Mittwoch, 9. April 2014

Hartmann Schedels Weltchronik.

aus NZZ, 19. 2. 2014

Das Wissen und die Bilder
Hartmann Schedels «Weltchronik» von 1493 in einer neuen, prächtigen Edition

von Urs Hafner · Der Blick kann sich kaum lösen von den unzähligen, prägnanten Bildern, von den mittelalterlichen Stadtlandschaften mit ihren Kirchtürmen und Mauern, von den gekrönten Königen und den gepeinigten Heiligen. Hier fliegt ein Komet durch den Himmel, dort breitet sich eine Weltkarte aus (ohne Amerika), drei Sonnen scheinen, ein Liebespaar hält sich umschlungen. Und je briefmarkengross treten phantastische Menschenwesen auf. Eines trägt einen Hundekopf, ein anderes Ohren, die bis zum Boden reichen, wieder ein anderes besitzt nur ein Bein, das in einem riesigen Fuss endet. Eines ist ein Zwitterwesen: Die eine Hälfte des Haupts ist bärtig, die andere glatt, doch von Lockenhaar umrankt; die eine Brust flach, die andere apart gewölbt. Und die Genitalien? Sie sind verdeckt durch eine Hand. «Ettlich sind bederlay geslechts. Die recht prust ist in manlich und die lingk weibisch und vermischen sich undereinand un gepern», so wird die Darstellung kommentiert. Auch dem Verfasser scheint nicht klar zu sein, wie die Vermehrung der geschlechtlich akkurat zweigeteilten Wesen anatomisch vor sich gehen soll. Die Fabelwesen, erläutert der Text weiter, gebe es tatsächlich, wie Plinius und Augustinus schrieben, nämlich in Indien, Libyen, Äthiopien und auf Sizilien. - Die Kulturwissenschaften haben es in den letzten Jahren immer wieder und gern gesagt: Ins Fremde projizieren die Europäer ihre Ängste und Obsessionen; in den aussereuropäischen Gegenden, besonders im schwarzen Afrika, nimmt Gestalt an, was im Abendland nicht sein darf. Das war offenbar schon 1493 der Fall. In diesem Jahr erschien in Nürnberg Hartmann Schedels enzyklopädische «Weltchronik», eines der hervorragenden Werke der frühen Buchdruckkunst.


Sieben Tage, sieben Bücher

Der Bibel folgend, erzählt die Chronik auf rund sechshundert Seiten die Geschichte der Welt in sieben Büchern, von ihrer Schöpfung über die Sintflut, die Geburt Abrahams, das Reich Davids und Jesu Geburt bis in die Gegenwart; das Werk endet mit der bevorstehenden Ankunft des Teufels und dem Jüngsten Gericht. Der Deutungshorizont der Chronik ist freilich nicht rein christlich. Als ein Produkt des gelehrten Humanismus integriert sie auch Quellen der römischen und griechischen Antike, zeitgenössische norditalienische Autoren, säkulare Geschichten, Philosophisches, Medizinisches und allerlei phantastische Geschehnisse.



Von der deutschen Ausgabe der «Weltchronik» erschienen etwa siebenhundert Stück, von der lateinischen Originalausgabe eintausendvierhundert. Erhalten geblieben sind rund achthundert Exemplare. Kürzlich wurden bei einer Versteigerung in London 570 000 Euro für ein Exemplar bezahlt. Jetzt ist die Enzyklopädie - nach 2001 - wieder deutlich günstiger zu haben, wenn auch nicht im Original. Der Kölner Taschen-Verlag bringt den - in China hergestellten - Nachdruck eines «der am besten kolorierten und vollständigen Exemplare» aus dem Bestand der Weimarer Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek auf den Markt - für knapp sechzig Franken.


Der stattliche Band bereitet vor allem optisch Freude. Nicht nur die expressiven, leuchtenden Holzschnitte, sondern auch die dicht gesetzten gotischen Lettern, deren Majuskeln zuweilen rot unterlegt sind, zeugen von einem ästhetischen Programm, das auch im 21. Jahrhundert besticht. Der Text- und der Bildteil klar voneinander abgegrenzt - die Holzschnitte konnten aus technischen Gründen erst eingefügt werden, nachdem die Buchstaben gedruckt waren -, dazwischen freie, weisse Flächen: Noch immer zeichnet sich ein gutes Layout durch die geschickte Komposition dieser drei Elemente aus.


 
Zu lesen allerdings ist die Chronik nicht einfach, auch wenn die Bilder das Verständnis der Texte erleichtern, indem sie das behandelte Sujet anzeigen. Manche Worte bleiben dem Laien unverständlich, für viele der Themen und Personen fehlt ihm das Kontextwissen. Eine Hilfe zwar nicht für die Entschlüsselung einzelner Texte, aber für die Verortung des gesamten Werks bietet der der «Weltchronik» beiliegende umfangreiche Kommentar des Buchwissenschafters Stephan Füssel. Er liefert fast jede erdenkliche Information über die Entstehung der Chronik und ihre Verfasser, die in Nürnberg, um 1500 ein Zentrum des Humanismus und des Buchdrucks, wirkten.


Und die Ordnung? 

Hartmann Schedel, Arzt, Gelehrter (er habe als einer der ersten deutschen Studenten Griechisch erlernt) und Kopf des wirtschaftlich defizitären Unternehmens, an dem allein für die über eintausendachthundert Abbildungen rund hundert Setzer und Drucker über ein Jahr lang an achtzehn Pressen gearbeitet haben sollen (vielleicht auch der junge Albrecht Dürer), trug zusammen mit den anderen «Autoren» der Enzyklopädie nicht eigenes Wissen zusammen, sondern kompilierte die damals zugänglichen Texte. Biblische Aussagen und antike Theorien stehen nebeneinander und widersprechen einander mitunter, etwa in Bezug auf die Entstehung der Welt.


Dies störte jedoch die Gelehrten und Leser der Renaissancekultur nicht. Für sie hatte «Wissen» eine andere Bedeutung als in der Moderne - nur: welche? Über die Ordnung des Wissens in der «Weltchronik», die dem heutigen Leser trotz der biblisch orientierten Gliederung des Stoffs primär als Unordnung erscheint, würde man im Kommentar gern mehr erfahren, doch der beschränkt sich hauptsächlich auf technische Angaben.

Hartmann Schedel: Weltchronik 1493. Kolorierte Gesamtausgabe. Nach dem Original der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, Weimar. Herausgegeben und kommentiert von Stephan Füssel. Taschen, Köln 2013. 680 S. und 88 S. (Kommentar), Fr. 59.90.

 

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