Dienstag, 16. Juni 2015

Achthundert Jahre Magna Carta

aus beta.nzz.ch, 12.6.2015, 11:47 Uhr

Eine mittelalterliche Urkunde und ihre Geschichte
Die «Magna Carta Libertatum» ist am 15. Juni 1215 vom englischen König Johann Ohneland besiegelt worden. Die Geschichte der «Grossen Urkunde der Freiheiten» ist auch die Geschichte ihrer Rezeption.

von Frank Rexroth

Mit dem Referendum über die Zugehörigkeit zur Europäischen Union, das David Cameron spätestens für das Jahr 2017 in Aussicht gestellt hat, steht für die Wähler im Vereinigten Königreich abermals eine Richtungsentscheidung von allergrösster Bedeutung an. Essenzielle Bestandteile der europäischen Integration stehen zur Debatte, ja der Premierminister und seine politischen Verbündeten kritisieren derzeit überhaupt das europäische Ziel einer «ever closer union» massiv. Ganz im Gegenteil müsse das Eigengewicht der Mitgliedsstaaten vergrössert werden, so heisst es in London.

Ein Manifest

Erwartungsgemäss organisieren sich derzeit die Befürworter dieser Politik in Interessengruppen und Lobbys. Rückendeckung erfährt die Tory-Regierung vor allem von der Initiative «Business for Britain», die ihre Mitglieder aus Kapitänen der Wirtschafts- und Finanzwelt rekrutiert. Dieser sekundiert allerdings auch eine kleinere Gruppe namens «Historians for Britain», die 2013 erstmals an die Öffentlichkeit trat und über die in britischen Historikerkreisen gegenwärtig viel gesprochen wird. Grund dafür ist, dass der Cambridger Historiker David Abulafia am 11. Mai auf der Online-Plattform «History Today» ein Manifest veröffentlicht hat, das von weiteren programmatischen, allesamt online zur Verfügung gestellten Texten verbündeter Gelehrter flankiert wird.

Das Bild der englisch-britischen Geschichte, das darin entworfen wird, ist in allen seinen Bestandteilen bekannt, handelt es sich doch um die im 19. und frühen 20. Jahrhundert dominierende Sichtweise von einer besonderen «quality of uninterruptedness», die die Entwicklung vor allem der Verfassungs- und Verwaltungsorgane in England und dem Vereinigten Königreich ausmache. Stets hätten Engländer und Briten es geschafft, ihr Gemeinwesen auf einem mittleren Kurs zwischen denjenigen Extrempositionen hindurchzusteuern, die für das Schicksal der kontinentaleuropäischen Staaten prägend gewesen seien: extreme Beharrung und Revolution, Reaktion und Anarchie. Den kontinentalen Nachbarn falle es vergleichsweise leicht, die Kompetenzen ihrer nationalen Institutionen zugunsten europäischer Gerichtshöfe und Administrationszentren zu schwächen, denn jene Einrichtungen seien ja zumeist nur ein paar Jahrzehnte alt und daher weder in der politischen Kultur noch in den historischen Traditionen ihrer Länder tief verwurzelt. Für das Vereinigte Königreich stehe mit der europäischen Einigung viel mehr auf dem Spiel: Seine Institutionen reichten weit in die mittelalterliche Vergangenheit der Engländer zurück. Wo sich die europäischen Nachbarn an radikale Verfassungsumbrüche, an Katastrophen und zerstörerische Kriege erinnern müssten, sei das Vereinigte Königreich verwurzelt in einer «largely uninterrupted history since the Middle Ages», so schliesst Abulafia sein Manifest.

Diese Töne lösten unter Historikern einen Sturm der Entrüstung aus. Eine Protestnote unter der Überschrift «Fog in Channel, Historians Isolated» wurde von zehnmal so viel professionellen Historikerinnen und Historikern unterschrieben, wie die Kampagne «Historians for Britain» Mitglieder hat. Die Kritik richtete sich darauf, dass Abulafias Manifest einem Narrativ der englisch-britischen Geschichte den Vorzug gab, das lange bekannt ist, das aber von Fachhistorikern schon seit Jahrzehnten als antiquiert angesehen wird. Denn spätestens seit den 1960er Jahren haben die Historiker die europäischen und globalen «entanglements» der britischen Vergangenheit in den Vordergrund der Geschichtsbetrachtung gerückt. Lange schon gilt die Erzählung von der «quality of uninterruptedness», ja vom britischen Exzeptionalismus als ideologisch und überholt.

