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aus Tagesspiegel.de, 29. 6. 15, 08:48 Uhr
Sonderschau zum "Steinzeittraktor"
Antrieb für die frühe Landwirtschaft
Von Mathias Orgeldinger
Die Erfindung des Rades,* so heißt es, sei eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit. Was jedoch oft verdrängt wird: Der entscheidende Kulturschub kam erst durch die Nutzung der tierischen Zugkraft. Wer zwei Rinder vor einen Hakenpflug spannt, vergrößert die Ackerfläche, die er bisher mit dem Grabstock aufgebrochen hat, um den Faktor 100. „Der große Fortschritt bestand darin, Tiere so zu bändigen, dass sie zum Traktor wurden“, sagt der Archäologe Bernd Zich vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle/Saale. Die folgenschwere Geschichte von der „Erfindung des Traktors“ ist derzeit in einer Sonderausstellung in der „Arche Nebra“, dem Museum am Fundort der Himmelsscheibe zu sehen. Sie spannt einen Bogen vom Rindergespann der Jungsteinzeit bis zum klimatisierten Hochleistungstraktor unserer Tage.
Großformatige Comicbilder führen den Besucher von einem Aha-Erlebnis zum nächsten. War es wirklich die Liebe, die den Stier zum Pflügen brachte? Oder nur die viel beschworene Bauernschläue? Ist es ratsam, die Ochsen nach getaner Arbeit zu massieren? Zugegeben, die Ausstellungsmacher werden nicht alle Fragen beantworten, die sie mit einem Augenzwinkern gestellt haben. Aber das Nachdenken über den „Steinzeittrecker“ könnte zu einer der wenig beachteten Wurzeln unserer Kultur führen. Wie grundlegend ist die Ernährung, und wie wenig sind wir gerade in Deutschland bereit, dafür zu zahlen?
Bauern aus dem heutigen Ungarn drangen ins Land der Jäger und Sammler vor
Die Geschichte des Ackerbaus in Mitteleuropa ist schnell erzählt. Um 5500 v. Chr. trafen Bauern aus der ungarischen Tiefebene auf die einheimischen Jäger und Sammler. Sie brachten domestizierte Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen mit, sowie Emmer, Einkorn, Linsen und Erbsen. Vermutlich auch Infektionskrankheiten, die sich aus dem engen Kontakt von Mensch und Haustier entwickelt hatten. Die Einwanderer aus dem Osten lebten in 40 Meter langen Häusern und kochten Getreidebrei in verziertem Tongeschirr, das der Kultur ihren Namen gab: „Linienbandkeramik“. Leider erzählen die Scherben nicht, ob die Migranten von der einheimischen Bevölkerung angefeindet, ignoriert oder bewundert wurden.
Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. zwangen die Menschen erstmals Rinder unter das Joch. Vermutlich fanden sie auch schnell heraus, dass man einen wilden Stier mittels Kastration zum zahmen Ochsen machen kann, und dass Herdentiere nicht gern allein unterwegs sind. Rasch setzten sich Rindergespanne durch. Sie zogen eine Stangenschleife (den Urahn eines Wagens, noch ohne Rad), einen einfachen Wagen oder einen Hakenpflug. Dieser kann den Boden allerdings nicht wenden, sondern nur Furchen ziehen. Um die Erde vollständig aufzulockern, musste das Feld rechtwinklig zu den Furchen ein zweites Mal gepflügt werden. Das dabei entstehende Schachbrettmuster wurde bei Ausgrabungen von prähistorischen Ackerflächen nachgewiesen.
Zwei Ochsen unterm Joch - ein wertvolles Kunstwerk, ein Kultgegenstand?
Weil die Rindergespanne das bäuerliche Leben nachhaltig veränderten, hielten sie Einzug in die religiöse Vorstellungswelt. So fand man im polnischen Bytyn die plastische Darstellung zweier Rinder, die durch ein starres Nackenjoch verbunden sind. Die stilisierten Zugtiere bestehen aus Kupfer, einem Material, das Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. in Mitteleuropa noch so wertvoll war, dass es in der Regel kultischen Gegenständen vorbehalten blieb. In Nordeuropa legte man „Wagengräber“ mit Rindergespannen und Radfahrzeugen an – und zudem mehr als 25 000 Megalithgräber, bei deren Bau oft tonnenschwere Steine bewegt wurden. Auch sie sind ein Beleg für die wachsende Bedeutung der „Rindertraktion“.
Erst mit der Erfindung des Verbrennungsmotors bekamen Zugtiere in der Landwirtschaft ernsthafte Konkurrenz. Der „Fordson F“, von Henry Ford ab 1917 in Serienproduktion hergestellt, gilt bis heute als der meistverkaufte Traktor der Welt. Stellvertretend für die „Trecker-Evolution“ sind im Foyer der Arche Nebra drei Oldtimer ausgestellt, darunter der „Lanz Acker-Bulldog HR 7“.
Die Sonderausstellung ist noch bis zum 1. November zu sehen in der „Arche Nebra“, An der Steinklöbe 16, 06642 Nebra. Weitere Informationen finden Sie hier.
Nota. - Seine umwälzende Bedeutung hat das Rad erst im 19. Jahrhundert durch seine Verbindung mit der Dampfmaschine und eisernen Gleisen, sowie im 20. Jahrhundert durch das Automobil gewonnen: Zuvor gab es gar nicht genügend befestigte Wege, die den umfassenden Einsatz von Radfahrzeugen erlaubt hätten. Der wichtigste Transportweg blieb das Wasser. Erst die große Industrie des 19. Jahrhunderts hat Eisenbahnnetze und Straßenbau im großen Maßstab ermöglicht.
JE
Montag, 29. Juni 2015
Montag, 22. Juni 2015
Wo das Neolithikum nach Europa kam.
aus Der Standard, Wien, 15. 6. 2015 Tonmodell eines Wagens
Im meterdicken Schutt der Jahrtausende
Archäologen der Akademie der Wissenschaften erforschen jungsteinzeitliche Fundstücke aus der griechischen Provinz Thessalien
von Kurt de Swaaf
Die gute Versorgungslage wirkte sich natürlich auch auf das Bevölkerungswachstum aus. "Thessalien war zu der Zeit eine der am dichtesten besiedelten Landschaften", sagt Alram-Stern. Die jungsteinzeitlichen Siedlungen lagen zum Teil nur zwei, drei Kilometer voneinander entfernt - ähnlich wie heutige Dörfer. Bisherigen archäologischen Untersuchungen zufolge lebten die neolithischen Thessalier in zwei unterschiedlichen Bebauungstypen. Zum einen gab es Flachsiedlungen mit eher verstreut stehenden Häusern und dazwischenliegenden Freiflächen, die wahrscheinlich landwirtschaftlich genutzt wurden. Gleichzeitig jedoch kamen auch stark verdichtete Dorfstrukturen vor. Man baute über Jahrtausende hinweg an derselben Stelle. So entstanden "Magulen", Siedlungshügel, wie die eingangs erwähnte Erhebung unweit der Schnellstraße E92.
Die Platia Magula Zarkou genannte Fundstelle wurde 1976 zum ersten Mal unter den Spaten genommen. In der Nähe hatten Arbeiter beim Ausheben eines Bewässerungskanals ein Gräberfeld freigelegt, nun wollten Experten auch den Hügel genauer erkunden. Die Grabungen brachten eine Fülle faszinierender Artefakte zutage: Keramik, Steinwerkzeuge, Tierknochen, Schmuck, verkohlte Pflanzenreste und einiges mehr. Ein wissenschaftlicher Schatz von unschätzbarem Wert. Das seltsamste Zeugnis neolithischer Kultur fanden die Forscher unter der Bodenplatte eines ehemaligen Gebäudes: ein Hausmodell aus Ton, inklusive kleiner Statuetten. Sogar ein Ofen und andere Einrichtungsstücke sind vorhanden. Die Figuren sollen wohl eine Familie mit mehreren Generationen darstellen. Vermutlich war das Ensemble eine Art kommunaler Opfergabe, meint Alram-Stern.
Die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätige Archäologin arbeitet zurzeit an einer umfassenden Analyse der Fundstücke von Platia Magula Zarkou. Das Material wurde bislang noch nicht in seinem Gesamtkontext untersucht. Ziel der vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Studie ist, einen besseren Einblick in den neolithischen Kulturwandel zu bekommen.
Wohnstätten aus Lehmziegeln
Die ersten Siedler haben sich zirka 6000 vor Christus am Ort niedergelassen. Danach war der Platz bis in die Bronzezeit hinein mit nur einer Unterbrechung fast ständig bewohnt. Die dabei entstandenen Schichten aus Schutt und Abfällen sind insgesamt zehn Meter mächtig, sagt Alram-Stern. Warum die Siedlung letztlich aufgegeben wurde, ist unbekannt.
Ihre Wohnstätten bauten die Ur-Thessalier aus luftgetrockneten Lehmziegeln. Der Grundriss war lange Zeit quadratisch, im Inneren standen ein bis zwei Räume zur Verfügung. Vereinzelt wurden allerdings auch schon zweistöckige Häuser errichtet. Die Dächer, berichtet Alram-Stern, scheinen aus Schilf gewesen zu sein. Kein Wunder, dürfte doch dieser Rohstoff an den Ufern des ganz in der Nähe fließenden Pineios reichlich zur Verfügung gestanden haben.
Der Fluss lieferte auch die Grundlage für das Töpfergewerbe. Dicke Sedimentschichten dienten als Tongruben. Platia Magula Zarkou war offenbar ein Zentrum der jungsteinzeitlichen Keramikherstellung. Erste Untersuchungen der vor Ort gefundenen Scherben und Produktionsabfälle zeigen die Fabrikation mehrerer verschiedener Typen auf. Eine zentrale Rolle spielte die im Spätneolithikum hergestellte "Grauware". Diese meist kleinen, tassenähnlichen Henkelgefäße wurden nicht nur an anderen archäologischen Fundorten in Thessalien nachgewiesen, sondern auch im nordgriechischen Mazedonien - anscheinend ein Exportprodukt.
Keramik und Steinwerkzeuge
Zusammen mit ihrer Kollegin und Experten der niederländischen Universität Leiden will Alram-Stern den Herstellungsprozess der Keramik von Platia Magula Zarkou nachvollziehen. Kein einfaches Unterfangen, denn unterm Mikroskop zeigen sich deutliche Unterschiede in Textur und Zusammensetzung des verwendeten Materials. Jeder Töpfer hatte vermutlich seine eigenen Mixturen und Verfahren, meint Alram-Stern. Eine Methode, diese zu rekonstruieren, ist das erneute Brennen von Scherben. Verändert sich zum Beispiel deren innere Struktur bei mehr als 850 °C, wurde das Stück ursprünglich bei dieser Temperatur gebrannt. Noch stärkere Erhitzung lässt zudem auf die Verwendung von speziellen Töpferöfen anstelle von offenen Brenngruben schließen.
Weitere interessante Forschungsobjekte sind die zahlreichen geborgenen Steinwerkzeuge. Die meisten von ihnen wurden aus braunem Feuerstein gefertigt, manche jedoch aus Obsidian, welches sich leichter zu geraden Klingen verarbeiten lässt. Feuerstein war in den Bergen des Landesinneren vorhanden, Obsidian dagegen musste von der Insel Milos herbeigeschafft werden - mit Booten, dutzende Seemeilen weit über die Ägäis.
Von Anatolien über die Ägäis nach Thessalien
Im meterdicken Schutt der Jahrtausende
Archäologen der Akademie der Wissenschaften erforschen jungsteinzeitliche Fundstücke aus der griechischen Provinz Thessalien
von Kurt de Swaaf
Wien - Besonders auffällig ist sie nicht: eine flache Erhebung inmitten einer unspektakulären Landschaft. Doch wer genauer hinschaut, könnte ahnen, dass sein Blick auf etwas Ungewöhnlichem ruht. Rundherum erstrecken sich Felder, ein paar hundert Meter weiter nach Norden rauscht der Verkehr über eine Schnellstraße. Agrarland, umringt von Bergen. Die Erde hier ist sehr fruchtbar, erklärt die Archäologin Eva Alram-Stern. Das Gebiet gilt als eine der Kornkammern Griechenlands.
Das ist gewiss nichts Neues. Fast nirgendwo in Europa dürfte die Landwirtschaft eine so lange Tradition haben wie hier in Thessalien, auf der Schwemmebene des Flusses Pineios. Schon während der Jungsteinzeit beackerten die ersten Bauern die hiesigen Schollen. Die sogenannte Neolithisierung, der Wechsel von Jäger- und Sammlergesellschaften zu einer auf Agrikultur basierenden Lebensweise, setzte in dieser Region besonders früh ein. Erstklassige Böden, ein mildes Klima und genug Wasser - beste Grundvoraussetzungen eben.
Die gute Versorgungslage wirkte sich natürlich auch auf das Bevölkerungswachstum aus. "Thessalien war zu der Zeit eine der am dichtesten besiedelten Landschaften", sagt Alram-Stern. Die jungsteinzeitlichen Siedlungen lagen zum Teil nur zwei, drei Kilometer voneinander entfernt - ähnlich wie heutige Dörfer. Bisherigen archäologischen Untersuchungen zufolge lebten die neolithischen Thessalier in zwei unterschiedlichen Bebauungstypen. Zum einen gab es Flachsiedlungen mit eher verstreut stehenden Häusern und dazwischenliegenden Freiflächen, die wahrscheinlich landwirtschaftlich genutzt wurden. Gleichzeitig jedoch kamen auch stark verdichtete Dorfstrukturen vor. Man baute über Jahrtausende hinweg an derselben Stelle. So entstanden "Magulen", Siedlungshügel, wie die eingangs erwähnte Erhebung unweit der Schnellstraße E92.
Die Platia Magula Zarkou genannte Fundstelle wurde 1976 zum ersten Mal unter den Spaten genommen. In der Nähe hatten Arbeiter beim Ausheben eines Bewässerungskanals ein Gräberfeld freigelegt, nun wollten Experten auch den Hügel genauer erkunden. Die Grabungen brachten eine Fülle faszinierender Artefakte zutage: Keramik, Steinwerkzeuge, Tierknochen, Schmuck, verkohlte Pflanzenreste und einiges mehr. Ein wissenschaftlicher Schatz von unschätzbarem Wert. Das seltsamste Zeugnis neolithischer Kultur fanden die Forscher unter der Bodenplatte eines ehemaligen Gebäudes: ein Hausmodell aus Ton, inklusive kleiner Statuetten. Sogar ein Ofen und andere Einrichtungsstücke sind vorhanden. Die Figuren sollen wohl eine Familie mit mehreren Generationen darstellen. Vermutlich war das Ensemble eine Art kommunaler Opfergabe, meint Alram-Stern.
Die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätige Archäologin arbeitet zurzeit an einer umfassenden Analyse der Fundstücke von Platia Magula Zarkou. Das Material wurde bislang noch nicht in seinem Gesamtkontext untersucht. Ziel der vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Studie ist, einen besseren Einblick in den neolithischen Kulturwandel zu bekommen.
Wohnstätten aus Lehmziegeln
Die ersten Siedler haben sich zirka 6000 vor Christus am Ort niedergelassen. Danach war der Platz bis in die Bronzezeit hinein mit nur einer Unterbrechung fast ständig bewohnt. Die dabei entstandenen Schichten aus Schutt und Abfällen sind insgesamt zehn Meter mächtig, sagt Alram-Stern. Warum die Siedlung letztlich aufgegeben wurde, ist unbekannt.
Ihre Wohnstätten bauten die Ur-Thessalier aus luftgetrockneten Lehmziegeln. Der Grundriss war lange Zeit quadratisch, im Inneren standen ein bis zwei Räume zur Verfügung. Vereinzelt wurden allerdings auch schon zweistöckige Häuser errichtet. Die Dächer, berichtet Alram-Stern, scheinen aus Schilf gewesen zu sein. Kein Wunder, dürfte doch dieser Rohstoff an den Ufern des ganz in der Nähe fließenden Pineios reichlich zur Verfügung gestanden haben.
Der Fluss lieferte auch die Grundlage für das Töpfergewerbe. Dicke Sedimentschichten dienten als Tongruben. Platia Magula Zarkou war offenbar ein Zentrum der jungsteinzeitlichen Keramikherstellung. Erste Untersuchungen der vor Ort gefundenen Scherben und Produktionsabfälle zeigen die Fabrikation mehrerer verschiedener Typen auf. Eine zentrale Rolle spielte die im Spätneolithikum hergestellte "Grauware". Diese meist kleinen, tassenähnlichen Henkelgefäße wurden nicht nur an anderen archäologischen Fundorten in Thessalien nachgewiesen, sondern auch im nordgriechischen Mazedonien - anscheinend ein Exportprodukt.
Keramik und Steinwerkzeuge
Zusammen mit ihrer Kollegin und Experten der niederländischen Universität Leiden will Alram-Stern den Herstellungsprozess der Keramik von Platia Magula Zarkou nachvollziehen. Kein einfaches Unterfangen, denn unterm Mikroskop zeigen sich deutliche Unterschiede in Textur und Zusammensetzung des verwendeten Materials. Jeder Töpfer hatte vermutlich seine eigenen Mixturen und Verfahren, meint Alram-Stern. Eine Methode, diese zu rekonstruieren, ist das erneute Brennen von Scherben. Verändert sich zum Beispiel deren innere Struktur bei mehr als 850 °C, wurde das Stück ursprünglich bei dieser Temperatur gebrannt. Noch stärkere Erhitzung lässt zudem auf die Verwendung von speziellen Töpferöfen anstelle von offenen Brenngruben schließen.
Weitere interessante Forschungsobjekte sind die zahlreichen geborgenen Steinwerkzeuge. Die meisten von ihnen wurden aus braunem Feuerstein gefertigt, manche jedoch aus Obsidian, welches sich leichter zu geraden Klingen verarbeiten lässt. Feuerstein war in den Bergen des Landesinneren vorhanden, Obsidian dagegen musste von der Insel Milos herbeigeschafft werden - mit Booten, dutzende Seemeilen weit über die Ägäis.
Von Anatolien über die Ägäis nach Thessalien
Sonntag, 21. Juni 2015
Ein Christentum ohne Altes Testament?
aus beta.nzz.ch, 21.6.2015, 05:30
Streit um das Alte Testament
Christentum ohne Wurzel?
An den anstössigen Thesen eines protestantischen Theologen hat sich eine Debatte entzündet: Soll das Alte Testament weiterhin zu den Texten gehören, die für den christlichen Glauben verbindlich sind?
von Jan-Heiner Tück
In der Theologen-Zunft ist ein heftiger Streit entbrannt. Schauplatz ist die Evangelisch-Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Der dort lehrende systematische Theologe Notger Slenczka hat im «Marburger Jahrbuch für Theologie» bereits 2013 einen Aufsatz mit dem Titel «Die Kirche und das Alte Testament» veröffentlicht, in dem er die provokante Empfehlung aussprach, das Alte Testament aus dem Kanon der Heiligen Schriften herauszunehmen und auf das Niveau sogenannter apokrypher Schriften herabzustufen. Dieses Votum, das angesichts der Wertschätzung des «Ersten Testaments» (Erich Zenger) in einer durch die Shoah sensibilisierten Theologie befremdet, ist zunächst weithin unbeachtet geblieben. Erst als der Präsident des Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Friedhelm Pieper, eine empörte Stellungnahme lancierte und Slenczka unverblümt Antijudaismus vorwarf, kam eine Debatte ins Rollen, an der sich namhafte Religionsdeuter wie Jan Assmann , Micha Brumlik und Friedrich Wilhelm Graf beteiligten. Aus der Berliner Fakultät meldeten sich fünf Kollegen mit einer distanzierenden Stellungnahme, darunter Christoph Markschies, ehemaliger Präsident der Humboldt-Universität und einer der bekanntesten Theologen im deutschen Sprachraum. Er hat die Thesen in die Nähe einer «Nazi-Theologie» gerückt und eine Podiumsdiskussion mit Slenczka mit dem Hinweis abgelehnt, über die Zugehörigkeit des Alten Testaments zum Kanon müsse man heute ebenso wenig mehr streiten wie über die Frage, ob die Erde eine Scheibe sei.
Zwei Argumente
Diese Reaktion ist scharf und mag partiell auf das Konto fakultätsinterner Querelen gehen. Sie übergeht allerdings, dass Slenczkas Überlegungen Argumente geltend machen, mit denen es sich kritisch auseinanderzusetzen lohnt. Eines der Argumente nimmt auf die veränderte Diskussionslage der Theologie nach Auschwitz Bezug und weist darauf hin, dass das Textkorpus des Alten Testaments zunächst und vor allem dem Judentum gehöre – und dass die christliche Kirche mit der Beanspruchung der alttestamentlichen Schriften Gefahr laufe, das Judentum zu enteignen. Ein zweites Argument bezieht sich auf die historisch-kritische Methode, welche die Bücher des Alten Testaments in ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext zu lesen gelehrt hat. Eine allegorische Lesart, die darin überall Spuren zu erkennen glaube, die auf Jesus Christus verwiesen, sei im Horizont der Moderne nicht mehr möglich. Faktisch habe die Bibelwissenschaft die christliche Lesart des Alten Testaments aufgegeben. Angesichts dieser Argumente scheint die Schlussfolgerung einer «Entkanonisierung» jener Schriften beinahe unausweichlich. Wenn man diese ruinöse Konsequenz vermeiden will, muss man die leitenden Annahmen Slenczkas kritisch prüfen, statt ihn einfach an den Pranger zu stellen.
Slenczkas Vorschlag ist anstössig, wenn man bedenkt, dass die nazifreundlichen deutschen Christen auf ihrer Sportpalastkundgebung 1933 die Abschaffung des Alten Testaments beschlossen. Die theologische Brisanz zeigt sich, wenn man an Markion von Sinope erinnert, der im 2. Jahrhundert erstmals das Alte Testament aus dem Kanon der heiligen Schriften entfernt hat. Auch wenn die Quellenlage schwierig ist, da dessen Lehren nur im Spiegel der Kritiker überliefert sind, lässt sich mit Gewissheit sagen, dass Markion die paulinische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zu einem strikten Gegensatz verschärft hat. Der Schöpfergott des Alten Testaments, der die Welt mit seinem Gesetz regiere, sei dunkel und unberechenbar, er strafe und zürne. Von diesem Schöpfergott müsse das Evangelium des guten Erlösergottes freigehalten werden. Diese dualistische Gotteslehre wurde ebenso abgelehnt wie die Amputation des christlichen Kanons. Im Jahre 144 n. Chr. wurde Markion aus der Gemeinde von Rom ausgeschlossen und gründete eine Gegenkirche, die bis ins 5. Jahrhundert hinein Anhänger hatte.
Sein intellektueller Einfluss war so gross, dass sich Kirchenväter wie Irenäus von Lyon, Tertullian und Origenes kritisch mit seinem Werk befassten. Sie betonten, dass der eine Gott der Urheber beider Testamente sei und der heilsgeschichtliche Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Bund nicht zerschnitten werden dürfe. Mit dieser Klarstellung haben die Kirchenväter das Erbe Israels und dessen bleibende Bedeutung für das Christentum verteidigt. Allerdings haben nicht wenige von ihnen die Kirche als «neues Israel» verstanden und einer theologischen Enterbung des Judentums Vorschub geleistet, von der sich heutige Theologie, wenn sie den Zeitindex «Auschwitz» ernst nimmt, distanzieren muss.
Markion und Harnack
Eine gewisse Rehabilitierung Markions hat der Berliner DogmenhistorikerAdolf von Harnack vorgenommen, der dem «Erzketzer» der Alten Kirche eine gründliche Monografie widmete, in der sich die These findet: «Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die grosse Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.» Harnack ging davon aus, dass sich die Idee des Christentums in der Geschichte nach und nach ausgebildet habe und das Judentum rückblickend als religionshistorische Vorstufe bewertet werden könne. Für die formative Phase der Kirche gesteht er dem Alten Testament durchaus Bedeutung zu.
Bei Luther hingegen rücke die paulinische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium ins Zentrum. Durch seine Kritik an der allegorischen Schriftauslegung und seine Bevorzugung des wörtlichen Sinns habe der Reformator das Band zwischen Altem und Neuem Testament gelockert, allerdings sei Luther, der Liebhaber der Psalmen, zu sehr der kirchlichen Tradition verhaftet geblieben, um das Alte Testament aus dem Kanon auszuschliessen. Mit der historischen Kritik des 19. Jahrhunderts wäre nach Harnack allerdings der Schritt fällig gewesen, sich davon zu trennen.
Das Votum für die «Entkanonisierung» des Alten Testaments hat theologische Folgen. In seinen berühmten Vorlesungen über das Wesen des Christentums zeichnet Harnack ein Bild von Jesus, das den jüdischen Wurzelgrund weithin abblendet. Der Nazarener erscheint als Überwinder der pharisäischen «Gesetzesfrömmigkeit», als Kritiker des äusserlichen Tempelkults und als Verkünder einer einfachen menschenfreundlichen Moral. Durch die Anrede «Abba – lieber Vater» habe Jesus ein neues Gottesverhältnis gestiftet und durch die Idee der universalen Liebe die Religion allen Menschen geöffnet. Jesus erscheint als Katalysator einer allgemeinen Menschheitsreligion, die über die partikulare Reichweite des Judentums hinausgehe.
Notger Slenczkas Thesen können als Fortschreibung derjenigen Harnacks gelesen werden, auch wenn sie diesen nicht überall folgen. Slenczka weist zunächst darauf hin, dass Harnack im Bereich der evangelischen Theologie faktisch recht bekommen habe. Sowohl in der exegetischen Arbeit als auch im jüdisch-christlichen Dialog werde vermieden, das Alte Testament als Verkündigung Jesu Christi zu lesen. Im Gottesdienst und in den Kirchenliedern begegne ein selektiver Umgang mit alttestamentlichen Texten. Diese Depotenzierung des Alten Testaments werde allerdings nicht ehrlich zugegeben.
Vor einem Wiederaufflackern der markionitischen Versuchung hatte 1998 bereits Joseph Ratzinger gewarnt: «Wenn das Alte Testament nicht von Christus spricht, dann ist es keine Bibel für den Christen. Harnack hatte daraus bereits die Schlussfolgerung gezogen, dass es nun endlich an der Zeit sei, den Schritt Markions zu vollziehen und das Christentum vom Alten Testament zu trennen. Das würde indes die christliche Identität auflösen, die eben auf der Einheit der Testamente ruht. Es würde zugleich die innere Verwandtschaft auflösen, die uns mit Israel verbindet, und alsbald die Konsequenzen wieder hervorbringen, die Markion formuliert hatte: Der Gott Israels würde als ein fremder Gott erscheinen, der sicher nicht der Gott der Christen ist.»
