine theoretische Kategorie, sondern eine ethische. Und eine ästhetische: „Die Gesetze der Moral sind auch die der Kunst“, schrieb Robert Schumann, und sprach das Programm der Romantik aus, die am Anfang der “Moderne” steht. 


Und jetzt, am Abend der “Moderne”, am Ende der “Post”-Moderne? Ist die Zeit für eine neue Romantik “reif”?



Woher kommt “romantisch”? 

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Das Wort romantic ist in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgekommen und bezeichnet die Charakteristiken der – damals spezifisch französischen – Literaturgattung le roman. Es wird eine Geschichte erzählt mit klarem Anfang und klarem Ende, in ungebundener Form, mit womöglich mehreren Handlungssträngen, Verwicklungen und überraschenden Wendungen. Der Roman unterscheidet sich vom herkömmlichen Epos dadurch, dass das Geschehen aus der Perspektive einer Hauptperson, oder doch mit Perspektive auf eine Hauptperson berichtet wird, so dass ein „roter Faden“ erkennbar bleibt. 

Das Wort selbst bezeichnet seine französische Herkunft: Eine romantz war im Mittelalter eine Erzählung, die in der „romanischen“ Umgangssprache des Volks geschrieben war – statt im gelehrten Latein. Zwar wurde sie auch – von den Troubadouren etwa – in der Versdichtung verwendet; typisch war sie aber für den formal ungebundenen erzählenden Prosatext, der in Latein nicht vorkam. So ist etwa der Perceval des Chrétien de Troyes nicht gereimt, im Unterschied zu Wolframs (jüngerem) Parzival (der vermutlich zunächst nur mündlich vorlag).

hoffmannlebensansichten1855bd2Den Brüdern Schlegel kam der Roman wegen all dieser Eigenschaften als die typische Kunstgattung der „Moderne“ vor, weshalb sie den Terminus romantisch selbstverständlich auf ihre eigenen Produktionen anwendeten. Charakteristische Weise hat es den romantischen Roman dann nie gegeben. Die Lucinde ist formal und inhaltlich schwach auf der Brust, im Ofterdingen fehlt es an jeglicher Verwicklung und jedem Funken Ironie (von andern Schwächen nicht zu reden; Novalis war ein besserer Philosoph als ein Dichter); der Godwi ist eine ebenso virtuose wie schülerhafte Stilübung „nach allen Regeln der Kunst“. Am ehesten dem ‚vollendeten’ Typus des romantischen Romans kommt der Kater Murr nahe – der, um das romantische Maß voll zu machen, Fragment geblieben ist; aber nicht, wie es scheinen mag, weil der Dichter die Handlungsknoten nicht mehr zu entwirren wusste, sondern weil er – mit der Auflösung fertig im Kopf  -  unterm Schreiben verstorben ist.

Allerdings schrieb der Verfasser des Katers Murr schon früh: Die Musik sei „die romantischste aller Künste, da ihr Vorwurf nur das Unendliche“ ist.* 

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*) E. Th. A. Hoffmann in: Fantasie- und Nachtstücke, München 1960; S. 39 

 

Ironie ist das Wesen des Romantischen.

Dass ein gelehrtes Werk wie Rüdiger Safranskis Buch über “Romantik – eine deutsche Affäre” bis an die vorderen Plätze der Bestellerlisten vordringen konnte, war selbst schon ein Zeitzeichen! 

 Safranskis Buch präsentiert sich als das Panorama einer Epoche: der deutschen Romantik. Was die Fachkritik bemängelte, nämlich dass ihm ein bisschen der rote Faden und die besondere Pointe fehle, war sicherlich die Voraussetzung für dessen Erfolg beim großen Leserpublikum. Es werden keine schwindelerregenden Interpretationen entwickelt, kein extravagantes Garn gesponnen, sondern mit kräftigen Strichen das Bild einer geistigen Bewegung entworfen, die wie keine andere die Kultur der Deutschen bis heute geprägt hat.
 
 
Im guten oder auch in einem schlechten Sinn? 
 
Dass diese Frage eine vieltausendköpfige Leserschaft bewegen konnte, eignet sich selber zu jener besonderen Pointe, an der es Safranskis Darstellung fehlt! Wenn man es nämlich als eine Antwort auffasst auf die Frage, ob unsere Zeit für eine neue Romantik “reif” ist.

Der spezifische Charakter des Romantischen sei das Ungewisse, wird Oscar Wilde zitiert. In der voran gegangenen Epoche der Aufklärung und des Rationalismus hatte es nur “noch”-Ungewisses gegeben: Morgen schon würde es gewiss geworden sein; oder doch wenigstens gewisser. Die Romantiker, die ab 1794 in Jena auftraten, meinten hingegen, dass gerade das, worauf es am meisten ankommt, seinem Wesen nach ungewiss ist.
 
Die Grundüberzeugung vom ebenso grenzenlosen wie unaufhaltsamen Fortschreiten der Erkenntnis teilen die positiven Wissenschaften mit dem Rationalismus, und müssen es. Sie haben den Siegeszug der Großen Industrie ermöglicht, dem die romantische Ungewissheit nicht lange widerstehen konnte. Dennoch war die romantische Grundhaltung der wesentlichen Ungewissheit das Moderne an der Moderne. Das positivistische Selbstvertrauen des Industriezeitalters war eine kostspielige Täuschung.
 
Wir stehen am Ende des industriellen Zeitalters und wissen nicht, was nachher kommt. Mehr Ungewissheit war nie. Kein Wunder, dass das Romantische neue Zuwendung findet. 
 
“Anything goes”?!
 
Die ‘Postmoderne’, die uns die wieder wachsenden Ungewissheiten der Welt zu einer permanenten Casting-Show verharmlosen wollte, hat fertig. Das Ungewisse ist eine ernste Sache. 

Aber nur mit Ernst, nur in Ungewissheit lässt sich das Leben nicht aushalten. Würde ich tatsächlich an Allem und Jedem zweifeln, das mir begegnet, würde ich kaum die nächste Viertelstunde über die Runden bringen. “Wohl wissend”, dass ich in einer Welt lebe, in der “nichts gewiss” ist, muss ich doch immer so tun, als ob.  Und das Bewusstsein davon, dass dies so ist, nannten die Romantiker Ironie.   

Der im Alltag eingerichtete Normalmensch, der seinen Geschäften nachgeht und auf seinen Vorteil achtet – wissend, dass, wer nehmen will, auch geben muss -; also derjenige, den die Romantiker einen Philister nannten: der kennt Ironie nur als ein Stilmittel, das ihm gelegentlich gute Dienste leistet. Der hält sich unter der Woche die Ungewissheiten auch sorgsam vom Hals und hebt sie auf für die Rateshow am Samstagabend (und es ist wahr, ihrer sind noch viele). Ironie verwenden sie nur als List, und darum misstrauen sie ihr bei allen Andern. 

Romantische Ironie ist aber eine Weltsicht. Im Wortlaut der Sätze muss sie sich gar nicht zu erkennen geben. Sie ist vielmehr die Folie, vor der sie überhaupt erst ihren… na ja, ihren “Sinn” erhalten, der eben nicht Ja ja, nein nein lautet, sondern sozusagen “in der Schwebe” ist. Und fragt man: “Meinst du das ernst?”, dann heißt es: “Wie man’s nimmt.” Den alltäglichen Verkehr erleichtert es nicht. Das war auch nicht der Ehrgeiz der Romantiker. Denn die Ungewissheit war ihnen ja nicht nur Verlust an Berechenbarkeit – den begrüßten sie gar noch! Sie war ihnen vor allem: der Gewinn neuer Möglichkeiten. Und die fangen immer erst einmal mit neuen Denkmöglichkeiten an:
 
“Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es”, lautet ein Satz von Novalis, den Safranski immer wieder zitiert. Und als den vollendeten dichterischen Vertreter dieser Ironie (die Theoretiker waren Novalis und Fr. Schlegel) nennt er völlig richtig E.T.A. Hoffmann, bei dem ein Archivarius auch mal als Salamander und eine Alraune auch als Minister auftritt. Es ist nicht so; aber wenn es so wäre?
  
Es ist witzig. Aber ist es Scherz und Laune? “Witz ist eine ernste Sache”, sagte Johann Gottlieb Fichte, in Jena der philosophische Leuchtturm der frühen, der wahren Romantik. Denn wer immer es ganz, ganz ernst nimmt mit den Sachen, findet “im Grunde” – wenn überhaupt – nur ein Paradox. Was ist ‘das Wahre’? “Wie sollte nicht jeder Satz über das Absolute und Transzendente nur unter ironischem Vorbehalt gesprochen werden dürfen? Endliches zu sagen [andere Wörter haben wir ja nicht, J.E.] über das Unendliche kann und darf nur ironisch sein. Ironie gehört deshalb in jede Philosophie, die das Ganze zu begreifen versucht”, schreibt Safranski, und schließt mit dieser Frage Friedrich Schlegels: “Ist sie nicht wirklich die innerste Mysterie der kritischen Philosophie?” 
  
