Carsten Wette
Stabsstelle für Presse und KommunikationFreie Universität Berlin
Nahrungsspektren prä- und frühhistorischer, nichtagrarischer Gesellschaften waren laut einer Studie von Paläontologen und Archäologen vielfältiger als bisher angenommen. Wie die archäobotanische Untersuchung von Fundmaterial aus Nordjapan belegt, gab es bereits in der Ochotsk-Kultur im ersten Jahrtausend n. Chr. eine besondere Form hybrider Subsistenzwirtschaft. Diese war gekennzeichnet durch Jagen und Sammeln auf der einen Seite sowie Landwirtschaft mit dem Anbau vollständig domestizierter Pflanzen wie Gerste auf der anderen Seite.
Der Anbau von Pflanzen habe aber nicht dazu geführt, dass die Gemeinschaft ihre Lebensweise als Jäger und Sammler aufgegeben hätten, fanden die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen heraus. Die Ochotsk-Kultur war im Nordwest-Pazifik beheimatet und bisher bekannt als typische Jagdkultur, spezialisiert auf die Ausbeu- tung der nahrungsreichen Meeresküsten. Dieser Befund ist nach Einschätzung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das erste wissenschaftlich dokumentierte Beispiel für diese spezielle Form hybrider Subsistenz in der Frühgeschichte Ostasiens und ist deshalb von bahnbrechender Bedeutung. An der Studie waren neben dem Institut für geologische Wissenschaften der Freien Universität Forscherinnen und Forscher des Deutschen Archäologischen Instituts, der Universität Hokkaido (Japan), der University of Alberta (Kanada) und des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte beteiligt.
Die Ergebnisse wurden in der jüngsten Ausgabe des Magazins PLOS ONE veröffentlicht. "Wir waren über- rascht über den Beweis, dass auch domestizierte und selbst angebaute Pflanzen wie Gerste ein Teil der Ernäh- rung waren - der Feldbau aber trotzdem nicht zur Transformation der Jäger- und Sammlerkultur in eine Bauern- kultur geführt hat", betont Erstautor Dr. Christian Leipe, der Studie koordinierte. "Die neu gewonnenen Daten regen an, die bislang etablierte Klassifikation von Subsistenzstrategien zeitlich und räumlich fremder Kulturen zu hinterfragen. Die Ernährung des Menschen basierte während der längsten Zeit seiner Evolution auf Jagen und Sammeln, auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen.
Erst mit dem Beginn der gegenwärtigen Warmzeit, dem Holozän, vor etwa 11.700 Jahren, begannen Menschen in verschiedenen Teilen der Welt, Pflanzen und Tiere zu domestizieren und sesshaft zu werden. Diese Entwick- lung hin zu einer Lebensweise, die überwiegend auf Ackerbau und Viehzucht beruht, wurde lange Zeit als ein relativ schneller, nicht umkehrbarer Prozess betrachtet, der überall auf der Welt ähnlich verlief, wenn auch nicht gleichzeitig. Entwicklungstheoretische Ansätze folgten dem sogenannten Dualismusprinzip, das prähistorische Kulturen in zwei Kategorien teilte: Wildbeuter und Bauern.
Erst seit einigen Jahren setzt sich in der archäologischen Wissenschaft die Erkenntnis durch, dass viele Gemeinschaften unterschiedliche Subsistenzstrategien anwendeten, die in Gänze weder der einen noch der anderen Kategorie ausschließlich zugeordnet werden können. Angepasst an die Ressourcen ihres Naturraums bedienten sich diese Gemeinschaften sowohl wilder als auch gezüchteter Arten. Neue Erkenntnisse für das Verständnis solch hybrider Ernährungsstrategien liefern die Autorinnen und Autoren der aktuellen Studie der Freien Universität Berlin, des Deutschen Archäologischen Instituts, der Universität Hokkaido (Japan), der University of Alberta (Kanada) und des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena.
Die Analyse fossiler makrobotanischer Reste aus Kulturschichten des archäologischen Fundplatzes "Hamanaka 2" auf der Insel Rebun im Norden Japans förderte hunderte karbonisierte Samen der Nacktgerste (Hordeum vulgare var. nudum) zu Tage. Durch direkte Radiokarbondatierungen der Samen konnten die Funde der sogenannten Ochotsk-Kultur zugeordnet werden. Diese Gemeinschaft lebte während des 1. Jahrtausend n. Chr. an den Küsten des Ochotskischen Meeres und besiedelte zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert auch Teile der nördlichen Inseln Japans. Bekannt sind die Ochotsker für ihre hochentwickelte maritime Jagdtechnik (Fisch-, Robben- und Walfang), weshalb sie bislang für klassische Jäger und Sammler gehalten wurden.
Die umfangreichen Funde von Gerste aus einem Zeitraum von mindestens 500 Jahren zusammen mit Spuren signifikanter Rodung und Öffnung der dicht bewaldeten Landschaft zeigen jedoch, dass diese Gemeinschaft von hochgradig spezialisierten Wildbeutern langfristig auch Nutzpflanzen anbaute. Feldbau war ein wesentlicher Bestandteil der Subsistenzwirtschaft der Ochotsk-Gemeinschaften in Japan.
Die Studie wurde im Rahmen des internationalen Baikal-Hokkaido Archaeology Projects (BHAP, http://bhap.artsrn.ualberta.ca/ ) durchgeführt.
Weitere Informationen
Dr. Christian Leipe, Institut für geologische Wissenschaften der Freien Universität Berlin, Telefon: 030 / 83870271, E-Mail: c.leipe@fu-berlin.de, im Internet: www.geo.fu-berlin.de/paleo
Referenz:
http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0174397
Literaturangabe
Leipe, C., Sergusheva, E.A., Müller, S., Spengler III, R.N., Goslar, T., Kato, H., Wagner, M., Weber, A.W., Tarasov, P.E., (2017). Barley (Hordeum vulgare) in the Okhotsk culture (5th-10th century AD) of northern Japan and the role of cultivated plants in hunter-gatherer economies. PLOS ONE 12(3): e0174397
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