Die kardinale Mahnung aus Rom muss den evangelischen Theologen in Berlin heute nicht kümmern. Dennoch basiert sein Enteignungsargument auf einer problematischen Annahme, auf die der katholische Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger soeben in der Zeitschrift «Communio» aufmerksam gemacht hat. Slenczka bemühe ein Erklärungsmodell, welches das Judentum als Mutter-, das Christentum aber als Tochterreligion begreife. Dieses Modell sei in der neueren Forschung weithin aufgegeben worden. Heute begreife man das Alte Testament als das Textkorpus des einen Gottesvolkes. In der Auslegungsgemeinschaft dieses Gottesvolkes sei es mit dem Auftreten Jesu zu einem Interpretationskonflikt gekommen. Die eine Partei habe die Schrift auf Jesus, den Messias, hin gelesen, wie in den Evangelien und den paulinischen Briefen dokumentiert. Die andere Partei habe diese christologische Lesart abgelehnt, aus ihr sei das rabbinische Judentum hervorgegangen. – Beide Lesarten sind nebeneinander und teilweise gegeneinander ausgebildet worden, sie sind in einem literaturwissenschaftlichen Sinn legitim und können einander heute auch in theologischer Hinsicht wechselseitig bereichern. Gleichwohl kann im jüdisch-christlichen Dialog die Wahrheitsfrage nicht auf Dauer ausgeklammert bleiben.
Falsche Überbietungslogik
Überdies ist die Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium, wie sie bei Markion und seit Luther in unterschiedlichen Variationen in der reformatorischen Theologie begegnet, von der neueren Exegese abgemildert, wenn nicht gar entkräftet worden. Die Tora steht nicht im Gegensatz zur Gnade, vielmehr wird sie selbst als Ausdruck der Gnade Gottes verstanden. Schliesslich wirft Slenczkas Vorstoss die Frage nach Reichweite und Grenzen der historisch-kritischen Methode auf. Ohne Zweifel vermag diese einen Text in seinem Kontext präzise zu erschliessen, ihr Instrumentarium bleibt aber stumpf, wenn es um die christologische Bedeutung des Alten Testaments geht. Dabei ist die Zurückhaltung gegenüber Lesarten, welche Tora, Psalmen und Propheten im Licht Jesu Christi deuten, verständlich angesichts der antijudaistischen Überbietungslogik, die sich in vielen vormodernen Schriftkommentaren findet. Aber ist diese Überbietungslogik zwingend? Und muss man die Reichtümer der patristischen und mittelalterlichen Exegese für die Gegenwart verloren geben, weil diese nicht den Standards der historischen Kritik entspricht?
Schwienhorst-Schönberger macht zu Recht geltend, dass eine christologische Interpretation des Alten Testaments Sinnpotenziale erschliesst, die in diesem selbst angelegt sind. Insofern sei eine solche Auslegung historisch und intellektuell redlich, zumal sie vom Neuen Testament selbst vertreten werde. Das Projekt einer Rehabilitierung der altkirchlichen Bibel-Hermeneutik hätte daher die Frage zu klären, wie die Verbindung zwischen alttestamentlicher Verheissung und neutestamentlicher Erfüllung theologisch fruchtbar gemacht werden kann, ohne in antijudaistisches Fahrwasser zu geraten. Immerhin ist die Präsenz des Alten Testaments in den liturgischen Leseordnungen der katholischen Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil erheblich gestärkt worden. Die Erzählungen von Schöpfung und Fall, die Geschichte der Patriarchen, von Mose und dem Exodus aus Ägypten, die Tradition der Propheten, selbst das Ringen Hiobs haben dadurch Raum erhalten. Diese Lesungen werden aber auf das Evangelium Jesu Christi bezogen, dessen Gestalt und Botschaft ohne den Hintergrund der Bundesgeschichte Israels blass, ja unverständlich bliebe.
Würde man das Alte Testament aus dem Kanon streichen, liefe das nicht nur auf eine «Entjudaisierung», sondern auch auf eine Entwurzelung des Christentums hinaus. Eine solche Amputation aber kann niemand wollen.
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt am Institut für Systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.
Nota. - Was macht die moralische Überlegenheit des Christentums über allen andern Religionen der Welt aus? Es ist der gewaltige Mythos von dem engherzigen und rachsüchtigen Gott eines auserwählten Volkes, der sich bekehrt und zu einem Anderen geworden; der selber Mensch geworden ist, um die Sünden Aller, nicht nur der Israeliten, auf sich zu nehmen und durch seinen Opfertod zu tilgen, und der dadurch unser Aller Gott wurde.
Glauben kann man das nur, weil es absurd ist, aber das macht offenbar bis heute seine Kraft aus. - Dem Außen- stehenden, der es nicht glaubt, selbst wenn es absurd ist, muss es so vorkommen, dass Gottes Worte und Gottes Taten vor seiner Bekehrung nicht dasselbe Gewicht haben können, wie die nach seiner Bekehrung. Aber in den Streit der Theologen einmischen wird er sich sinnvoller Weise nicht.
JE
Samstag, 20. Juni 2015
Wie Japan zur Weltmacht wurde.
aus beta.nzz.ch, 11.6.2015, 05:30 Uhr Japanische Baumschützen schiessen in Tsingtau auf deutsche Flieger
Erster Weltkrieg in Ostasien
Der Aufstieg Japans
Im Gedenken an den Ersten Weltkrieg geht gern vergessen, dass dieser auch die Machtordnung in Ostasien umkrempelte. Der grosse Gewinner war am Ende das mit der Entente verbündete Japan.
von Hoo Nam Seelmann
Hermann Hesse schrieb am 24. August 1914 in sein Tagebuch: «Japans Ultimatum ist mit gebührender Verachtung beantwortet, jetzt fallen also diese Seeräuber im Osten über uns her. Damit führen die Engländer vollends offen den Feind europäischer Kultur gegen deren Hoffnung. Schade für England, anständig gesinnte Engländer müssen sich jetzt schämen, (. . .) In Belgien und Lothringen neue Siege, es geht grosszügig vorwärts!» Diese Zeilen wirken in mehrfacher Hinsicht heute verstörend, umso mehr, als sie aus der Feder eines bekannten europäischen Autors stammen, der 1946 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam. Seine Werke geniessen auch in Ostasien hohe Wertschätzung.
Hesses Gedanken sind mehr als nur eine private Ansicht über das damalige Weltgeschehen. Sie enthüllen den Epochengeist Europas, der den Krieg heraufbeschwor. Da sind einmal die Kriegsbegeisterung und der Patriotismus, die sich im August 1914 Bahn brachen. Zum anderen ist darin unübersehbar der imperialistische Habitus, der sich zu einer Weltanschauung gefestigt hatte. Europa stand damals auf dem Höhepunkt der globalen Dominanz. Die herablassende Haltung gegenüber nichtwestlichen Kulturen gehörte zum gängigen Repertoire. Dass Japan in den Augen des Europäers Hesse nicht satisfaktionsfähig war, versteht sich von selbst. Hesse scheint noch nicht zu realisieren, dass eine «Urkatastrophe» in Gang gekommen ist.
40 Länder beteiligt
Auf welches Ereignis spielt Hesse aber an? Obgleich Ostasien als «Peripherie» mit dem Krieg im Zentrum eng verbunden war, spielt es in der europäischen Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Unbestritten war der Erste Weltkrieg ein globales Ereignis, an dem sich 40 Länder beteiligten. Sie standen zudem wegen der weltweiten kolonialen Verflechtung in komplizierten Beziehungen zueinander. Ostasien bildete hier keine Ausnahme. Japan hat am 10. August 1914 an Deutschland ein Ultimatum gestellt, sofort die deutsche Kolonie Kiautschou im Nordosten Chinas zu räumen. Deutschland hatte mit verspäteten kolonialen Ambitionen dieses Gebiet 1897 von China für 99 Jahre «gepachtet» und war dabei, es für den eigenen wirtschaftlichen und militärischen Bedarf umzubauen.
Als der Gouverneur Alfred Meyer-Waldeck nicht auf das Ultimatum reagierte, erklärte Japan 13 Tage später Deutschland den Krieg. Österreich-Ungarn, das sich geweigert hatte, den dort weilenden Kreuzer SMS «Kaiserin Elisabeth» aus Tsingtao abzuziehen, widerfuhr dasselbe. England, das schon lange eine enge Beziehung zu Japan pflegte, machte gemeinsame Sache, um Deutschland zu schwächen. Schon am 7. November kapitulierte Meyer-Waldeck, als er vom Meer und vom Land her völlig umzingelt war. Er verfügte nur über 4900 Mann – Japan hatte 50 000 Soldaten aufgeboten.
Dass der Krieg sich über Europa hinaus ausdehnen würde, zeigte sich bald. Denn Grossbritannien liess bereits am 5. August 1914 die Gültigkeit der Kongoakte aus dem Jahr 1885 aufheben. Darin hatten die westlichen Kolonialmächte vereinbart, im Falle des Krieges diesen nicht auf die Kolonien auszudehnen. Aber in den Zeiten des Imperialismus dienten internationale Verträge ohnehin meist nur als Instrument, um die Gegner in Sicherheit zu wiegen oder die eigene Absicht zu verschleiern. So beschloss London, sofort den Angriff auf die deutschen Kolonien auszudehnen, und fand in Japan einen willigen und hungrigen Partner.
Japan sah in der Eroberung von Kiautschou eine Art späte Genugtuung für eine Schmach aus dem Jahr 1885. Damals musste Japan nach dem Sieg im sino-japanischen Krieg die Shangdong-Halbinsel wegen der sogenannten Triple Intervention wieder an China zurückgeben. Deutschland, Frankreich und Russland hatten erfolgreich gegen die Einverleibung der Halbinsel durch Japan interveniert. Die europäischen Mächte, die selber offen territoriale Ambitionen in China verfolgten, gönnten dem asiatischen Emporkömmling die Kriegsbeute nicht. Japan wagte nicht, dagegen aufzubegehren, und gab klein bei. Nun wendete sich das Blatt. Mit der Eroberung von Kiautschou demonstrierte Japan, dem auch inzwischen die Südmandschurische Eisenbahn gehörte, seinen imperialistischen Anspruch auf China.
Nach dem schnellen Sieg über Deutschland versuchte Japan Fakten zu schaffen. Bereits im Januar 1915 übergab die japanische Regierung dem chinesischen Präsidenten Yuan Shikai die berüchtigten «21 Forderungen», die das Ziel hatten, langfristig die wirtschaftliche und politische Kontrolle über China zu sichern. Geschickt nutzte Japan den Krieg in Europa aus, um auch neben den Gebieten in China weitere deutsche Kolonialgebiete auf den Pazifikinseln an sich zu reissen.
Dass Japan nun gegen Deutschland anzutreten wagte, zeigt das gewachsene Selbstbewusstsein des ostasiatischen Landes. Wesentlich dazu beigetragen hatte der Sieg über Russland 1905 im russisch-japanischen Krieg. Es war die Meiji-Restauration (1868), die eine umfassende Umstrukturierung im Land einleitete. Japan hatte sich, um der kolonialen Unterwerfung durch den Westen zu entgehen, radikalen Reformen verschrieben und den Staat nach westlichem Vorbild grundlegend umgebaut. Als verhängnisvoll sollte sich jedoch erweisen, dass es auch westliche imperialistische Ideologien übernahm. Durch den systematischen Aufbau des Militärs stieg es bald zu einem ernsten Konkurrenten des Westens auf. Da Kolonien zum Statussymbol eines mächtigen Staates gehörten, unterwarf Japan nach und nach Okinawa, Taiwan und Korea. Wie weit Japan in der vom Westen dominierten Welt gekommen war, zeigt der Umstand, dass es am Ende des Ersten Weltkrieges auf der Seite der Sieger sass und als Mitunterzeichner des Versailler Vertrags etliche Gebiete zugesprochen bekam.
China schickte Arbeitskräfte
Welch seltsame Wendungen die komplizierten Beziehungen zwischen den Staaten nahmen, zeigt die Entscheidung Chinas, das zunehmend Aggressionen Japans ausgesetzt war. Denn auch China erklärte Deutschland den Krieg, und zwar am 14. August 1917. Japan und China, die Erzfeinde, standen beide auf der Seite der Alliierten. Was China dabei erhoffte, war die Unterstützung der Alliierten gegen Japan, das darum seinerseits mit allen Mitteln versuchte, Chinas Eintritt in den Krieg zu verhindern. In China selber herrschten zu dieser Zeit unklare Machtverhältnisse. Denn die alte Qing-Dynastie war am Ende, und Sun Yat-sen hatte 1912 die Republik ausgerufen. Aber diese hatte sich noch nicht konsolidiert und war, von Unruhen im Innern erschüttert, als Staat nur bedingt funktionsfähig. Zu einem militärischen Eingreifen war das Land darum kaum in der Lage.
Da jedoch in den europäischen Ländern kriegsbedingt Mangel an Arbeitskräften herrschte, schlossen im Mai 1916 Frankreich und Grossbritannien mit China ein Abkommen. So kam das sogenannte «Arbeiter als Soldaten»-Programm zustande. Annähernd 140 000 junge Chinesen kamen nach Europa ins Kriegsgebiet. Hauptsächlich wurden sie im belgischen Flandern und in Nordfrankreich eingesetzt. Sie hoben Schützengräben aus, arbeiteten im Eisenbahn- und Strassenbau, in der Landwirtschaft, in der Rüstungsindustrie, den Schiffswerften und Kohleminen. Mit anderen aus den Kolonien eingezogenen Arbeitskräften erhielten sie die Kriegswirtschaft aufrecht.
