Die Vorgeschichte zum deutschen Einmarsch von 1941
Russischer Opfermythos
Der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls gab Russland einmal mehr die Gelegenheit, den Opfergang des Grossen Vaterländischen Kriegs zu feiern. Dabei war die UdSSR 1941 alles andere als eine Friedensmacht.
«Meinst
du, die Russen wollen Krieg?» Mit dieser Zeile aus einem Lied des
sowjetischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko warb die Linksfraktion des
Deutschen Bundestags für eine Friedensveranstaltung anlässlich des 75.
Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion. Plakate mit diesem Spruch
waren überall auf Berliner Strassen zu sehen. Für viele Deutsche, auch
deutsche Politiker, scheint dies eine rhetorische Frage zu sein, die mit
einem eindeutigen Nein zu beantworten ist.
Weder die Annexion der Krim noch der Überfall auf die Ostukraine
noch Manöver an den Grenzen europäischer Nachbarstaaten mit bis zu 100
000 beteiligten Soldaten oder die Verlegung nuklearfähiger
Mittelstreckenraketen in die russische Exklave Kaliningrad mitten in
EU-Gebiet oder der Einsatz von geächteter Streumunition in Syrien
vermögen Zweifel an russischen Friedensabsichten zu wecken. Viel lieber
spricht man, wie der deutsche Bundesaussenminister Frank-Walter
Steinmeier, vom «Säbelrasseln» und vom «Kriegsgeheul» der Nato, die in Polen die Abwehr eines nicht näher genannten Aggressors übt, oder vom deutschen Tätervolk.
Im
Erscheinungsjahr 1961 konnte man Jewtuschenkos Lied noch als Ausdruck
der Kriegsmüdigkeit verstehen. Bezogen auf den 22. Juni 1941 wirkt aber
sein Refrain in der aktuellen Politwerbung der Friedensbewegten doppelt
geheuchelt. Denn die Sowjetunion, die von Nazideutschland überfallen
wurde, war alles andere als ein friedlicher Staat. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939
besetzte und annektierte die UdSSR Teile von Polen, Finnland und
Rumänien sowie Estland, Lettland und Litauen; Hunderttausende Bürger
dieser Länder wurden ermordet und deportiert. So wie heute begleitete
damals Friedensrhetorik jeden Überfall: Man habe die ukrainischen und
weissrussischen «Brüder» vor polnischen und rumänischen Nationalisten
schützen wollen, die baltischen Staaten hätten die UdSSR freiwillig um
den Beitritt gebeten, und das imperialistische Finnland, das damals etwa
3,6 Millionen Einwohner zählte, habe selbst vorgehabt, die
hochgerüstete Sowjetunion zu überfallen.
Diese üble Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs hat die sowjetische Propaganda später mit allen Mitteln heruntergespielt, damit im historischen Gedächtnis der Welt nur noch der Grosse Vaterländische Krieg bleibe.
In den betroffenen osteuropäischen Staaten, auch in denen, die
Teilrepubliken der UdSSR waren, ist dieses Kalkül nicht ganz
aufgegangen, doch Russland wie Deutschland leben mit diesem Mythos
weiter, so als habe es die mörderische Allianz von Hitler und Stalin
niemals gegeben.
In
Jewtuschenkos Frage, ob die Russen Krieg wollen, schwingt auch eine
unfreiwillige Anspielung auf die Moral der Sowjetbürger im ersten
Kriegsjahr mit, die der Dichter so bestimmt nicht beabsichtigte. Den
entschlossenen Widerstand gegen Hitler gab es nur in der Propaganda,
weder die Rote Armee noch die Bevölkerung wollten kämpfen. Bis Ende 1941
gerieten 3,8 Millionen Rotarmisten, unter ihnen 63 Generäle, in
deutsche Kriegsgefangenschaft, viele von ihnen freiwillig. 1,5 Millionen
Soldaten begingen Fahnenflucht.
Die
Sowjetmacht war nicht nur in den frisch besetzten Gebieten, sondern
auch im Kernland bei vielen Bürgern verhasst. Das Bild, das die
Sowjetpropaganda nach dem Hitler-Stalin-Pakt von Deutschland zeichnete,
war dagegen sehr vorteilhaft, man pries den sozialen Aufbau im Nazistaat
und seinen Widerstand gegen die imperialistischen Angelsachsen. Der
schnelle Vormarsch der Wehrmacht hatte nicht allein mit der
Plötzlichkeit des Überfalls zu tun, wie es die Sowjetpropaganda
darstellte. Auch war die Rote Armee, entgegen Stalins Behauptung, der
Wehrmacht technisch nicht unterlegen, sondern von ihm selbst durch
Säuberungen demoralisiert und geschwächt. Breite Teile der Bevölkerung
sahen in den einmarschierenden Deutschen mehr Befreier vom Kommunismus
denn Besatzer.
Der
Antisemitismus war auch in der UdSSR sehr verbreitet, damit hatten
viele Sowjetbürger kein Problem. Viel schwieriger war für viele die
Entscheidung, sich entweder mit dem Aggressor gegen das Regime zu
solidarisieren oder an der Seite des Regimes gegen den Aggressor zu
kämpfen. Es vergingen Monate, bis die Grausamkeiten der Besatzungsmacht
und die unmenschliche Behandlung der Kriegsgefangenen die Stimmung in
der Bevölkerung endgültig zum Kippen brachten.
Dass der deutsch-sowjetische Krieg zum Grossen Vaterländischen Krieg
stilisiert und zu einer deutsch-russischen Angelegenheit erklärt wird,
die andere osteuropäische Staaten ausklammert und die Sowjetunion als
unschuldiges Opfer erscheinen lässt, ist eine besonders perfide Lüge. In
vielen Kreisen Deutschlands pflegt man sie aus Angst vor dem
Relativieren der Naziverbrechen, so als komme die Anerkennung von
sowjetischen Untaten einer Absolution für die deutschen Täter gleich.
Russland wiederum begründet damit seine vermeintlichen
Einkreisungsängste und rechtfertigt so seine Aggression gegen die
Nachbarn.
Nikolai Klimeniouk, geboren 1970 in Sewastopol auf der Krim,
war Redaktor bei Forbes Russia, beim Moskauer Stadtmagazin Bolschoj Gorod sowie
beim unabhängigen regierungskritischen Online-Magazin Publicpost.ru, das im Juni
2013 unter politischem Druck geschlossen und vom Netz genommen wurde. Seit 2014
lebt er als freier Autor in Berlin.