Dienstag, 16. August 2016

Gespielter Ernst und ernsthaftes Spiel.

Sehn Sie's sich an: Das ist richtige Kunst.
aus nzz.ch, 12.05.2015 - 17:45

In Zeiten rigider Gesinnungsmoral
Illusionen, Spiele und Zerstreuung haben ihre Leichtigkeit verloren. Für den Philosophen Robert Pfaller steht fest: Der Mensch leidet unter dem Zwang, immer sich selbst zu sein.

Interview von Anja Schulthess

Herr Pfaller, seit der römische Dichter Juvenal den berühmten Ausspruch «panem et circenses» (Brot und Zirkusspiele) geprägt hat, glauben wir, Genuss lenke uns von den ernsten Dingen des Lebens ab. Sie haben einmal gesagt, Genuss sei politisch. Wie soll Genuss denn politisch sein?

Die entscheidende Frage ist, ob Menschen ein gutes Leben haben wollen und bereit sind, dafür zu kämpfen. Oder ob sie sich von dem Zwiespältigen, Unguten, das fast allen unseren Genüssen anhaftet, einschüchtern lassen – Alkohol berauscht, Parties sind kostspielig, Spaziergänge sind Zeitverschwendung. Sind wir bereit, uns von der Politik bevormunden zu lassen? Wollen wir Verbote, gutgemeinte Warnungen, den Abbau des Sozialsystems und die Einschränkung der Bürgerrechte hinnehmen? Beispielhaft für eine mündige, rebellische und dem Leben zugewandte Haltung scheinen mir folgende Zeilen aus Bertolt Brechts Gedicht «Resolution der Kommunarden»: «In Erwägung, dass ihr uns dann eben mit Gewehren und Kanonen droht, haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod.» Denselben Gedanken gibt es übrigens auch bei Juvenal, der schreibt: «Betrachte es als die grösste Schande, das nackte Leben der Scham vorzuziehen und um des Lebens willen die Gründe, für die es sich zu leben lohnt, zu verlieren.» Diese Haltung ist das Gegenteil der Politik von heute, die so tut, als müssten wir alles opfern, nur damit wir nicht sterben.

Die dummen Römer haben sich von Brot und Spielen mundtot machen lassen, und die dummen Leute von heute finden Zerstreuung in Medienspektakeln wie einer Fussball-WM. Ist dem tatsächlich so?

Zerstreuung ist nicht per se böse. Auch in der freiesten, egalitärsten, politisch wachsten Gesellschaft, die wir uns vorstellen können, wird es Zerstreuung geben – als notwendige Erholung von den Anstrengungen des Lebens.



Schön. Aber wenn Medienspektakel heute nicht mehr die eigentlichen Ablenkungsmanöver sind, welche sind es dann?

Eine viel gefährlichere Form der Zerstreuung als Fussball scheint mir in gesellschaftlichen Mechanismen vorzuliegen, die dafür sorgen, dass sich niemand mehr mit irgendetwas ernsthaft und konzentriert beschäftigen kann. Einerseits zwingen uns Kommunikationsmedien dazu, ständig und sofort auf irgendetwas zu antworten. Andererseits steht uns die Bürokratie im Weg. So haben Studierende heute kaum noch Zeit, sich den Inhalten ihres Studiums zu widmen. 80 Prozent ihrer Aufmerksamkeit werden von Formalien wie Studienplänen, Prüfungsmodalitäten und der Einhaltung von Fristen und Ähnlichem absorbiert.

In Tat und Wahrheit haben wir sehr wenig Spass. Denken Sie 
nur an bestimmte Reality-TV-Formate.

Nehmen wir an, Brot stehe für die notwendige materielle Grundlage, und Spiele für Genuss und Spass. Beides scheint in unserer Gesellschaft doch ausreichend vorhanden zu sein. Wenn dem so ist, müsste es uns nach Ihren Vorstellungen eigentlich ausgezeichnet gehen. Richtig?