Die chinesischen Arbeiter waren meist in Arbeitslagern interniert und, obgleich Zivilisten, der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Sechs Tage in der Woche und täglich zehn Stunden arbeiteten sie für einen geringen Lohn. Kurz vor dem Ende des Krieges lebten in 17 britischen Arbeitslagern in Nordfrankreich zirka 96 000 Chinesen. Der Kulturschock war für die Chinesen enorm, so dass viele von ihnen daran zerbrachen und schwer erkrankten. Der Rassismus war überall und alltäglich. Kaum Dolmetscher und Helfer waren da, um die Not der Chinesen zu lindern, so dass es immer wieder zu Aufständen in den Lagern kam. Noch im März 1919 arbeiteten in Belgien und Frankreich rund 80 000 Chinesen, die gefallene Soldaten bargen, begruben und auch beim Wiederaufbau halfen. In den Jahren zwischen 1916 und 1919 starben mehr als 3000 Chinesen. Viele kamen erst nach Kriegsende um: bei der Minenräumung oder durch die Spanische Grippe. Nach und nach kehrten die Überlebenden zurück in die Heimat. 1921 lebten noch einige Tausende Chinesen in Paris und gründeten das erste Chinesenviertel Europas. Im nordfranzösischen Noyelles-sur-Mer gibt es einen Friedhof, auf dem 838 Chinesen begraben liegen. Er ist die grösste chinesische Begräbnisstätte in Europa aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.
Der Erste Weltkrieg veränderte nicht nur das Machtgefüge Europas, sondern hinterliess in anderen Weltteilen ebenso deutliche Spuren. Die alten europäischen Monarchien mussten von der politischen Bühne abtreten. Die USA gewannen durch den Eintritt in den Krieg politisches Gewicht. Trotz diesen tiefgreifenden Umwälzungen blieb jedoch eines unverändert: das Festhalten der westlichen Staaten an den Kolonien und Protektoraten. Allerdings entfachte der Erste Weltkrieg Unabhängigkeitsbewegungen, und es kam zu antikolonialen Aufständen in vielen Kolonien. Denn überall war der Nationalismus entflammt und der Griff der Kolonialstaaten kriegsbedingt geschwächt.
Ein weiterer Faktor war, dass die westlichen Staaten während des Krieges in den Kolonien des Feindes die antikolonialen Kräfte unterstützt hatten, um den Gegner zu schwächen. Eine wichtige Rolle spielte zudem der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der im Januar 1918 sein «Vierzehn-Punkte-Programm» verkündete. Darin forderte er unter anderem das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Abrüstung und die Gründung des Völkerbundes. Dass er mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker die Befreiung der Kolonien im Sinne hatte, ist eher zu bezweifeln. Dennoch hatte seine Forderung grosse Auswirkung auf die Menschen, die unterjocht und rechtlos in den Kolonien lebten. Indes: Kein einziges Land war bereit, seine Kolonien in die Freiheit zu entlassen.
Nur Deutschland verlor als «Schuldiger» des Krieges alle Kolonialgebiete. China erhielt trotz dem Einsatz für die Alliierten die erhoffte Unterstützung nicht, denn Kiautschou wurde Japan zugeschlagen. Aus Enttäuschung darüber kam es 1919 in China zu grossen antiwestlichen Protesten. Auch in Korea, das 1910 zu einer Kolonie Japans geworden war, erhob sich das Volk am 1. März 1919 gegen die japanische Kolonialherrschaft und forderte die Unabhängigkeit, aber der friedliche Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Der grosse Gewinner des Ersten Weltkrieges im Fernen Osten war Japan, das sich in seiner aggressiven imperialistischen Politik bestätigt fühlte. Denn es wurde mit einem grossen Gebietsgewinn belohnt und stieg zur dominierenden Macht in Ostasien auf. Nun konnte es den Feldzug gegen China beginnen, der erst 1945 endete und Millionen von Toten forderte.
Erster Weltkrieg in Ostasien
Der Aufstieg Japans
Im Gedenken an den Ersten Weltkrieg geht gern vergessen, dass dieser auch die Machtordnung in Ostasien umkrempelte. Der grosse Gewinner war am Ende das mit der Entente verbündete Japan.
von Hoo Nam Seelmann
Hermann Hesse schrieb am 24. August 1914 in sein Tagebuch: «Japans Ultimatum ist mit gebührender Verachtung beantwortet, jetzt fallen also diese Seeräuber im Osten über uns her. Damit führen die Engländer vollends offen den Feind europäischer Kultur gegen deren Hoffnung. Schade für England, anständig gesinnte Engländer müssen sich jetzt schämen, (. . .) In Belgien und Lothringen neue Siege, es geht grosszügig vorwärts!» Diese Zeilen wirken in mehrfacher Hinsicht heute verstörend, umso mehr, als sie aus der Feder eines bekannten europäischen Autors stammen, der 1946 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam. Seine Werke geniessen auch in Ostasien hohe Wertschätzung.
Hesses Gedanken sind mehr als nur eine private Ansicht über das damalige Weltgeschehen. Sie enthüllen den Epochengeist Europas, der den Krieg heraufbeschwor. Da sind einmal die Kriegsbegeisterung und der Patriotismus, die sich im August 1914 Bahn brachen. Zum anderen ist darin unübersehbar der imperialistische Habitus, der sich zu einer Weltanschauung gefestigt hatte. Europa stand damals auf dem Höhepunkt der globalen Dominanz. Die herablassende Haltung gegenüber nichtwestlichen Kulturen gehörte zum gängigen Repertoire. Dass Japan in den Augen des Europäers Hesse nicht satisfaktionsfähig war, versteht sich von selbst. Hesse scheint noch nicht zu realisieren, dass eine «Urkatastrophe» in Gang gekommen ist.
40 Länder beteiligt
Auf welches Ereignis spielt Hesse aber an? Obgleich Ostasien als «Peripherie» mit dem Krieg im Zentrum eng verbunden war, spielt es in der europäischen Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Unbestritten war der Erste Weltkrieg ein globales Ereignis, an dem sich 40 Länder beteiligten. Sie standen zudem wegen der weltweiten kolonialen Verflechtung in komplizierten Beziehungen zueinander. Ostasien bildete hier keine Ausnahme. Japan hat am 10. August 1914 an Deutschland ein Ultimatum gestellt, sofort die deutsche Kolonie Kiautschou im Nordosten Chinas zu räumen. Deutschland hatte mit verspäteten kolonialen Ambitionen dieses Gebiet 1897 von China für 99 Jahre «gepachtet» und war dabei, es für den eigenen wirtschaftlichen und militärischen Bedarf umzubauen.
Als der Gouverneur Alfred Meyer-Waldeck nicht auf das Ultimatum reagierte, erklärte Japan 13 Tage später Deutschland den Krieg. Österreich-Ungarn, das sich geweigert hatte, den dort weilenden Kreuzer SMS «Kaiserin Elisabeth» aus Tsingtao abzuziehen, widerfuhr dasselbe. England, das schon lange eine enge Beziehung zu Japan pflegte, machte gemeinsame Sache, um Deutschland zu schwächen. Schon am 7. November kapitulierte Meyer-Waldeck, als er vom Meer und vom Land her völlig umzingelt war. Er verfügte nur über 4900 Mann – Japan hatte 50 000 Soldaten aufgeboten.
Dass der Krieg sich über Europa hinaus ausdehnen würde, zeigte sich bald. Denn Grossbritannien liess bereits am 5. August 1914 die Gültigkeit der Kongoakte aus dem Jahr 1885 aufheben. Darin hatten die westlichen Kolonialmächte vereinbart, im Falle des Krieges diesen nicht auf die Kolonien auszudehnen. Aber in den Zeiten des Imperialismus dienten internationale Verträge ohnehin meist nur als Instrument, um die Gegner in Sicherheit zu wiegen oder die eigene Absicht zu verschleiern. So beschloss London, sofort den Angriff auf die deutschen Kolonien auszudehnen, und fand in Japan einen willigen und hungrigen Partner.
Japan sah in der Eroberung von Kiautschou eine Art späte Genugtuung für eine Schmach aus dem Jahr 1885. Damals musste Japan nach dem Sieg im sino-japanischen Krieg die Shangdong-Halbinsel wegen der sogenannten Triple Intervention wieder an China zurückgeben. Deutschland, Frankreich und Russland hatten erfolgreich gegen die Einverleibung der Halbinsel durch Japan interveniert. Die europäischen Mächte, die selber offen territoriale Ambitionen in China verfolgten, gönnten dem asiatischen Emporkömmling die Kriegsbeute nicht. Japan wagte nicht, dagegen aufzubegehren, und gab klein bei. Nun wendete sich das Blatt. Mit der Eroberung von Kiautschou demonstrierte Japan, dem auch inzwischen die Südmandschurische Eisenbahn gehörte, seinen imperialistischen Anspruch auf China.
Nach dem schnellen Sieg über Deutschland versuchte Japan Fakten zu schaffen. Bereits im Januar 1915 übergab die japanische Regierung dem chinesischen Präsidenten Yuan Shikai die berüchtigten «21 Forderungen», die das Ziel hatten, langfristig die wirtschaftliche und politische Kontrolle über China zu sichern. Geschickt nutzte Japan den Krieg in Europa aus, um auch neben den Gebieten in China weitere deutsche Kolonialgebiete auf den Pazifikinseln an sich zu reissen.
Dass Japan nun gegen Deutschland anzutreten wagte, zeigt das gewachsene Selbstbewusstsein des ostasiatischen Landes. Wesentlich dazu beigetragen hatte der Sieg über Russland 1905 im russisch-japanischen Krieg. Es war die Meiji-Restauration (1868), die eine umfassende Umstrukturierung im Land einleitete. Japan hatte sich, um der kolonialen Unterwerfung durch den Westen zu entgehen, radikalen Reformen verschrieben und den Staat nach westlichem Vorbild grundlegend umgebaut. Als verhängnisvoll sollte sich jedoch erweisen, dass es auch westliche imperialistische Ideologien übernahm. Durch den systematischen Aufbau des Militärs stieg es bald zu einem ernsten Konkurrenten des Westens auf. Da Kolonien zum Statussymbol eines mächtigen Staates gehörten, unterwarf Japan nach und nach Okinawa, Taiwan und Korea. Wie weit Japan in der vom Westen dominierten Welt gekommen war, zeigt der Umstand, dass es am Ende des Ersten Weltkrieges auf der Seite der Sieger sass und als Mitunterzeichner des Versailler Vertrags etliche Gebiete zugesprochen bekam.
China schickte Arbeitskräfte
Welch seltsame Wendungen die komplizierten Beziehungen zwischen den Staaten nahmen, zeigt die Entscheidung Chinas, das zunehmend Aggressionen Japans ausgesetzt war. Denn auch China erklärte Deutschland den Krieg, und zwar am 14. August 1917. Japan und China, die Erzfeinde, standen beide auf der Seite der Alliierten. Was China dabei erhoffte, war die Unterstützung der Alliierten gegen Japan, das darum seinerseits mit allen Mitteln versuchte, Chinas Eintritt in den Krieg zu verhindern. In China selber herrschten zu dieser Zeit unklare Machtverhältnisse. Denn die alte Qing-Dynastie war am Ende, und Sun Yat-sen hatte 1912 die Republik ausgerufen. Aber diese hatte sich noch nicht konsolidiert und war, von Unruhen im Innern erschüttert, als Staat nur bedingt funktionsfähig. Zu einem militärischen Eingreifen war das Land darum kaum in der Lage.
Da jedoch in den europäischen Ländern kriegsbedingt Mangel an Arbeitskräften herrschte, schlossen im Mai 1916 Frankreich und Grossbritannien mit China ein Abkommen. So kam das sogenannte «Arbeiter als Soldaten»-Programm zustande. Annähernd 140 000 junge Chinesen kamen nach Europa ins Kriegsgebiet. Hauptsächlich wurden sie im belgischen Flandern und in Nordfrankreich eingesetzt. Sie hoben Schützengräben aus, arbeiteten im Eisenbahn- und Strassenbau, in der Landwirtschaft, in der Rüstungsindustrie, den Schiffswerften und Kohleminen. Mit anderen aus den Kolonien eingezogenen Arbeitskräften erhielten sie die Kriegswirtschaft aufrecht.
Die chinesischen Arbeiter waren meist in Arbeitslagern interniert und, obgleich Zivilisten, der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Sechs Tage in der Woche und täglich zehn Stunden arbeiteten sie für einen geringen Lohn. Kurz vor dem Ende des Krieges lebten in 17 britischen Arbeitslagern in Nordfrankreich zirka 96 000 Chinesen. Der Kulturschock war für die Chinesen enorm, so dass viele von ihnen daran zerbrachen und schwer erkrankten. Der Rassismus war überall und alltäglich. Kaum Dolmetscher und Helfer waren da, um die Not der Chinesen zu lindern, so dass es immer wieder zu Aufständen in den Lagern kam. Noch im März 1919 arbeiteten in Belgien und Frankreich rund 80 000 Chinesen, die gefallene Soldaten bargen, begruben und auch beim Wiederaufbau halfen. In den Jahren zwischen 1916 und 1919 starben mehr als 3000 Chinesen. Viele kamen erst nach Kriegsende um: bei der Minenräumung oder durch die Spanische Grippe. Nach und nach kehrten die Überlebenden zurück in die Heimat. 1921 lebten noch einige Tausende Chinesen in Paris und gründeten das erste Chinesenviertel Europas. Im nordfranzösischen Noyelles-sur-Mer gibt es einen Friedhof, auf dem 838 Chinesen begraben liegen. Er ist die grösste chinesische Begräbnisstätte in Europa aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.