Erwartungsgemäss riefen die Kritiker Ereignisse und Phänomene in Erinnerung, um die Abulafia herumgeschrieben hatte: die zahlreichen Kolonialismen, so etwa den, der seit dem Beginn des englischen Engagements im mittelalterlichen Irland und Wales existiert hatte; den überaus blutigen Bürgerkrieg, ja überhaupt die revolutionären Umbrüche des 17. Jahrhunderts, ohne die es politische Innovationen wie das Prinzip der Parlamentssouveränität niemals gegeben hätte; die angeblich typisch kontinentalen Irrwege des Nationalismus oder gar der Judenfeindschaft, die auch Bestandteile der britischen Geschichte waren.

Es war unvermeidlich, dass die Erinnerung an die «Magna Carta», deren Besiegelung sich in diesen Tagen zum achthundertsten Mal jährt, in den Sog des Historikerstreits hineingezogen wird. Nigel Saul, selbst ein Angehöriger der Gruppe «Historians for Britain» und Mittelalter-Historiker wie Abulafia auch, blendet in einem Essay, den er der «troubled relationship» zwischen England und dem Kontinent widmet, leitmotivisch immer wieder auf die «Carta» zurück, wenn er die Verschiedenheit der englischen politischen Kultur vom europäischen Normalweg betont. Für Saul markierte die «Grosse» Urkunde von 1215 den Anfang einer acht Jahrhunderte überspannenden Geschichte des englischen Parlaments als des zentralen Verfassungsorgans, sie steht für ihn am Beginn einer politischen Mentalität, nach der die Autorität des Monarchen stets auf der formellen Zustimmung eines stark erweiterten Königsrats beruhe.

Bedeutungszuwachs

Selbst wenn diese Verfassung niemals förmlich kodifiziert worden sei, so Saul, hätten die in der mittelalterlichen Urkunde angesprochenen Prinzipien die Entwicklung des englischen Königreiches weiterhin begleitet. So seien etwa in der «Habeas Corpus»-Akte von 1679 Gedanken über die Illegitimität von willkürlicher Verhaftung ausgedrückt worden, die in der «Magna Carta» bereits angelegt gewesen seien. Gelehrtes Wissen und Politik berühren sich in diesem populären Erinnerungsort, äussert sich doch auch David Cameron derzeit in Rede- und Zeitungsbeiträgen gerne zu ihm. Die Urkunde ist Gegenstand unzähliger Veranstaltungen, wegen des Jubiläums finden griffige Slogans wie «Magna Carta matters» oder gar «800 years of democracy» reichen Absatz.

Auffälligerweise bezieht sich der Historiker Saul aber kaum auf den Akt der Ausstellung jener Urkunde am 15. Juni 1215 bei Runnymede nahe der Königsburg von Windsor, sondern viel stärker auf die Effekte, die diese Urkunde in späteren Zeiten auslöste. Die Geschichte der «Magna Carta» scheint die Geschichte ihrer Rezeption zu sein, die Abfolge von Bedeutungen, die man ihr während der vergangenen achthundert Jahre zugeschrieben hat. Auch wenn sie seit der Ära König Edwards I. den Rang eines Statuts besass, war ihr doch über den grösseren Teil ihrer mittelalterlichen Vergangenheit hinweg wenig Aufmerksamkeit beschieden. Die Aufständischen der sogenannten «Peasants' Revolt» von 1381 beriefen sich in ihrem utopischen Gesellschaftsentwurf nicht auf sie, sondern auf ein obskures anderes Parlamentsstatut, von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wussten, ob es jemals existiert hatte. Erst in der Polemik gegen die monarchischen Theorien der frühen Stuart-Könige wurde die «Carta» ab den 1620er Jahren von Juristen wie Sir Edward Coke zum ideologischen Anknüpfungspunkt – die Könige Jakob I. und Karl I. wollten die Diskussionen über den alten Text möglichst eindämmen.

Der Höhepunkt der Rezeption war der Rückgriff auf die mittelalterliche Urkunde in den nordamerikanischen Kolonien des 18. Jahrhunderts, dort wurde sie sogar gegen das britische Parlament vereinnahmt. So lehnten die rebellischen Amerikaner etwa die ihnen auferlegte Stempelsteuer mit der Begründung ab, dass diese gegen die Verfügungen der «Carta» verstosse. Das Denkmal in Runnymede, am Ort der Besiegelung, wurde 1957 von der American Bar Association errichtet, nicht von britischen Tories oder Whigs.