Bei der Epoche, die derzeit untergeht, handelt es sich nicht bloß um zweihundert Jahre Kapitalismus und Industriezeitalter. Das Eindringen der Neuen Medien und Informationstechniken in die materiellen Fertigungsvorgänge selbst kündigt das Ende von zehn-, zwölftausend Jahren Arbeitsgesellschaft an. Doch wie bei den alten Griechen zwischen zwei Tragödien zur Erholung eine Komödie geschoben wurde, haben wir zunächst einmal die Farce der “Postmoderne” erlebt. Da war nur Geistreichelei und keine Ironie – die wäre ihr “zu ernst” gewesen. Die Frage nach dem Wahren führt nämlich erst dann in ein Paradox, das nur in Ironie zu ertragen ist, wenn man sie sich stellt. 

In diesem Sinne – dass die Zeitenwende, die auf uns zu kommt, ernst genug wird, um uns zu der Frage nach dem Wahren zu veranlassen, für deren paradoxalen Gang wir uns schon jetzt in Ironie rüsten sollten – glaube ich wirklich, dass uns eine “neue Romantik” und, wenn man es so will, eine Neue Moderne bevor steht.
    
Und weil wir Deutschen eben eine romantische, will sagen zwiespältige und paradoxale Nation sind, müssen wir uns vielleicht wieder einmal hervor tun.





Zwiespalt ist unser Nationalcharakter


Romantik ist allerdings “eine deutsche Affäre”, denn nirgends ist Ironie so nötig und in der Geschichte so gegenwärtig, wie bei uns! 

Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was ‘das Deutsche’ sei, war daher immer umstritten. Was hat nicht alles schon – und mit demselben Recht! – als “typisch deutsch” gegolten: Pedanterie und Überschwang, Plumpheit und Poesie, Innerlichkeit und Aggression, gemütliches Selbstgefallen und himmelstürmender Größenwahn, Tiefsinn und Technik, Dumpfheit und Dialektik, Romantik und Realpolitik, der gottergebene Fleiß des Ackerviehs ebenso wie faustisches Genie; Beamtendünkel und versonnene Philosophen, Kunst und Ursprung, Dämon und Philister; Weltanschauung und Schrebergarten, Todesverachtung und Vollwertkost. Aber alles gründlich! 

Gegensätze gibt es wohl auch bei den andern. Doch als typisch wird dort jeweils nur eins von beiden gelten. Bloß für uns sind die zwei Extreme immer gleich-charakteristisch: “Dass der Deutsche doch alles zum Äußersten treibet / Für Natur und Vernunft selbst, die nüchterne, schwärmt!” heißt es in Goethes Zahmen Xenien, und die zwei Seelen, ach, in seiner Brust kann ein Deutscher gar nicht mehr nennen, ohne dass es abgedroschen klingt. ‘Das Deutsche’ ist immer auch… das Gegenteil; seinem Wesen nach offenbar unbestimmt, aber das mit aller Schärfe.
 
Die andern großen Nationen schauen sich selbst in einem lebendigen verbindlichen Menschenbild an, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der englische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneervereinigt den beengten Blickauf den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts.

Die tausendfach zersplitterten Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervorgebracht, und zu ihrem legitimen Repräsentanten stieg er eben nach dem dreißigjährigen Krieg auf! Michel ist das anschauliche Symbol für die Verspätung der deutschen Nationwerdung. Er verkörpert die Selbst- verachtung und das Selbstmitleid der Deutschen, er ist eine Negativfigur, derer man sich schämen muss.

Kein Wunder! Denn die Bildung eines Volkes zur Nation ist Sache eines um seinen freien Inneren Markt siegreich kämpfenden Bürgertums. Es waren aber die deutschen Städte, die vom dreißigjährigen Krieg verwüstet und entvölkert waren. Was an Bürger- tum übrig war, duckte sich ängstlich unter den Stand der Duodez-”Reichsfürsten”, denen eine deutsche Nation ein Gräuel war. Das Problem der deutschen Verspätung war das Problem unserer rachitischen Bourgeoisie. An Emanzipation war nicht zu denken, als höchstes Lebensziel konnte unser Bürger davon träumen, “bei Hofe zugelassen” zu werden. Und wie ging das? Durch Anbiederung an das höfische Beamtentum. Und das Mittel dazu war Bildung! In den Salons, in den Theatern, Museen und Musiksälen konnten sich deutsche Bürger “gleichrangig” fühlen mit den Edelleuten, und – wer weiß? – vielleicht wurde man wie Goethe und Schiller sogar geadelt. Bildung war der deutsche Ersatz für bürgerliche Befreiung.
 
Genau 200 Jahre nach dem westfälischen Frieden hat dann die Pariser Juniinsurrektion dem Professorenparlament in der Paulskirche einen solchen Schrecken eingejagt vor der “roten” Revolution, dass unserer Bourgeoisie nichts anderes übrig blieb, als unter Bismarck dem preußischen Leutnant die Stiefel zu küssen. Das waren unsere Nationaltypen: der preußische Leutnant und der deutsche Professor, und dazwischen – wankend – der Korpsbursche; Vater, Sohn und hl. Geist: die Dreieinigkeit des deutschen Gesamtphilisteriums.
 
Dagegen erwuchs vor guten hundert Jahren der Wandervogel, der zur Jugendbewegung ausuferte, zu der Jugendbewegung, die das Beiwort “deutsch” nicht braucht, weil sie sowieso einzig war. Sie knüpfte direkt und ausdrücklich an die Romantik an, und Ironie war ihr neben der Blauen Blume – wer weiß das schon noch? – gar nicht fremd; war doch ihr Ideal das vogelfreie Fahrende Volk, “ehrlos bis unter den Boden”!

Denn katzbuckelnde Spießer, rüpelnde Leutnants und dün- kelhafte Akademiker waren nie das ganze Deutschland. Nur – während die kraft- strotzenden Bourge- oisien der andern Nationen ihre produktive Energie frei in ihre Tagesgeschäfte verausgaben konnten, musste das gedemütigte niedere Volk in Deutschland seinen Drang gegen sich selber kehren, musste ‘das Ich sich setzen, indem es sich sich-selbst als Nicht-Ich entgegensetzt’! Später sollte Marx spotten, bei den Deutschen fänden Revolutionen immer nur im Geiste statt. Aber immerhin – dort fanden sie statt; statter als sonst wo!
 
Nein, der deutsche Michel ist nicht das ganze Deutschland. Dazu gehören noch Kant und Fichte, Marx und Engels, Schopenhauer und Nietzsche – lauter, mit Verlaub, radikale Denker! Diese Radikalität ist sicher nicht für jeden Deutschen typisch geworden. Aber sie kommt doch nur bei uns vor. Nämlich immer da, wo sich deutscher Tiefsinn mit abendländischem Scharfsinn paart.
 
Auch der Hang zu Endlösungen stammt freilich aus dieser Mischung, er vereint Radikalität mit Pedanterie, und das nennt er gründlich. Aber da liegt der Abgrund: Er vereint! Wirft sie zusammen in einen Topf und verrührt sie zu einer trägen Masse. Sie gehören zusammen, allerdings – aber so wie Licht und Schatten, nicht als Grauton, sondern als Spannung, als Konflikt. Und das macht uns wiederum noch ein bisschen abendländischer als unsere Nachbarn.  
Selbstverständlichkeit kennzeichnet nämlich nicht den Reichtum abendländischer Kultur, sondern die Fülle ihrer konkurrierenden Werte. Die reichste Kultur ist eine solche, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht – im Meinungskampf der Öffentlichkeit. Es sind die Problematizität und der Widerstreit mannigfaltiger Gebote, die dieser Kultur ihren Tonus verleiht und dem Einzelnen die eigne Wahl, nämlich eine persönliche Bildung (da ist sie wieder!) zumutet. Das gibt es nur im Abendland, und in diesem Sinne kann man sagen, nirgends sei das Abendland abendländischer als zwischen Rhein und Oder, zwischen Baum und Borke; bei uns. Da, wo alles, was gilt, stets voll und ganz gelten will, und sich ipso facto in der Schwebe hält. Ich sage nicht, dass jeder Deutsche zum Ironiker taugt, ach herrje. Aber die deutsche Kultur als Ganze, ich meine: als ganzer Strom, ist selbst ironisch. Wenigstens, wenn man sie mit Abstand betrachtet.   

Aber dann – ja, dann wird man selbst zum Ironiker.

September bis November 2008