Nun, in Deutschland leben 13 Millionen Menschen an oder unter der Armutsgrenze, wie ich einer aktuellen Statistik entnehme. Das ist eher ein Zeichen dafür, dass es selbst in den reichsten Ländern keineswegs problemlos Brot für alle gibt. Und die Spiele und Spektakel liefern auch nicht einfach nur Spass. Sie sind oft entwürdigende Vorführungen von Deklassierung. Denken Sie nur an bestimmte Reality-TV-Formate. Um Aufmerksamkeit oder Prominenz zu erhaschen, muss man Würmer essen. Und wenn es im Container Sex gibt, dann wird das als vulgäres Unterschichtenphänomen präsentiert. Es ist eine Drohung an die Zuschauer: «Wenn ihr euch nicht benehmt, dann sitzt ihr morgen selbst im Container. » In Tat und Wahrheit haben wir nur sehr wenig Spass. Was wir haben, ist eine Flut an grotesken Zerrbildern, die uns den Spass in einer so abschreckenden Form präsentieren, dass wir mit Erleichterung davon Abstand nehmen.
Im Anschluss an den niederländischen Kulturtheoretiker Johan Huizinga, der den Menschen als «homo ludens» und das Spiel als Ursprung von Kultur überhaupt bestimmt, stellen Sie heute einen Rückzug des Spiels aus unserer Kultur fest. Dabei werden wir von Spielangeboten doch geradezu überhäuft. Sogar aus dem Einkaufen wird ein Spiel gemacht, in dem man Punkte sammeln darf.

Nicht alles, wofür es Punkte gibt, ist ein Spiel. Davon können Bologna-geplagte Studierende ein Liedchen singen. Es ist doch bezeichnend: Seit es ECTS-Punkte gibt, ist fast alles Spielerische aus dem Studium verschwunden. Dass man etwas ausprobieren konnte, vielleicht abwegigen Forschungsinteressen nachgehen oder über den Rand des eigenen Fachs hinausschauen durfte. Im postmodernen Alltag herrscht eine rigide Gesinnungsmoral, die jeden Anflug von Spielerei oder gar von Charme oder Glamour misstrauisch beäugt, sofern sie nicht ohnehin gleich nach Verbot und Polizei ruft – wie etwa bei der Tabakkultur. Stellen Sie sich nur einmal vor, wie viel Spiel möglich ist, wenn Lauren Bacall, an der Tür lehnend, Humphrey Bogart nach Feuer fragt («To Have and Have Not», 1944. Die Red.), und vergleichen Sie das mit unseren verarmten Darstellungsformen. Selbst die Kunst muss heute überaus seriös, wissenschaftlich schwerfällig, das heisst möglichst mit Fussnoten daherkommen und darf sich kaum mehr etwas Verrücktes, Eigenwilliges geschweige denn Grandioses erlauben.



Worin sehen Sie das Potential des zweckfreien Spiels gegenüber dem Punktesammeln?

Jedes Spiel enthält, wie Huizinga bemerkt hat, eine bestimmte Illusion, die niemals unsere eigene ist. Etwa, dass es wichtig wäre, den Tennisball zu treffen und dass dieser diesseits oder zumindest auf einer Linie landet. Wenn wir spielen, dann tun wir so als ob. Nun ist es für Menschen sehr gut, Illusionen zu pflegen, die nicht ihre eigenen sind. Es macht sie froh, humorvoll und gesellig. Seit der Postmoderne hingegen meinen wir, dann am glücklichsten zu sein, wenn wir nur jene Illusionen dulden, an die wir selbst glauben.


«Be Yourself!» ist zum postmodernen Imperativ par excellence geworden. Alle wollen ständig authentisch sein.

Wenn wir nur die Illusionen dulden, an die wir selber glauben, dann wollen wir authentisch sein. Was hat Authentizität mit Postmoderne zu tun?