Seit der Unabhängigkeitserklärung der Amerikaner hat man den Text weltweit als Meilenstein in der Geschichte der Bürgerrechte angesehen. Dazu trugen weniger die im 13. Jahrhundert besonders heiklen Eingangspassagen zur Freiheit der Kirche und zum Erbrecht der Barone bei als vielmehr diejenigen Paragrafen, mit denen das Recht zur Erhebung von Steuern weitgehend an den Konsens einer Ratsversammlung geknüpft wurde – es war dieser Rat, aus dem innerhalb von hundert Jahren das königliche «parliamentum» hervorgehen sollte. Die meisten Belange der Urkunde erschienen allerdings schon den amerikanischen Siedlern als Bestandteile einer vergangenen Welt: die Erleichterung der Schifffahrt auf der Themse, das Lehnrecht, der Unterhalt von Burgen, die Festlegung eines Busstarifs und die Rechte und Pflichten, die den Vasallen und seinen Herrn aneinanderbanden.

Artikel 39

Den bleibenden Ruhm der Urkunde sollte vor allem der denkwürdige Artikel 39 ausmachen, der besagte, dass kein freier Mann verhaftet, enteignet, geächtet, verbannt oder anderweitig angegriffen werden dürfe, es sei denn durch den Rechtsspruch von seinesgleichen, wobei dieser nach dem Gesetz des Landes zu erfolgen hatte. Die Spezifikation als «grosse» Urkunde erhielt eine emphatische Note, die universalhistorischen Rang anzuzeigen schien; dabei hatte sie ursprünglich schlicht der Abgrenzung des Diploms von dem kleineren, 1217 ausgestellten Privileg über die königlichen Wälder («Carta Forestarum») gedient. In ihrer ursprünglichen Gestalt war das Diplom wohl an die Krönungsurkunde König Heinrichs I. von 1100 angelehnt, die die Eintreibung königlicher Abgaben hatte regeln wollen. Stärker noch als auf dieses Vorbild ging sie allerdings auf zwei Forderungskataloge zurück, die König Johanns adlige Untertanen seit dem Frühjahr 1215 verfasst hatten.

Die «Carta» selbst war das Produkt zäher Verhandlungen, der Konflikt des erfolglosen und unbeliebten Königs Johann mit den englischen Magnaten hatte sie notwendig gemacht. Johanns Kampagnen auf dem europäischen Festland waren desaströs gescheitert, die Schlacht bei Bouvines 1214 gegen den König von Frankreich hatte Johann als militärischen Führer desavouiert. Als im 14. Jahrhundert John of Gaunt als Prätendent auf den Königsthron bereitstand, sprach schon allein sein Name gegen ihn – die Engländer konnten sich nicht vorstellen, jemals wieder von einem Johann regiert zu werden. «King John was a shit!», kolportiert der Historiker John Gillingham die Fama des royalen Versagers von 1214/15 – auch dies ein vielzitiertes Wort im gegenwärtigen Jubiläumsrummel.

In der Tat blieb Johann nach der Ausstellung des Diploms sich selber treu. Er ignorierte dessen Verfügungen, so dass die Erinnerung der Nachgeborenen an die Wiederausfertigungen der Urkunde aus späterer Zeit anknüpfte und nicht an das Original vom Juni 1215. Auch wenn diese Neufassungen immer königsfreundlicher und kürzer ausfielen, blieb die Spanne der angesprochenen Materien immer noch ansehnlich breit, ja immerhin vier der ursprünglich etwa sechzig Verfügungen sind noch heute in Geltung, darunter auch der besagte Artikel 39. Die Briten haben allen Grund, stolz auf diese Urkunde zu sein.

Doch sollten sie dabei nicht vergessen, dass die «Magna Carta» zugleich ein Kapitel aus der Geschichte der zeittypischen europäischen Herrschaftsverträge ist, wie sie im Hoch- und Spätmittelalter zwischen Fürsten und Magnaten ausgehandelt wurden. An vielen Orten des Kontinents rangen die Grossen des Landes ihren Monarchen solche Zugeständnisse ab: «Dies sind die Kapitel, die die Barone erbaten und die der Herr König gewährte», hatte es in den «Articles of the Barons» geheissen, die der «Carta» zugrunde gelegen hatten. Das heisst, dass die «Magna Carta» an der Seite etwa der ungarischen «Goldenen Bulle» von 1222 oder des Brabanter «Blijde Inkomst» von 1356 steht. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Strategien aus dem europaweit geteilten Handlungsrepertoire des Hochadels in den jeweiligen Königreichen die lokale politische Kultur veränderten. Als Fetisch für die Gegner der britischen EU-Mitgliedschaft taugt sie nicht.

Dr. Frank Rexroth lehrt und forscht als Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.

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