Der Erste Weltkrieg veränderte nicht nur das Machtgefüge Europas, sondern hinterliess in anderen Weltteilen ebenso deutliche Spuren. Die alten europäischen Monarchien mussten von der politischen Bühne abtreten. Die USA gewannen durch den Eintritt in den Krieg politisches Gewicht. Trotz diesen tiefgreifenden Umwälzungen blieb jedoch eines unverändert: das Festhalten der westlichen Staaten an den Kolonien und Protektoraten. Allerdings entfachte der Erste Weltkrieg Unabhängigkeitsbewegungen, und es kam zu antikolonialen Aufständen in vielen Kolonien. Denn überall war der Nationalismus entflammt und der Griff der Kolonialstaaten kriegsbedingt geschwächt.
Ein weiterer Faktor war, dass die westlichen Staaten während des Krieges in den Kolonien des Feindes die antikolonialen Kräfte unterstützt hatten, um den Gegner zu schwächen. Eine wichtige Rolle spielte zudem der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der im Januar 1918 sein «Vierzehn-Punkte-Programm» verkündete. Darin forderte er unter anderem das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Abrüstung und die Gründung des Völkerbundes. Dass er mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker die Befreiung der Kolonien im Sinne hatte, ist eher zu bezweifeln. Dennoch hatte seine Forderung grosse Auswirkung auf die Menschen, die unterjocht und rechtlos in den Kolonien lebten. Indes: Kein einziges Land war bereit, seine Kolonien in die Freiheit zu entlassen.
Nur Deutschland verlor als «Schuldiger» des Krieges alle Kolonialgebiete. China erhielt trotz dem Einsatz für die Alliierten die erhoffte Unterstützung nicht, denn Kiautschou wurde Japan zugeschlagen. Aus Enttäuschung darüber kam es 1919 in China zu grossen antiwestlichen Protesten. Auch in Korea, das 1910 zu einer Kolonie Japans geworden war, erhob sich das Volk am 1. März 1919 gegen die japanische Kolonialherrschaft und forderte die Unabhängigkeit, aber der friedliche Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Der grosse Gewinner des Ersten Weltkrieges im Fernen Osten war Japan, das sich in seiner aggressiven imperialistischen Politik bestätigt fühlte. Denn es wurde mit einem grossen Gebietsgewinn belohnt und stieg zur dominierenden Macht in Ostasien auf. Nun konnte es den Feldzug gegen China beginnen, der erst 1945 endete und Millionen von Toten forderte.
Donnerstag, 18. Juni 2015
Jamnaja - unsere Wurzeln in der russischen Steppe.
Wir stammen aus der Steppe
Völkerwanderungen in der Bronzezeit prägten Eurasien.
Von Jürgen Langenbach
Vor etwa 60.000 Jahren wanderten erste Homo sapiens aus Afrika aus, durch die Levante, das haben Genanalysen gerade gezeigt, sie entschieden den Streit darüber, ob die Wanderung direkt nach Norden ging oder erst nach Osten, über die Arabische Halbinsel. Dann, vor etwa 45.000 Jahren, trennten sich die Eurasier von den Ostasiaten. So viel weiß man, später wird es unübersichtlich, unklar ist vor allem, wann und wie die Sprache entstand, deren Varianten heute von Island bis Indien geläufig sind: die indoeuropäische.
Zwei Hypothesen konkurrieren, die eine sieht den Ursprung in Anatolien, dort wurde vor 11.000 Jahren die Landwirtschaft erfunden, vor 7000 Jahren verbreitete sie sich nach Westen, lang war auch umstritten, ob Völkerschaften unterwegs waren („demische Diffusion“) oder sich nur die Kultur verbreitete: Es waren Völker, und sie verdrängten die ansässigen Jäger und Sammler bzw. nahmen sie genetisch in sich auf.
Aber brachten sie auch die indoeuropäische Sprache? In dieser gibt es viele Wörter, die sich auf Fahrzeuge mit Rädern beziehen, die gab es vor 7000 Jahren nicht. Vor 5000 Jahren gab es sie, in der Steppe, dem Gebiet zwischen Schwarzen und Kaspischem Meer, auch viele archäologische Hinweise deuten darauf, dass damals und von dort die nächste Wanderungswelle kam und unter anderem das Indoeuropäische mitbrachte.
Ob wirklich die Sprache so kam, wird man natürlich nie wissen, aber Menschen kamen in der Bronzezeit, das hat zu Jahresbeginn schon David Reich (Harvard) mit Genanalysen damaliger Menschen gezeigt, das zeigt nun noch einmal und verfeinert Eske Willerslev (Kopenhagen), er hatte 101 alte Skelette aus ganz Eurasien zur Verfügung: Demnach machten sich Mitglieder der in der Steppe nomadisierenden Jamnaja-Kultur auf den Weg nach Westen – und nach Osten, weit, das könnte erklären, warum auch in einer Enklave in China Indoeuropäisch gesprochen wird (Nature 10. 6.).
Auch Erbteil: Milchverträglichkeit
Dann gab es auch Rückwanderungen aus dem Westen, aus ihnen wuchs die Sintashta-Kultur im Ural, auch von ihr zogen Mitglieder nach Westen, die Gene zeigen es. Sie zeigen auch, dass von den Völkern Mittelasiens nichts blieb als ihre Gene im Westen, in ihrer Region wurden sie von Ostasiaten verdrängt. Den Westen hingegen prägten sie, ihm bescherten sie auch etwas, was man lang für ein Mitbringsel der Anatolier gehalten hat, die Genvariante, die (auch) Erwachsenen den Verzehr von Milch ermöglicht.
aus scinexx Metallobjekte der Jamnaja
Wir sind Erben der Steppenreiter
Einwanderung von Reiternomaden aus Zentralasien brachte Bronzezeit-Europa voran
Folgenreiche Einwanderung: Vor rund 5.000 Jahren löste ein aus dem Osten kommendes Steppenvolk dramatische Veränderungen im bronzezeitlichen Europa aus. Denn die massenhafte Einwanderung der Jamnaja brachte unseren Vorfahren ihre Gene, Fertigkeiten und Sitten, wie Forscher im Fachmagazin "Nature" berichten. Die neuen Analysen helfen aber auch, die Herkunft eines rätselhaften Steppenvolks in Zentralasien zu lösen.
Neue Keramiken, andere Bestattungsriten und Wirtschaftsweisen - vor rund 5.000 bis 3.000 Jahren ereigneten sich in Europa und Zentralasien tiefgreifende kulturelle Umstürze. "Damals wurden die alten neolithischen Bauernkulturen von neuen abgelöst, die eine völlig andere Sicht von Familie, Eigentum und Person hatten", erklärt Studienleiter Kristian Kristiansen von der Universität Göteborg. Auch die Sprache änderte sich: Das Indoeuropäische setzte sich allmählich durch.
Was löste diesen Umschwung aus?
Was aber diesen Umschwung auslöste, ist bisher umstritten. Klar ist nur, dass das Genom der heutigen Europäer Einflüsse vieler umliegender Völker widerspeigelt. Kürzlich erst wies eine Studie sogar nach, dass die europäischen Männer auf nur wenige bronzezeitliche Urväter zurückgehen.
Kristiansen und seine Kollegen haben nun neues Licht in diese folgenreiche Phase der europäischen Geschichte gebracht. Sie analysierten die DNA von 101 menschlichen Überresten aus der Bronzezeit, die in Europa und Zentralasien gefunden wurden. "Dies ist die größte populationsgenetische Studie, die je an fossilen Überresten des Menschen durchgeführt wurde", sagt Kristiansens Kollege Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen.
Schädel eines bronzezeitlichen Jamnaja - der Tote wurde bei der Bestattung mit rotem Ocker bestäubt.
Migranten als Fortschrittsmotor
Das Ergebnis: Mitteleuropa erlebte in der Bronzezeit eine wahre Schwemme von Einwanderern, wie die Genanalysen zeigten. Denn die Jamnaja, ein Volk von Reiternomaden aus Zentralasien und dem Kaukasus, hat deutliche genetische Spuren in bronzezeitlichen Europäern hinterlassen. Sie waren es daher wahrscheinlich auch, die den kulturellen Wandel und die Entstehung der mitteleuropäischen Schnurbandkeramik-Kultur auslösten.
Dieses Ergebnis passt gut zu archäologischen Funden von Jamnaja- Grabhügeln entlang der unteren Donau. Auch DNA-Analysen heutiger Europäer hatten bereits Hinweise erbracht, dass Gene aus Zentralasien eine entscheidende Rolle sogar für unser heutiges Aussehen gespielt haben könnten. Nach Meinung einiger Linguisten spricht zudem einiges dafür, dass dieses Reitervolk aus der eurasischen Steppe sogar die Urform der Indoeuropäischen Sprache mitbrachte.
Kam die Laktose-Toleranz von den Reiternomaden?
Die Genvergleiche brachten auch Überraschendes. Denn sogar die Fähigkeit, Laktose zu verdauen, könnten wir den Jamnaja verdanken. Dank eines in unserem Darm produzierten Enzyms, der Laktase, können die meisten Europäer Milchzucker problemlos verdauen. "Bisher dachte man, dass sich diese Fähigkeit im Nahen Osten oder auf dem Balkan entwickelte und dann mit den ersten Bauern in der Jungsteinzeit nach Europa kam", sagt Koautor Martin Sikora von der Universität Kopenhagen.
Die Einwanderung der Jamnaja und ihr Einfluss ließen auch die europäische Schnurkeramik-Kultur entstehen.
Doch wie die Forscher feststellten, fehlte den meisten Europäern der frühen Bronzezeit diese entscheidende Mutation noch. Erst nach der Einwanderung der Reiternomaden aus dem Osten breitete sich das für die Laktase zuständige Gen in der europäischen Bevölkerung aus. "Wir vermuten daher, dass dieses Gen erst mit den Jamnaja-Viehzüchtern nach Europa kam und sich dann langsam verbreitete", so Sikora.
Rätsel der Steppenstädte gelöst
Der Einfluss der Jamnaja reichte aber noch weit über Mitteleuropa hinaus, wie die Genanalysen zeigten: Ihre Gene prägten auch die tausende Kilometer weit entfernt lebende Afanasievo-Kultur - ein Volk, das in der frühen Bronzezeit am sibirischen Altai lebte. "Die Migrationen der Jamnaja resultierten demnach in einem Genfluss über gewaltige Distanzen", sagen die Forscher. "Ihr Einfluss reichte vom Altai in Sibirien bis in das Skandinavien der frühen Bronzezeit."
Die Genanalysen helfen auch, ein weiteres Geheimnis der Bronzezeit zu lüften. Denn sie zeigen, woher die rätselhafte Kultur der Sintashta kam. Dieses Volk errichtete schon vor rund 4.000 Jahren am Ural große Städte und fertigte ungewöhnlich kunstvolle Waffen und Schmuckstücke an. Sie gelten zudem als die versiertesten Pferdezüchter ihrer Zeit.
Die neuen Daten enthüllten, dass die Sintashta nicht wie zuvor angenommen aus Zentralasien oder Ostasien stammten. Stattdessen gingen sie aus einer Vorgängerkultur am Ural hervor, die genetisch europäische Wurzeln hatte. Erst in der späten Bronzezeit und zu Beginn der Eisenzeit wanderten dann ostasiatische Völker nach Zentralasien ein und prägten die dort noch heute vertretene Population. (Nature, 2015; doi: 10.1038/nature14507)
(Nature, University of Copenhagen, 11.06.2015 - NPO)
Dienstag, 16. Juni 2015
Achthundert Jahre Magna Carta
aus beta.nzz.ch,
12.6.2015, 11:47 Uhr
Eine mittelalterliche Urkunde und ihre Geschichte
Die «Magna Carta Libertatum» ist am 15. Juni 1215 vom englischen König Johann Ohneland besiegelt worden. Die Geschichte der «Grossen Urkunde der Freiheiten» ist auch die Geschichte ihrer Rezeption.
von Frank Rexroth
Mit dem Referendum über die Zugehörigkeit zur Europäischen Union, das David Cameron spätestens für das Jahr 2017 in Aussicht gestellt hat, steht für die Wähler im Vereinigten Königreich abermals eine Richtungsentscheidung von allergrösster Bedeutung an. Essenzielle Bestandteile der europäischen Integration stehen zur Debatte, ja der Premierminister und seine politischen Verbündeten kritisieren derzeit überhaupt das europäische Ziel einer «ever closer union» massiv. Ganz im Gegenteil müsse das Eigengewicht der Mitgliedsstaaten vergrössert werden, so heisst es in London.
Ein Manifest
Erwartungsgemäss organisieren sich derzeit die Befürworter dieser Politik in Interessengruppen und Lobbys. Rückendeckung erfährt die Tory-Regierung vor allem von der Initiative «Business for Britain», die ihre Mitglieder aus Kapitänen der Wirtschafts- und Finanzwelt rekrutiert. Dieser sekundiert allerdings auch eine kleinere Gruppe namens «Historians for Britain», die 2013 erstmals an die Öffentlichkeit trat und über die in britischen Historikerkreisen gegenwärtig viel gesprochen wird. Grund dafür ist, dass der Cambridger Historiker David Abulafia am 11. Mai auf der Online-Plattform «History Today» ein Manifest veröffentlicht hat, das von weiteren programmatischen, allesamt online zur Verfügung gestellten Texten verbündeter Gelehrter flankiert wird.
Das Bild der englisch-britischen Geschichte, das darin entworfen wird, ist in allen seinen Bestandteilen bekannt, handelt es sich doch um die im 19. und frühen 20. Jahrhundert dominierende Sichtweise von einer besonderen «quality of uninterruptedness», die die Entwicklung vor allem der Verfassungs- und Verwaltungsorgane in England und dem Vereinigten Königreich ausmache. Stets hätten Engländer und Briten es geschafft, ihr Gemeinwesen auf einem mittleren Kurs zwischen denjenigen Extrempositionen hindurchzusteuern, die für das Schicksal der kontinentaleuropäischen Staaten prägend gewesen seien: extreme Beharrung und Revolution, Reaktion und Anarchie. Den kontinentalen Nachbarn falle es vergleichsweise leicht, die Kompetenzen ihrer nationalen Institutionen zugunsten europäischer Gerichtshöfe und Administrationszentren zu schwächen, denn jene Einrichtungen seien ja zumeist nur ein paar Jahrzehnte alt und daher weder in der politischen Kultur noch in den historischen Traditionen ihrer Länder tief verwurzelt. Für das Vereinigte Königreich stehe mit der europäischen Einigung viel mehr auf dem Spiel: Seine Institutionen reichten weit in die mittelalterliche Vergangenheit der Engländer zurück. Wo sich die europäischen Nachbarn an radikale Verfassungsumbrüche, an Katastrophen und zerstörerische Kriege erinnern müssten, sei das Vereinigte Königreich verwurzelt in einer «largely uninterrupted history since the Middle Ages», so schliesst Abulafia sein Manifest.
Diese Töne lösten unter Historikern einen Sturm der Entrüstung aus. Eine Protestnote unter der Überschrift «Fog in Channel, Historians Isolated» wurde von zehnmal so viel professionellen Historikerinnen und Historikern unterschrieben, wie die Kampagne «Historians for Britain» Mitglieder hat. Die Kritik richtete sich darauf, dass Abulafias Manifest einem Narrativ der englisch-britischen Geschichte den Vorzug gab, das lange bekannt ist, das aber von Fachhistorikern schon seit Jahrzehnten als antiquiert angesehen wird. Denn spätestens seit den 1960er Jahren haben die Historiker die europäischen und globalen «entanglements» der britischen Vergangenheit in den Vordergrund der Geschichtsbetrachtung gerückt. Lange schon gilt die Erzählung von der «quality of uninterruptedness», ja vom britischen Exzeptionalismus als ideologisch und überholt.
Erwartungsgemäss riefen die Kritiker Ereignisse und Phänomene in Erinnerung, um die Abulafia herumgeschrieben hatte: die zahlreichen Kolonialismen, so etwa den, der seit dem Beginn des englischen Engagements im mittelalterlichen Irland und Wales existiert hatte; den überaus blutigen Bürgerkrieg, ja überhaupt die revolutionären Umbrüche des 17. Jahrhunderts, ohne die es politische Innovationen wie das Prinzip der Parlamentssouveränität niemals gegeben hätte; die angeblich typisch kontinentalen Irrwege des Nationalismus oder gar der Judenfeindschaft, die auch Bestandteile der britischen Geschichte waren.
Es war unvermeidlich, dass die Erinnerung an die «Magna Carta», deren Besiegelung sich in diesen Tagen zum achthundertsten Mal jährt, in den Sog des Historikerstreits hineingezogen wird. Nigel Saul, selbst ein Angehöriger der Gruppe «Historians for Britain» und Mittelalter-Historiker wie Abulafia auch, blendet in einem Essay, den er der «troubled relationship» zwischen England und dem Kontinent widmet, leitmotivisch immer wieder auf die «Carta» zurück, wenn er die Verschiedenheit der englischen politischen Kultur vom europäischen Normalweg betont. Für Saul markierte die «Grosse» Urkunde von 1215 den Anfang einer acht Jahrhunderte überspannenden Geschichte des englischen Parlaments als des zentralen Verfassungsorgans, sie steht für ihn am Beginn einer politischen Mentalität, nach der die Autorität des Monarchen stets auf der formellen Zustimmung eines stark erweiterten Königsrats beruhe.
Bedeutungszuwachs
Selbst wenn diese Verfassung niemals förmlich kodifiziert worden sei, so Saul, hätten die in der mittelalterlichen Urkunde angesprochenen Prinzipien die Entwicklung des englischen Königreiches weiterhin begleitet. So seien etwa in der «Habeas Corpus»-Akte von 1679 Gedanken über die Illegitimität von willkürlicher Verhaftung ausgedrückt worden, die in der «Magna Carta» bereits angelegt gewesen seien. Gelehrtes Wissen und Politik berühren sich in diesem populären Erinnerungsort, äussert sich doch auch David Cameron derzeit in Rede- und Zeitungsbeiträgen gerne zu ihm. Die Urkunde ist Gegenstand unzähliger Veranstaltungen, wegen des Jubiläums finden griffige Slogans wie «Magna Carta matters» oder gar «800 years of democracy» reichen Absatz.
Auffälligerweise bezieht sich der Historiker Saul aber kaum auf den Akt der Ausstellung jener Urkunde am 15. Juni 1215 bei Runnymede nahe der Königsburg von Windsor, sondern viel stärker auf die Effekte, die diese Urkunde in späteren Zeiten auslöste. Die Geschichte der «Magna Carta» scheint die Geschichte ihrer Rezeption zu sein, die Abfolge von Bedeutungen, die man ihr während der vergangenen achthundert Jahre zugeschrieben hat. Auch wenn sie seit der Ära König Edwards I. den Rang eines Statuts besass, war ihr doch über den grösseren Teil ihrer mittelalterlichen Vergangenheit hinweg wenig Aufmerksamkeit beschieden. Die Aufständischen der sogenannten «Peasants' Revolt» von 1381 beriefen sich in ihrem utopischen Gesellschaftsentwurf nicht auf sie, sondern auf ein obskures anderes Parlamentsstatut, von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wussten, ob es jemals existiert hatte. Erst in der Polemik gegen die monarchischen Theorien der frühen Stuart-Könige wurde die «Carta» ab den 1620er Jahren von Juristen wie Sir Edward Coke zum ideologischen Anknüpfungspunkt – die Könige Jakob I. und Karl I. wollten die Diskussionen über den alten Text möglichst eindämmen.
Der Höhepunkt der Rezeption war der Rückgriff auf die mittelalterliche Urkunde in den nordamerikanischen Kolonien des 18. Jahrhunderts, dort wurde sie sogar gegen das britische Parlament vereinnahmt. So lehnten die rebellischen Amerikaner etwa die ihnen auferlegte Stempelsteuer mit der Begründung ab, dass diese gegen die Verfügungen der «Carta» verstosse. Das Denkmal in Runnymede, am Ort der Besiegelung, wurde 1957 von der American Bar Association errichtet, nicht von britischen Tories oder Whigs.
Seit der Unabhängigkeitserklärung der Amerikaner hat man den Text weltweit als Meilenstein in der Geschichte der Bürgerrechte angesehen. Dazu trugen weniger die im 13. Jahrhundert besonders heiklen Eingangspassagen zur Freiheit der Kirche und zum Erbrecht der Barone bei als vielmehr diejenigen Paragrafen, mit denen das Recht zur Erhebung von Steuern weitgehend an den Konsens einer Ratsversammlung geknüpft wurde – es war dieser Rat, aus dem innerhalb von hundert Jahren das königliche «parliamentum» hervorgehen sollte. Die meisten Belange der Urkunde erschienen allerdings schon den amerikanischen Siedlern als Bestandteile einer vergangenen Welt: die Erleichterung der Schifffahrt auf der Themse, das Lehnrecht, der Unterhalt von Burgen, die Festlegung eines Busstarifs und die Rechte und Pflichten, die den Vasallen und seinen Herrn aneinanderbanden.
Artikel 39
Den bleibenden Ruhm der Urkunde sollte vor allem der denkwürdige Artikel 39 ausmachen, der besagte, dass kein freier Mann verhaftet, enteignet, geächtet, verbannt oder anderweitig angegriffen werden dürfe, es sei denn durch den Rechtsspruch von seinesgleichen, wobei dieser nach dem Gesetz des Landes zu erfolgen hatte. Die Spezifikation als «grosse» Urkunde erhielt eine emphatische Note, die universalhistorischen Rang anzuzeigen schien; dabei hatte sie ursprünglich schlicht der Abgrenzung des Diploms von dem kleineren, 1217 ausgestellten Privileg über die königlichen Wälder («Carta Forestarum») gedient. In ihrer ursprünglichen Gestalt war das Diplom wohl an die Krönungsurkunde König Heinrichs I. von 1100 angelehnt, die die Eintreibung königlicher Abgaben hatte regeln wollen. Stärker noch als auf dieses Vorbild ging sie allerdings auf zwei Forderungskataloge zurück, die König Johanns adlige Untertanen seit dem Frühjahr 1215 verfasst hatten.
Die «Carta» selbst war das Produkt zäher Verhandlungen, der Konflikt des erfolglosen und unbeliebten Königs Johann mit den englischen Magnaten hatte sie notwendig gemacht. Johanns Kampagnen auf dem europäischen Festland waren desaströs gescheitert, die Schlacht bei Bouvines 1214 gegen den König von Frankreich hatte Johann als militärischen Führer desavouiert. Als im 14. Jahrhundert John of Gaunt als Prätendent auf den Königsthron bereitstand, sprach schon allein sein Name gegen ihn – die Engländer konnten sich nicht vorstellen, jemals wieder von einem Johann regiert zu werden. «King John was a shit!», kolportiert der Historiker John Gillingham die Fama des royalen Versagers von 1214/15 – auch dies ein vielzitiertes Wort im gegenwärtigen Jubiläumsrummel.
In der Tat blieb Johann nach der Ausstellung des Diploms sich selber treu. Er ignorierte dessen Verfügungen, so dass die Erinnerung der Nachgeborenen an die Wiederausfertigungen der Urkunde aus späterer Zeit anknüpfte und nicht an das Original vom Juni 1215. Auch wenn diese Neufassungen immer königsfreundlicher und kürzer ausfielen, blieb die Spanne der angesprochenen Materien immer noch ansehnlich breit, ja immerhin vier der ursprünglich etwa sechzig Verfügungen sind noch heute in Geltung, darunter auch der besagte Artikel 39. Die Briten haben allen Grund, stolz auf diese Urkunde zu sein.
Doch sollten sie dabei nicht vergessen, dass die «Magna Carta» zugleich ein Kapitel aus der Geschichte der zeittypischen europäischen Herrschaftsverträge ist, wie sie im Hoch- und Spätmittelalter zwischen Fürsten und Magnaten ausgehandelt wurden. An vielen Orten des Kontinents rangen die Grossen des Landes ihren Monarchen solche Zugeständnisse ab: «Dies sind die Kapitel, die die Barone erbaten und die der Herr König gewährte», hatte es in den «Articles of the Barons» geheissen, die der «Carta» zugrunde gelegen hatten. Das heisst, dass die «Magna Carta» an der Seite etwa der ungarischen «Goldenen Bulle» von 1222 oder des Brabanter «Blijde Inkomst» von 1356 steht. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Strategien aus dem europaweit geteilten Handlungsrepertoire des Hochadels in den jeweiligen Königreichen die lokale politische Kultur veränderten. Als Fetisch für die Gegner der britischen EU-Mitgliedschaft taugt sie nicht.
Dr. Frank Rexroth lehrt und forscht als Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.
Eine mittelalterliche Urkunde und ihre Geschichte
Die «Magna Carta Libertatum» ist am 15. Juni 1215 vom englischen König Johann Ohneland besiegelt worden. Die Geschichte der «Grossen Urkunde der Freiheiten» ist auch die Geschichte ihrer Rezeption.
von Frank Rexroth
Mit dem Referendum über die Zugehörigkeit zur Europäischen Union, das David Cameron spätestens für das Jahr 2017 in Aussicht gestellt hat, steht für die Wähler im Vereinigten Königreich abermals eine Richtungsentscheidung von allergrösster Bedeutung an. Essenzielle Bestandteile der europäischen Integration stehen zur Debatte, ja der Premierminister und seine politischen Verbündeten kritisieren derzeit überhaupt das europäische Ziel einer «ever closer union» massiv. Ganz im Gegenteil müsse das Eigengewicht der Mitgliedsstaaten vergrössert werden, so heisst es in London.
Ein Manifest
Erwartungsgemäss organisieren sich derzeit die Befürworter dieser Politik in Interessengruppen und Lobbys. Rückendeckung erfährt die Tory-Regierung vor allem von der Initiative «Business for Britain», die ihre Mitglieder aus Kapitänen der Wirtschafts- und Finanzwelt rekrutiert. Dieser sekundiert allerdings auch eine kleinere Gruppe namens «Historians for Britain», die 2013 erstmals an die Öffentlichkeit trat und über die in britischen Historikerkreisen gegenwärtig viel gesprochen wird. Grund dafür ist, dass der Cambridger Historiker David Abulafia am 11. Mai auf der Online-Plattform «History Today» ein Manifest veröffentlicht hat, das von weiteren programmatischen, allesamt online zur Verfügung gestellten Texten verbündeter Gelehrter flankiert wird.