Die Postmoderne ist angetreten mit dem Programm, dass die «grossen Erzählungen» wie Christentum, Sozialismus und Aufklärung erledigt seien. Wir glauben also angeblich an gar nichts mehr. Wer aber an nichts anderes glaubt, an nichts Grösseres oder Kleineres als einen selbst, der glaubt stillschweigend nur noch an sich selbst. «Be Yourself!» ist darum zum postmodernen Imperativ par excellence geworden. Darum wollen alle ständig authentisch sein – man gönnt sich kaum eine Freude mehr. Denn dann müsste man wenigstens einen Moment lang ein bisschen jemand anderes sein.

Kann man dem Rückzug der spielerischen Leichtigkeit aus unserer Kultur entgegenwirken?

Natürlich. Zum Beispiel, indem wir uns Filme aus den 60er und 70er Jahren ansehen, indem wir ehrlich sind und uns eingestehen, wie viel Lebensfreude wir seither verloren haben.

Das ist aber sehr nostalgisch. Mit dem Betrauern vergangener Zeiten wird unsere Kultur doch nicht spielerischer und lustvoller.

Wir sollten der verlorenen Lebensfreude auch nicht hinterhertrauern und in Nostalgie schwelgen, sondern vor allem versuchen, daraus zu lernen.

Reden wir noch ein wenig über Sport. Verzeihen Sie mir den Rückschluss von Ihren Büchern auf Ihre Person – aber das gehört zu unserem Spiel: Schauen Sie Fussball, Herr Pfaller?

Ja, seit einigen Jahren wieder, mit einer gewissen Regelmässigkeit und Faszination.

Sie sind Philosoph. Was fasziniert Sie am Sport?

Da gibt es verschiedene Ebenen. Zunächst verschafft er Erholung durch Ablenkung. Dann gibt es ein von verschiedenen Theologen übrigens scharfsinnig beobachtetes rituelles, ja gar liturgisches Moment: Sport im Fernsehen strukturiert meine Zeit. Die deutsche Bundesliga markiert meine Samstagnachmittage; die K.-o.-Phase der Champions League bildet beinahe so etwas wie eine Jahreszeit. Im übrigen hat sich der Fussball, auch durch geschickte Änderungen des Reglements – der Torhüter darf einen Rückpass nicht mehr in die Hände nehmen, gleiche Höhe ist kein Abseits mehr –, vor der drohenden Erstarrung gerettet. Bis in die frühen 90er Jahre zählte vor allem die Athletik. Dann gewannen Technik und spielerische Kreativität an Bedeutung. Das ist schön anzusehen. Vom Spielwitz, den manche Mannschaften besitzen, kann man sich durchaus inspirieren lassen. Nicht zuletzt kann man vom Fussball auch etwas lernen. Zum Beispiel über die Fragwürdigkeit von Kennzahlen.

Den Universitäten würde es gut tun, von ihrem 
Kennzahlenfetischismus abzulassen.

Es gibt fragwürdige Kennzahlen im Fussball? Statistiken lügen doch nicht.

Na ja. Es kommt vor, dass eine Mannschaft nach Meinung sämtlicher Beobachter verdient verliert, obwohl sie weitaus mehr Ballbesitz hatte, mehr und präzisere Pässe gespielt, mehr Torschüsse verzeichnet und auch mehr Zweikämpfe gewonnen hat. Die wirkliche Leistung wird durch solche Zahlen und Daten oft verschleiert.

Und was können andere Bereiche nun vom Fussball lernen, die Hochschulen zum Beispiel?

Den Universitäten würde es ebenfalls gut tun, von ihrem Kennzahlenfetischismus – welcher Dozent hat wann wo wie viel publiziert? – abzulassen und wieder mehr auf die tatsächlichen Leistungen zu achten. Allerdings würde das eine Entmachtung der Bürokratie voraussetzen. Denn diese lebt von der Übersetzung der Realitäten in Kennzahlen. Um die Realitäten wissenschaftlicher Leistung adäquat einschätzen zu können, müsste man sich wieder mehr an die Wissenschafter selbst halten.

Ich erinnere mich an den Besuch eines Eishockeyspiels mit meinem Vater und meinem Bruder. Das Erlebnis war etwas verstörend. Mein Vater, ein zurückhaltender, ruhiger, rational veranlagter Mann, verfolgte das Spiel gebannt und geriet bei einem Tor völlig ausser sich. Was war passiert?

