Sonntag, 5. Oktober 2014

Demokratie weshalb?

Ostrazismus* 

Was ist  der Vorzug der Demokratie vor anderen Regierungsformen?

Wer irgend mit gesundem Menschenverstand (sensus communis) begabt ist, wird auf die Frage Wer soll regieren? un-fehlbar die Antwort geben: der am besten dazu geeignet ist.* Das eigentliche Problem war und bleibt immer: Wer entscheidet darüber, wer die Besten sind - wenn nicht die Besten selber? 

Es ist die Quadratur des Zirkels, landläufig: Die Katze beißt sich in den Schwanz. Denn dass die relativ größere Weisheit stets bei dem relativ größeren Haufen wäre, wird kein verständiger Mann behaupten wollen. Eher darf man annehmen, dass die höhere Weisheit in den meisten Fällen bei einer Minderheit liegt. Das Kreuz ist nur: Man weiß nie im voraus, bei welcher. 

Unter diesen Gesichtspunkten ist die Herrschaft der Volksmehrheit, wie seit Plato bekannt ist, sogar eine ganz besonders unkluge Regierungsform. Sie ist nur dadurch zu rechtfertigen, dass einerseits kein gesellschaftliches Korps a priori zu bevorrechten ist, und dass sie anderersits erlaubt, die Mehrheiten auszuwechseln  so dass Minderheiten ihrerseits an die Macht kommen können. Und dieses dann und darum, wenn und weil sich die bislang machthaben-de Partei als weniger geeignet erwiesen hat, als eine Mehrheit zuvor glaubte: Man kann es mit einer anderen noch einmal versuchen. Die Voraussetzung ist: die Repräsentation der Meinungen durch Parteien, und die Periodizität der Mandate. Und das alles ganz prosaisch und pragmatisch, ohne Glanz und Pathos, weil es sich von allen Regie-rungsformen als die dem Gemeinwohl am wenigsten schädliche bewährt hat. Demokratie ist kein Ideal, sondern das erwiesenermaßen kleinste Übel. 

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Das demokratische Gleichheitsgebot beruht nur redensartlich auf den von Gott oder der Natur verliehenen ewig unveräußerlichen Rechten einer jeden Person. Pragmatisch beruht es darauf, dass nach vernünftigen Maßstäben keiner von vornherein einem andern vorgezogen oder ihm hintangesetzt werden kann - und was für die zu Wählen-den gilt, tut es für die Wähler nicht minder.

Und dass ein jeder nach unverkürzter Selbstverwirklichung strebt, ist kein unmittelbarer, sondern erst ein abgeleite-ter Grund politischer Gleichheit. Unmittelbar ist es ein Privatanliegen ohne öffentliche Geltung. Erst wenn man aus anderen, eben: pragmatischen Gründen die demokratische Staatsform als die verhältnismäßig zweckmäßigste schon gewählt hat, kommt sekundär der Gesichtspunkt in Betracht, dass diese Verfahrensweise besser funktioniert, wenn die öffentlichen Angelegenheit von den Staatsbürgern nicht als lästige Pflicht, sondern als ihr ureigenster Beruf angesehen werden. Doch das ist keine Lösung, sondern das Problem selbst. Aber ein politisches Problem und keines der ausgefeilten Verfahrensweise. 

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Dieses sind die tatsächlichen, sachlichen Gründe dafür, eine demokratische Staatsverfassung zu wählen. Es sind zugleich die Gründe für die Ausbildung politischer Parteien. Eine Partei ist eine Körperschaft, die vor die Wähler hintritt und sagt: Die Besseren, um euch zu regieren, sind wir. Besser in Hinblick worauf? In Hinblick auf die Kompetenz zur Vertretung. Historisch unterscheidet man zwischen Interessenparteien und Programmparteien. Während die Tories im englischen Unterhaus die Interessen des Hochadels vertraten, sammelten sich bei den Whigs die Vertreter des Kleinadels und des Bürgertums.

Die sozialistischen Parteien traten später als Interessenvertreter der Arbeiterklasse auf, aber zugleich als Reprä-sentanten eines Programms, der Gesellschaft der Freien und Gleichen: Was heute noch unmittelbar Interesse der Arbeiterschaft sei, wären auf lange Sicht die Interessen der Ganzen Menschheit. Und während heute eine Partei die Interessen der Besserverdienenden oder der Hoteliers und der Zahnärzte zu vertreten beansprucht, verschreibt sich eine andere der Bewahrung der Schöpfung und den Anliegen der höheren Staatsdiener und der gebildeten Mittel-schicht. Und schließlich tritt eine Partei auf, die alle konstituierten Interessen als Residuen einer verfließenden industriellen Zivilisation betrachtet und die Ausgestaltung der digitalen Gesellschaft zu ihrem Programm macht – wiederum im Interesse Aller, aber unmittelbar zum Vorteil der kreativen Prekariats in der IT-Branche.**

Doch ob Interesse oder Programm: in jedem Fall vertreten sie, und das ist es, woran sie gemessen zu werden bean-spruchen. Und daran kann man sie messen: nämlich nachdem man sie eine Weile hat agieren sehen. Und aus diesem Grund treten auch in ihrem Innern nicht alle als gleich-berechtigt auf (und lösen einander turnusmäßig bei den leitenden Tätigkeiten ab), sondern der eine oder die andre sagt: Ich kann es besser als dieser oder jener. Besser nämlich in Hinblick auf die Vertretung – der Interessen und des Programms. Und auch das können alle – nämlich alle, die dieser Partei angehören – beurteilen: nachdem man sie eine Weile hat machen lassen.

Nachdem man sich darüber einmal verständigt hat, kommt fernerhin in Betracht, dass sich "ein jeder einbringen kann": nämlich weil es für die Partei besser ist, wenn alle den Parteizweck als ihre ureigenste Sache auffassen können, als wenn nur ein paar die Partei zum Vehikel ihrer persönlich Ambitionen machen.

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Die praktischen Nutzanwendungen aus alledem ergeben sich wie von selbst.


*) Die kokette Antwort Keine Macht für niemand braucht hier nicht erörtert zu werden, solange sie, nämlich unter sonst unverändert bleibenden Bedingungen, nur die Macht der jeweils Stärkeren bedeutet 
 und wenn es selbst "das Volk" wäre.
**) (geschrieben im Jahre des Herrn 2011)



*) Foto von Gösta Hellner; Ostraka aus dem Kerameikos, Deutsches Archäologisches Institut Athen, 1963
 

1 Kommentar:

  1. Herr Ebmeier,
    bitte fügen Sie beim Farbphoto vom Ostrakismus die Informationen des Photographen hinzu: Gösta Hellner, Ostraka aus dem Kerameikos, Deutsches Archäologisches Institut Athen, 1963

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