Das Bild der englisch-britischen Geschichte, das darin entworfen wird, ist in allen seinen Bestandteilen bekannt, handelt es sich doch um die im 19. und frühen 20. Jahrhundert dominierende Sichtweise von einer besonderen «quality of uninterruptedness», die die Entwicklung vor allem der Verfassungs- und Verwaltungsorgane in England und dem Vereinigten Königreich ausmache. Stets hätten Engländer und Briten es geschafft, ihr Gemeinwesen auf einem mittleren Kurs zwischen denjenigen Extrempositionen hindurchzusteuern, die für das Schicksal der kontinentaleuropäischen Staaten prägend gewesen seien: extreme Beharrung und Revolution, Reaktion und Anarchie. Den kontinentalen Nachbarn falle es vergleichsweise leicht, die Kompetenzen ihrer nationalen Institutionen zugunsten europäischer Gerichtshöfe und Administrationszentren zu schwächen, denn jene Einrichtungen seien ja zumeist nur ein paar Jahrzehnte alt und daher weder in der politischen Kultur noch in den historischen Traditionen ihrer Länder tief verwurzelt. Für das Vereinigte Königreich stehe mit der europäischen Einigung viel mehr auf dem Spiel: Seine Institutionen reichten weit in die mittelalterliche Vergangenheit der Engländer zurück. Wo sich die europäischen Nachbarn an radikale Verfassungsumbrüche, an Katastrophen und zerstörerische Kriege erinnern müssten, sei das Vereinigte Königreich verwurzelt in einer «largely uninterrupted history since the Middle Ages», so schliesst Abulafia sein Manifest.
Diese Töne lösten unter Historikern einen Sturm der Entrüstung aus. Eine Protestnote unter der Überschrift «Fog in Channel, Historians Isolated» wurde von zehnmal so viel professionellen Historikerinnen und Historikern unterschrieben, wie die Kampagne «Historians for Britain» Mitglieder hat. Die Kritik richtete sich darauf, dass Abulafias Manifest einem Narrativ der englisch-britischen Geschichte den Vorzug gab, das lange bekannt ist, das aber von Fachhistorikern schon seit Jahrzehnten als antiquiert angesehen wird. Denn spätestens seit den 1960er Jahren haben die Historiker die europäischen und globalen «entanglements» der britischen Vergangenheit in den Vordergrund der Geschichtsbetrachtung gerückt. Lange schon gilt die Erzählung von der «quality of uninterruptedness», ja vom britischen Exzeptionalismus als ideologisch und überholt.
Erwartungsgemäss riefen die Kritiker Ereignisse und Phänomene in Erinnerung, um die Abulafia herumgeschrieben hatte: die zahlreichen Kolonialismen, so etwa den, der seit dem Beginn des englischen Engagements im mittelalterlichen Irland und Wales existiert hatte; den überaus blutigen Bürgerkrieg, ja überhaupt die revolutionären Umbrüche des 17. Jahrhunderts, ohne die es politische Innovationen wie das Prinzip der Parlamentssouveränität niemals gegeben hätte; die angeblich typisch kontinentalen Irrwege des Nationalismus oder gar der Judenfeindschaft, die auch Bestandteile der britischen Geschichte waren.
Es war unvermeidlich, dass die Erinnerung an die «Magna Carta», deren Besiegelung sich in diesen Tagen zum achthundertsten Mal jährt, in den Sog des Historikerstreits hineingezogen wird. Nigel Saul, selbst ein Angehöriger der Gruppe «Historians for Britain» und Mittelalter-Historiker wie Abulafia auch, blendet in einem Essay, den er der «troubled relationship» zwischen England und dem Kontinent widmet, leitmotivisch immer wieder auf die «Carta» zurück, wenn er die Verschiedenheit der englischen politischen Kultur vom europäischen Normalweg betont. Für Saul markierte die «Grosse» Urkunde von 1215 den Anfang einer acht Jahrhunderte überspannenden Geschichte des englischen Parlaments als des zentralen Verfassungsorgans, sie steht für ihn am Beginn einer politischen Mentalität, nach der die Autorität des Monarchen stets auf der formellen Zustimmung eines stark erweiterten Königsrats beruhe.
Bedeutungszuwachs
Selbst wenn diese Verfassung niemals förmlich kodifiziert worden sei, so Saul, hätten die in der mittelalterlichen Urkunde angesprochenen Prinzipien die Entwicklung des englischen Königreiches weiterhin begleitet. So seien etwa in der «Habeas Corpus»-Akte von 1679 Gedanken über die Illegitimität von willkürlicher Verhaftung ausgedrückt worden, die in der «Magna Carta» bereits angelegt gewesen seien. Gelehrtes Wissen und Politik berühren sich in diesem populären Erinnerungsort, äussert sich doch auch David Cameron derzeit in Rede- und Zeitungsbeiträgen gerne zu ihm. Die Urkunde ist Gegenstand unzähliger Veranstaltungen, wegen des Jubiläums finden griffige Slogans wie «Magna Carta matters» oder gar «800 years of democracy» reichen Absatz.
Auffälligerweise bezieht sich der Historiker Saul aber kaum auf den Akt der Ausstellung jener Urkunde am 15. Juni 1215 bei Runnymede nahe der Königsburg von Windsor, sondern viel stärker auf die Effekte, die diese Urkunde in späteren Zeiten auslöste. Die Geschichte der «Magna Carta» scheint die Geschichte ihrer Rezeption zu sein, die Abfolge von Bedeutungen, die man ihr während der vergangenen achthundert Jahre zugeschrieben hat. Auch wenn sie seit der Ära König Edwards I. den Rang eines Statuts besass, war ihr doch über den grösseren Teil ihrer mittelalterlichen Vergangenheit hinweg wenig Aufmerksamkeit beschieden. Die Aufständischen der sogenannten «Peasants' Revolt» von 1381 beriefen sich in ihrem utopischen Gesellschaftsentwurf nicht auf sie, sondern auf ein obskures anderes Parlamentsstatut, von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wussten, ob es jemals existiert hatte. Erst in der Polemik gegen die monarchischen Theorien der frühen Stuart-Könige wurde die «Carta» ab den 1620er Jahren von Juristen wie Sir Edward Coke zum ideologischen Anknüpfungspunkt – die Könige Jakob I. und Karl I. wollten die Diskussionen über den alten Text möglichst eindämmen.
Der Höhepunkt der Rezeption war der Rückgriff auf die mittelalterliche Urkunde in den nordamerikanischen Kolonien des 18. Jahrhunderts, dort wurde sie sogar gegen das britische Parlament vereinnahmt. So lehnten die rebellischen Amerikaner etwa die ihnen auferlegte Stempelsteuer mit der Begründung ab, dass diese gegen die Verfügungen der «Carta» verstosse. Das Denkmal in Runnymede, am Ort der Besiegelung, wurde 1957 von der American Bar Association errichtet, nicht von britischen Tories oder Whigs.
Seit der Unabhängigkeitserklärung der Amerikaner hat man den Text weltweit als Meilenstein in der Geschichte der Bürgerrechte angesehen. Dazu trugen weniger die im 13. Jahrhundert besonders heiklen Eingangspassagen zur Freiheit der Kirche und zum Erbrecht der Barone bei als vielmehr diejenigen Paragrafen, mit denen das Recht zur Erhebung von Steuern weitgehend an den Konsens einer Ratsversammlung geknüpft wurde – es war dieser Rat, aus dem innerhalb von hundert Jahren das königliche «parliamentum» hervorgehen sollte. Die meisten Belange der Urkunde erschienen allerdings schon den amerikanischen Siedlern als Bestandteile einer vergangenen Welt: die Erleichterung der Schifffahrt auf der Themse, das Lehnrecht, der Unterhalt von Burgen, die Festlegung eines Busstarifs und die Rechte und Pflichten, die den Vasallen und seinen Herrn aneinanderbanden.
Artikel 39
Den bleibenden Ruhm der Urkunde sollte vor allem der denkwürdige Artikel 39 ausmachen, der besagte, dass kein freier Mann verhaftet, enteignet, geächtet, verbannt oder anderweitig angegriffen werden dürfe, es sei denn durch den Rechtsspruch von seinesgleichen, wobei dieser nach dem Gesetz des Landes zu erfolgen hatte. Die Spezifikation als «grosse» Urkunde erhielt eine emphatische Note, die universalhistorischen Rang anzuzeigen schien; dabei hatte sie ursprünglich schlicht der Abgrenzung des Diploms von dem kleineren, 1217 ausgestellten Privileg über die königlichen Wälder («Carta Forestarum») gedient. In ihrer ursprünglichen Gestalt war das Diplom wohl an die Krönungsurkunde König Heinrichs I. von 1100 angelehnt, die die Eintreibung königlicher Abgaben hatte regeln wollen. Stärker noch als auf dieses Vorbild ging sie allerdings auf zwei Forderungskataloge zurück, die König Johanns adlige Untertanen seit dem Frühjahr 1215 verfasst hatten.
Die «Carta» selbst war das Produkt zäher Verhandlungen, der Konflikt des erfolglosen und unbeliebten Königs Johann mit den englischen Magnaten hatte sie notwendig gemacht. Johanns Kampagnen auf dem europäischen Festland waren desaströs gescheitert, die Schlacht bei Bouvines 1214 gegen den König von Frankreich hatte Johann als militärischen Führer desavouiert. Als im 14. Jahrhundert John of Gaunt als Prätendent auf den Königsthron bereitstand, sprach schon allein sein Name gegen ihn – die Engländer konnten sich nicht vorstellen, jemals wieder von einem Johann regiert zu werden. «King John was a shit!», kolportiert der Historiker John Gillingham die Fama des royalen Versagers von 1214/15 – auch dies ein vielzitiertes Wort im gegenwärtigen Jubiläumsrummel.
In der Tat blieb Johann nach der Ausstellung des Diploms sich selber treu. Er ignorierte dessen Verfügungen, so dass die Erinnerung der Nachgeborenen an die Wiederausfertigungen der Urkunde aus späterer Zeit anknüpfte und nicht an das Original vom Juni 1215. Auch wenn diese Neufassungen immer königsfreundlicher und kürzer ausfielen, blieb die Spanne der angesprochenen Materien immer noch ansehnlich breit, ja immerhin vier der ursprünglich etwa sechzig Verfügungen sind noch heute in Geltung, darunter auch der besagte Artikel 39. Die Briten haben allen Grund, stolz auf diese Urkunde zu sein.
Doch sollten sie dabei nicht vergessen, dass die «Magna Carta» zugleich ein Kapitel aus der Geschichte der zeittypischen europäischen Herrschaftsverträge ist, wie sie im Hoch- und Spätmittelalter zwischen Fürsten und Magnaten ausgehandelt wurden. An vielen Orten des Kontinents rangen die Grossen des Landes ihren Monarchen solche Zugeständnisse ab: «Dies sind die Kapitel, die die Barone erbaten und die der Herr König gewährte», hatte es in den «Articles of the Barons» geheissen, die der «Carta» zugrunde gelegen hatten. Das heisst, dass die «Magna Carta» an der Seite etwa der ungarischen «Goldenen Bulle» von 1222 oder des Brabanter «Blijde Inkomst» von 1356 steht. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Strategien aus dem europaweit geteilten Handlungsrepertoire des Hochadels in den jeweiligen Königreichen die lokale politische Kultur veränderten. Als Fetisch für die Gegner der britischen EU-Mitgliedschaft taugt sie nicht.
Dr. Frank Rexroth lehrt und forscht als Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.
Montag, 15. Juni 2015
Ist Arbeitsteilung älter als gedacht?
aus scinexx
Arbeitsteilung schon vor 45.000 Jahren
Tausende Steinwerkzeuge zeugen von früher Spezialisierung der Werkzeugmacher
Ungewöhnliche Vielfalt: Schon vor rund 45.000 Jahren praktizierten Menschen im Nahen Osten Arbeitsteilung. Sie stellten fast schon wie am Fließband verschiedene spezialisierte Steinwerkzeuge her. Das belegen tausende Speerspitzen, Klingen und Faustkeile, die Paläontologen in einer Höhle in Jordanien entdeckt haben. Ob Neandertaler oder anatomisch moderne Menschen diese Werkzeuge herstellten, ist jedoch noch unklar.
Zwei in Mughr el-Hamamah gefundene Speerspitzen und eine Knochennadel oder Ahle
Die meisten Werkzeuge unserer steinzeitlichen Vorfahren waren eher Allzweckgeräte: Faustkeile, mit denen man sowohl schneiden als auch ritzen, schaben und stechen konnte. "Das war durchaus sinnvoll in einem Umfeld, in dem man nicht wusste, für was man sein Feuersteinstück demnächst brauchen würde", erklärt Erstautor Aaron Stutz von der Emory University in Atlanta. Doch zumindest einige Neandertalergruppen praktizierten auch schon Arbeitsteilung, wie der Fund einer 35.000 Jahre alten Elfenbeinwerkstatt in Sachsen-Anhalt belegt.
Jetzt haben Stutz und seine Kollegen einen noch älteren Beleg für spezialisierte Werkzeuge und Arbeitsweisen entdeckt. In der Höhle Mughr-el-Hamamah in Jordanien stießen sie auf mehrere gut erhaltene Lagerplätze aus der Zeit von vor 40.000 bis 45.000 Jahren. Die das Jordantal überblickende Höhle enthielt tausende von Steinwerkzeugen verschiedener Machart, wie die Forscher berichten.
Arbeitsteilung und Fließbandproduktion
Neben Schabern, eher groben Faustkeilen und Steinklingen fanden sich unzählige wie genormt aussehende Speerspitzen. "Diese Standardisierung minimiert den Gesteinsabfall und maximiert die Produktion", erklärt Stutz. "Das ist fast schon eine Art Vorläufer der Fließbandproduktion." Diese Massenanfertigung von Speerspitzen könnte dazu gedient haben, Jägergruppen mit immer neuem Nachschub an Jagdwaffen zu versorgen.
Einige der Werkzeuge glichen typischen Faustkeilen, die von Neandertalern wie anatomisch modernen Menschen genutzt wurden.
"Die Menschen von Mughr el-Hamamah hatten offenbar eine klare Arbeitsteilung entwickelt, bei denen einige jagten, andere Feuerholz sammelten, Pflanzen suchten oder andere Nahrung", so Stutz. Seiner Ansicht nach könnte es spezielle Werkzeugmacher gegeben haben, die für die anderen die Werkzeuge herstellten. "Die angefertigten Werkzeuge an andere Mitglieder der Gruppe abzugeben war dabei von Vorteil und band die Gruppe enger zusammen."
Neandertaler oder Homo sapiens?
Wer allerdings diese Werkzeugmacher waren, ist bisher noch unklar. "Unser Fund liegt direkt im levantinischen Korridor", erklärt Stutz. "Durch dieses Gebiet zog jede Generation von Menschen, die aus Afrika nach Eurasien auswanderten, machte Rast und suchte Nahrung." In der Zeit vor rund 45.000 Jahren waren die Neandertaler bereits am Aussterben, während unsere Vorfahren sich in Europa ausbreiteten.
In der Levante mischten sich jedoch beide Populationen wahrscheinlich schon seit rund 100.000 Jahren. Zwar haben die Forscher in der Mughr el-Hamamah auch einige wenige Fragmente von menschlichen Knochen gefunden. Allein anhand ihrer Form lassen sie sich jedoch nicht einer Menschenart zuordnen. Nun muss geprüft werden, ob sich DNA aus diesen Knochenfragmenten isolieren lässt – dies könnte die Frage nach den Werkzeugmachern beantworten.
Nach Ansicht der Forscher spricht die Arbeitsteilung aber in jedem Fall dafür, dass die Menschen damals bereits soziale Kontakte und einen Austausch von Werkzeugen über ihre Kleingruppe hinaus besaßen. "Was wir in Mughr el-Hamamah sehen, ist dass die Individuen und ihre Familien begannen, in größeren, kulturell stärker strukturierten Netzwerken zu leben und zu arbeiten", so Stutz. Dieser gesellschaftliche Wandel könnte seiner Ansicht nach für unsere Vorfahren typisch gewesen sein und mit dazu beigetragen haben, die Neandertaler zu verdrängen. (Journal of Human Evolution, 2015;
(Emory Health Sciences, 15.06.2015 - NPO)
Nota. - Gewöhnlich nimmt man an, dass sich eine Arbeitsteilung innerhalb der Gemeinschaft, die über die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern (und die Freistellung der Schamanen) hinausging, erst mit der Sedentarisierung und dem Übergang zum Ackerbau ausgebildet habe. Der erste Beruf in einem industriellen Sinn seien die Schmiede gewesen. - Sie könnten ihre Vorläufer in den Werkzeugmachern gehabt haben - vor der neolithischen Revolution.
JE
Arbeitsteilung schon vor 45.000 Jahren
Tausende Steinwerkzeuge zeugen von früher Spezialisierung der Werkzeugmacher
Ungewöhnliche Vielfalt: Schon vor rund 45.000 Jahren praktizierten Menschen im Nahen Osten Arbeitsteilung. Sie stellten fast schon wie am Fließband verschiedene spezialisierte Steinwerkzeuge her. Das belegen tausende Speerspitzen, Klingen und Faustkeile, die Paläontologen in einer Höhle in Jordanien entdeckt haben. Ob Neandertaler oder anatomisch moderne Menschen diese Werkzeuge herstellten, ist jedoch noch unklar.
Zwei in Mughr el-Hamamah gefundene Speerspitzen und eine Knochennadel oder Ahle
Die meisten Werkzeuge unserer steinzeitlichen Vorfahren waren eher Allzweckgeräte: Faustkeile, mit denen man sowohl schneiden als auch ritzen, schaben und stechen konnte. "Das war durchaus sinnvoll in einem Umfeld, in dem man nicht wusste, für was man sein Feuersteinstück demnächst brauchen würde", erklärt Erstautor Aaron Stutz von der Emory University in Atlanta. Doch zumindest einige Neandertalergruppen praktizierten auch schon Arbeitsteilung, wie der Fund einer 35.000 Jahre alten Elfenbeinwerkstatt in Sachsen-Anhalt belegt.
Jetzt haben Stutz und seine Kollegen einen noch älteren Beleg für spezialisierte Werkzeuge und Arbeitsweisen entdeckt. In der Höhle Mughr-el-Hamamah in Jordanien stießen sie auf mehrere gut erhaltene Lagerplätze aus der Zeit von vor 40.000 bis 45.000 Jahren. Die das Jordantal überblickende Höhle enthielt tausende von Steinwerkzeugen verschiedener Machart, wie die Forscher berichten.
Arbeitsteilung und Fließbandproduktion
Neben Schabern, eher groben Faustkeilen und Steinklingen fanden sich unzählige wie genormt aussehende Speerspitzen. "Diese Standardisierung minimiert den Gesteinsabfall und maximiert die Produktion", erklärt Stutz. "Das ist fast schon eine Art Vorläufer der Fließbandproduktion." Diese Massenanfertigung von Speerspitzen könnte dazu gedient haben, Jägergruppen mit immer neuem Nachschub an Jagdwaffen zu versorgen.
Einige der Werkzeuge glichen typischen Faustkeilen, die von Neandertalern wie anatomisch modernen Menschen genutzt wurden.
"Die Menschen von Mughr el-Hamamah hatten offenbar eine klare Arbeitsteilung entwickelt, bei denen einige jagten, andere Feuerholz sammelten, Pflanzen suchten oder andere Nahrung", so Stutz. Seiner Ansicht nach könnte es spezielle Werkzeugmacher gegeben haben, die für die anderen die Werkzeuge herstellten. "Die angefertigten Werkzeuge an andere Mitglieder der Gruppe abzugeben war dabei von Vorteil und band die Gruppe enger zusammen."
Neandertaler oder Homo sapiens?
Wer allerdings diese Werkzeugmacher waren, ist bisher noch unklar. "Unser Fund liegt direkt im levantinischen Korridor", erklärt Stutz. "Durch dieses Gebiet zog jede Generation von Menschen, die aus Afrika nach Eurasien auswanderten, machte Rast und suchte Nahrung." In der Zeit vor rund 45.000 Jahren waren die Neandertaler bereits am Aussterben, während unsere Vorfahren sich in Europa ausbreiteten.
In der Levante mischten sich jedoch beide Populationen wahrscheinlich schon seit rund 100.000 Jahren. Zwar haben die Forscher in der Mughr el-Hamamah auch einige wenige Fragmente von menschlichen Knochen gefunden. Allein anhand ihrer Form lassen sie sich jedoch nicht einer Menschenart zuordnen. Nun muss geprüft werden, ob sich DNA aus diesen Knochenfragmenten isolieren lässt – dies könnte die Frage nach den Werkzeugmachern beantworten.
Nach Ansicht der Forscher spricht die Arbeitsteilung aber in jedem Fall dafür, dass die Menschen damals bereits soziale Kontakte und einen Austausch von Werkzeugen über ihre Kleingruppe hinaus besaßen. "Was wir in Mughr el-Hamamah sehen, ist dass die Individuen und ihre Familien begannen, in größeren, kulturell stärker strukturierten Netzwerken zu leben und zu arbeiten", so Stutz. Dieser gesellschaftliche Wandel könnte seiner Ansicht nach für unsere Vorfahren typisch gewesen sein und mit dazu beigetragen haben, die Neandertaler zu verdrängen. (Journal of Human Evolution, 2015;
(Emory Health Sciences, 15.06.2015 - NPO)
Nota. - Gewöhnlich nimmt man an, dass sich eine Arbeitsteilung innerhalb der Gemeinschaft, die über die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern (und die Freistellung der Schamanen) hinausging, erst mit der Sedentarisierung und dem Übergang zum Ackerbau ausgebildet habe. Der erste Beruf in einem industriellen Sinn seien die Schmiede gewesen. - Sie könnten ihre Vorläufer in den Werkzeugmachern gehabt haben - vor der neolithischen Revolution.
JE
Sonntag, 14. Juni 2015
Industrielle Geldmacher.
aus derStandard.at, 3. Juni 2015, 15:47 Kreuzer aus Hall, Regentschaft von Maximilian I.
Archäologischer Fund stärkt Halls Welterbe-Hoffnungen
Grabungen fördern mögliche Überreste einer Münzprägemaschine aus dem 16. Jahrhundert zutage
Hall in Tirol - Grabungen nach einem Wasserrohrbruch in der Burg Hasegg in Hall in Tirol könnten eine archäologische Überraschung zutage gefördert haben: Bei den Arbeiten nach dem Wasserschaden wurden "sehr wahrscheinlich" Überreste der Antriebsanlage einer Walzenprägemaschine im Museumsareal entdeckt, teilte die Stadt mit.
Die Walzenprägung war ein Verfahren zur Herstellung von Münzen, das Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelt worden war. Derzeit gehe man davon aus, dass die vermutete Antriebsanlage aus dieser frühen Phase stammen könnte. Das müsse jetzt aber durch Untersuchungen bestätigt werden, sagt Caroline Schneider von der Koordinationsstelle Welterbe in Hall in Tirol.
Neue Gesichtspunkte
Der Fund könnte eine Überarbeitung der laufenden Bewerbung Halls als UNESCO-Weltkulturerbe notwendig machen. "Im Zuge der Einreichung verpflichtet sich die einreichende Institution, neue Funde oder Erkenntnisse, die die Einreichung betreffen, umgehend zu melden", erklärte Welterbe-Referent Bruno Maldoner vom Bundeskanzleramt. Daher sei die UNESCO auch umgehend informiert worden. Der Fund könnte nämlich - nach eingehender Prüfung - eine industrielle Nutzung belegen. Und dies würde die Chancen auf eine Auszeichnung sehr erhöhen, so Maldoner.
Walzenprägung: Die Münzen musste aus dem geprägten Silberblech noch ausgestanzt werden.
Die Münzstadt Hall hatte sich im Jänner 2014 für die Aufnahme als Weltkulturerbe beworben. Die Burganlage wurde bereits im Jahr 1306 erwähnt. Ihren bedeutendsten Aufschwung erlebte sie 1567, als Erzherzog Ferdinand II. die Münzstätte, die von Siegmund dem Münzreichen 1477 von Meran nach Hall transferiert worden war, von Sparberegg in die Burg Hasegg verlegen ließ. Die letzte Münze wurde dort 1809 geprägt.
"Ein archäologischer Nachweis auf industrielle Nutzung wurde hier bisher nur vermutet", sagte Andreas Ablinger von der Münze Hall. Daher sei das Ergebnis eine "außerordentliche Überraschung" gewesen. Der Bewerbungsprozess werde sich zwar dadurch verlängern, aber die "neuen Funde unterstützen die bisherige Argumentation in so großem Maße - sie nicht mitaufzunehmen, hieße eine große Chance nicht wahrzunehmen", so Schneider. (APA/red)
Burg Hasegg, Hall, Tirol
Archäologischer Fund stärkt Halls Welterbe-Hoffnungen
Grabungen fördern mögliche Überreste einer Münzprägemaschine aus dem 16. Jahrhundert zutage
Hall in Tirol - Grabungen nach einem Wasserrohrbruch in der Burg Hasegg in Hall in Tirol könnten eine archäologische Überraschung zutage gefördert haben: Bei den Arbeiten nach dem Wasserschaden wurden "sehr wahrscheinlich" Überreste der Antriebsanlage einer Walzenprägemaschine im Museumsareal entdeckt, teilte die Stadt mit.
Die Walzenprägung war ein Verfahren zur Herstellung von Münzen, das Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelt worden war. Derzeit gehe man davon aus, dass die vermutete Antriebsanlage aus dieser frühen Phase stammen könnte. Das müsse jetzt aber durch Untersuchungen bestätigt werden, sagt Caroline Schneider von der Koordinationsstelle Welterbe in Hall in Tirol.
Neue Gesichtspunkte
Der Fund könnte eine Überarbeitung der laufenden Bewerbung Halls als UNESCO-Weltkulturerbe notwendig machen. "Im Zuge der Einreichung verpflichtet sich die einreichende Institution, neue Funde oder Erkenntnisse, die die Einreichung betreffen, umgehend zu melden", erklärte Welterbe-Referent Bruno Maldoner vom Bundeskanzleramt. Daher sei die UNESCO auch umgehend informiert worden. Der Fund könnte nämlich - nach eingehender Prüfung - eine industrielle Nutzung belegen. Und dies würde die Chancen auf eine Auszeichnung sehr erhöhen, so Maldoner.
Walzenprägung: Die Münzen musste aus dem geprägten Silberblech noch ausgestanzt werden.
Die Münzstadt Hall hatte sich im Jänner 2014 für die Aufnahme als Weltkulturerbe beworben. Die Burganlage wurde bereits im Jahr 1306 erwähnt. Ihren bedeutendsten Aufschwung erlebte sie 1567, als Erzherzog Ferdinand II. die Münzstätte, die von Siegmund dem Münzreichen 1477 von Meran nach Hall transferiert worden war, von Sparberegg in die Burg Hasegg verlegen ließ. Die letzte Münze wurde dort 1809 geprägt.
"Ein archäologischer Nachweis auf industrielle Nutzung wurde hier bisher nur vermutet", sagte Andreas Ablinger von der Münze Hall. Daher sei das Ergebnis eine "außerordentliche Überraschung" gewesen. Der Bewerbungsprozess werde sich zwar dadurch verlängern, aber die "neuen Funde unterstützen die bisherige Argumentation in so großem Maße - sie nicht mitaufzunehmen, hieße eine große Chance nicht wahrzunehmen", so Schneider. (APA/red)
Burg Hasegg, Hall, Tirol
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