Das ist genau das, was Johan Huizinga als den «heiligen Ernst» des Spiels bezeichnet. Nur das Spiel versetzt uns in solche ekstatische Freude, Begeisterung, rührt uns zu Tränen. Diese gesteigerte Affektivität rührt daher, dass wir wissen, dass es nicht echt ist. Dadurch sind wir abgekoppelt von den Bedingungen der Realität, die unsere Leidenschaften im übrigen Leben so sehr im Zaum halten.

Sportstadien funktionieren also nach anderen Regeln als das normale, profane Leben?

Jedes Spiel, jedes Fest, jedes kleine Unterbrechungsritual erinnert den Menschen daran, dass er nicht immer nur funktionieren muss – und sei es nur, dass man mal mit einem Kollegen einen Kaffee trinken geht und dabei nicht über die Arbeit spricht.

Und darin sehen Sie politisches Potential?

Ja. Denn wenn der Mensch vergisst, dass er nicht immer nur funktionieren muss, wird er beherrschbar und lässt sich ausbeuten.


Aristoteles hat einmal gesagt: Leute, die in derben Verhältnissen leben, 
brauchen auch derbe Vergnügungen.

Aber mal ehrlich: Horden von Fussballfans, die sich nach einem Derby betrinken – das hat doch nichts mehr mit Genuss in Ihrem Sinne zu tun!

Aristoteles hat in ähnlichem Zusammenhang einmal gesagt: Leute, die in derben Verhältnissen leben, brauchen auch derbe Vergnügungen. Freilich dürfen wir in einer Gesellschaft des Medienspektakels nicht vergessen, dass viele solcher vermeintlichen Barbarismen in Wahrheit Effekte ihrer medialen Beobachtung sind – oder wenigstens Versuche, mediale Aufmerksamkeit zu erregen.

Wann kippt die Lust an Spiel und Rausch in etwas Destruktives, Gefährliches?

Es gibt wohl kaum einen Rausch, der nicht gefährlich oder destruktiv wäre. Aber es gibt auch kein Leben, das ohne jeden Rausch noch Leben genannt werden könnte.

Schliessen wir den Kreis und kehren noch einmal zum Anfang zurück: Der Ausdruck «Brot und Spiele» steht in gewissem Sinne auch für die Professionalisierung des Sports. Wie stehen Sie dazu?

Der Sport ist eine Unterhaltungsbranche, die vielen Leuten Entspannung und Freude verschafft. Da sollen die Ausübenden ruhig Geld damit verdienen dürfen. Geld alleine macht weder unglücklich, noch verdirbt es notwendigerweise das Spiel. Allerdings ist interessant, wie sehr durch den Perfektionismus in manchen Sportarten der Glamour verloren geht. Der Formel-1-Rennfahrer Sebastian Vettel hat das unlängst in einem Interview beschrieben: 20 Technikexperten, die vor lauter Tüftelei kein Leben mehr haben, will kaum jemand mehr sehen auf der Rennstrecke. Verbissene Perfektion vernichtet den Unterhaltungswert.


Nota. - 'In Zeiten rigider Gesinnungsmoral' ist ein völlig deplazierter Titel für dieses Interview. Der Verlust von Spiel und Freude ist im Gegenteil die Kehrseite des Verlustes von Gesinnung und Moral. Was am meisten abstößt am grimmigen Ernst der politcal correctness, ist, dass sie so bodenlos unernst ist. Da heißt es ja gar nicht Wer bin ich?, sondern immer nur Wie komm ich mir vor? Das sind ja gar keine Gutmenschen, sie wollen nur dafür gehalten werden; und eigentlich reicht es ihnen aus, wenn alle andern so tun, als würden sie sie dafür halten. Sie tun so, als wäre ihnen was ernst, und sie tun so, als würden sie sich freuen, dabei haben sie nur fun und das beruhigende Gefühl von Wichtigkeit: ihrer eignen, denn eine andere käme ihnen nicht in den Sinn.
JE

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