aus derStandard.at, 27. März 2017, 16:59
Historiker Scheidel
Kriege und Seuchen sind Hauptfaktoren für Gleichheit
Österreichischer Stanford-Historiker sorgt mit neuem Buch für Aufsehen
Wien/Klosterneuburg – Mehr Bildung und Sozialpolitik – beides gilt heute gemeinhin als wirkungsvolles Mittel gegen ein Auseinanderdriften von Arm und Reich. In seinem neuen Buch kommt der österreichische Historiker Walter Scheidel (Stanford University) zu dem Schluss, dass es über Jahrtausende hinweg aber vor allem Kriege und Seuchen waren, die für mehr Gleichheit sorgten. In Wien und Klosterneuburg erklärt er diese Woche seine These.
Natürlich helfen die historisch relativ neuen Instrumente der Qualifizierung durch Bildung und sozialpolitische Maßnahmen dabei, das bestehende Ausmaß an ungleicher Verteilung von Einkommen und Gütern einigermaßen im Zaum zu halten, so Scheidel. "Aber wenn es darum geht, einen bestehenden Grad an Ungleichverteilung deutlich zu vermindern, dann funktioniert das nicht so gut. Dafür braucht es – aus historischer Sicht – dramatischere Veränderungen."
Vorträge in Wien und Klosterneuburg
Im Grunde könne man auch das breitere Ausrollen höherer Bildung und der Sozialpolitik als Reaktion auf die "gewaltsamen Schocks" der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen, so der Historiker, dessen Analyse unter dem Titel "The Great Leveler" aktuell viel mediale Aufmerksamkeit und erstaunlicherweise wenig Widerspruch in der Forschungsgemeinde auf sich zieht. In Wien referiert der 1966 ebenda geborene Historiker und Numismatiker am Montagabend an der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) auf Deutsch, am Mittwoch hält er am Institute of Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg einen Vortrag auf Englisch.
Seine Schlüsse zieht Scheidel aus Beobachtungen über sehr lange Zeiträume hinweg: "Das hat bisher noch niemand gemacht. Wenn man sich das aber über solche Perioden ansieht, erkennt man einen Rhythmus."
Die Ungleichheit steige langsam an oder sei auf hohem Niveau stabil. Ab und zu gebe es dann eine Art Neustart – eben durch Kriege, Seuchen oder Naturkatastrophen. "Das drückt die Ungleichheit sehr stark und oft sehr plötzlich hinunter. Wenn dieser Effekt verschwindet, kehrt man wieder zum ursprünglichen Trend der wachsenden Ungleichheit zurück. Das hat sich in Europa schon mehrfach wiederholt."
Ausgleich durch die Katastrophe
Betrachte man etwa die Französische Revolution werde auch klar, wie lange sehr ungleiche Systeme bestehen bleiben können. Denn in anderen europäischen Ländern sei die Ausgangssituation nicht unbedingt anders gewesen – Revolution fand beispielsweise im Habsburgerreich trotzdem keine statt. Der Zusammenbruch und gleichzeitig der Beginn einer größeren Veränderung Richtung materiellem Ausgleich kam erst mit der Katastrophe des Ersten Weltkrieges.
Ausnahmen von dem überraschend simplen Mechanismus seien rar: So habe sich in Teilen Lateinamerikas die Einkommenungleichheit ungefähr seit dem Jahr 2000 ohne großen Krach verringert. Allerdings war die Ungleichheit davor in der Region schon extrem hoch. Unter solchen Bedingungen ließen sich auch mit "relativ bescheidenen Reformen" bereits sichtbare Verbesserungen erzielen. Das gebe zwar Hoffnung, ob der Weg in der Region weiter gegangen wird, sei momentan aber fraglich.
Europa habe sich in den vergangenen Jahrzehnten durch gesellschaftspolitische Umverteilungen in einer Phase relativer Gleichheit befunden, "jetzt sind wir vielleicht schon auf dem aufsteigenden Pfad", sagt der Historiker. In den USA habe sich die Ungleichheit in der letzten Generation mittlerweile verdoppelt. Dort würden viele schon davon sprechen, dass die Schieflage mittlerweile mit den 1920er Jahren vergleichbar sei– wenn auch auf insgesamt weit höherem Niveau.
Eindimensionale Universitäten
Gewissermaßen ein Randsymptom des Auseinanderdriftens lasse sich an den US-Unis beobachten. Gerade Leute aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften seien von der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten völlig überrumpelt worden. Das liege daran, dass man sich hier in einer "eindimensionalen Umgebung" befinde, wo mehr oder weniger alle "einer bestimmten politischen Richtung anhängen. Es gibt 'Konservative' nur als Feindbild – und das ist ein Problem", so Scheidel. "Als Europäer war ich von Trump weniger überrascht als viele meiner Kollegen."
Für den Historiker, der an der Uni Wien studiert hat, war seine Arbeit an der University of Cambridge (Großbritannien) das Sprungbrett in die USA, wo er seit 2004 als Professor in Stanford tätig ist. Eine Rückkehr nach Österreich strebe er nicht an, auch wenn sich das Wissenschaftssystem in den vergangenen Jahrzehnten merklich geöffnet habe. (APA, 27.3.2017)
Aktuelle Vorträge in Österreich
"Was reduziert Ungleichheit?", 27. März, 18.00 Uhr, Festsaal der ÖAW, Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien
"The Great Leveler", 29. März, 17.00 Uhr, Raiffeisen Lecture Hall des IST Austria, Maria Gugging.
Nota. - Nur durch Katastrophen, was? Kriege, Seuchen, Naturkatastrophen - und Revolutionen wohl auch. Fragt sich bloß, ob und wozu man Gleichheit will.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen