Am Mittwoch übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Eine glückliche Fügung?
Ja.
Zu den wichtigsten Entwicklungen der vergangenen Monate gehört
Deutschlands Schwenk in der Europapolitik. Während der Finanzkrise hat
Berlin noch darüber gewacht, dass bei den Hilfsprogrammen strikte
Vorgaben für andere EU-Länder herrschen.
Neuerdings
wirkt Deutschland aber aktiv an einem grundlegenden Wandel mit. Das
zeigt der Plan für einen europäischen Wiederaufbaufonds, den Kanzlerin
Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Mai vorgelegt
haben. Das zeigt sich aber auch in den nationalen deutschen
Rettungspaketen, die stark auf Zukunftsinvestitionen setzen. Deutschland
ist zu dem Schluss gekommen, dass die EU künftig nur dann eine Rolle
spielen kann, wenn sie sich verändert.
Ohne Deutschland wäre ein solcher Wandel der EU unmöglich?
Richtig.
Das liegt nicht nur an der Größe Deutschlands, sondern auch an dem
großen Selbstvertrauen in Deutschland. Wenn wir den Umfragen vertrauen,
dann findet das Krisenmanagement der Bundesregierung überwiegend das
Vertrauen der Bevölkerung. In Frankreich ist die Lage ganz anders.
Finanzminister Olaf Scholz (SPD)
hat in Anspielung auf den früheren US-Finanzminister Alexander
Hamilton, der im 18. Jahrhundert zu den Gründervätern der Vereinigten
Staaten gehörte, für die EU mit Blick auf den geplanten
Wiederaufbaufonds von einem „Hamilton-Moment“ gesprochen. Sehen Sie das
auch so?
Nein. Mit dem Merkel-Macron-Plan würde zwar
mehr ökonomische Macht auf EU-Ebene gebündelt. Aber man sollte jetzt
nicht eine neue Stufe zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa
ausrufen. Das entspricht nicht der Sichtweise der Wähler.
Es
geht den Wählern um etwas anderes: Die Leute sind der Ansicht, dass die
EU nicht unbedingt deshalb gestärkt werden muss, weil die EU besser
funktioniert als ihre Nationalstaaten – sondern weil die Nationalstaaten
zu schwach sind, wenn sie nur auf sich selbst gestellt sind.
Wie bewerten Sie den Schwenk, den Merkel selbst beim Wiederaufbauplan an der Seite von Macron vollzogen hat?
Vor
einem halben Jahr befand sich Deutschland noch in einer Art
Post-Merkel-Stimmung. Selbst wenn die Kanzlerin die richtigen Dinge
gesagt hat, kam das in der Bevölkerung kaum an. Aber durch ihren Kurs in
der Corona-Krise hat sie sich gewissermaßen ein neues Mandat
verschafft. Davon kann sie jetzt profitieren, zumal sie nicht mehr
wiedergewählt werden will. Merkel hat sich entschieden, Europa zu ihrem politischen Erbe zu machen.
Ich
habe zudem das Gefühl, dass die Kanzlerin besser als andere versteht,
wie groß die ökonomischen Umwälzungen dieser Krise sein werden. Offenbar
ist ihr an einem bestimmten Punkt der Pandemie klar geworden, dass die
Krise der Globalisierung oder die Wahl Trumps zum US-Präsidenten nicht
bloß geschichtliche Verirrungen sind. Ein Zurück zum Status quo ante
wird es nicht mehr geben.
Sie sagen also, dass Deutschland nicht mehr den Status quo wahrt, sondern sich jetzt für Neuaufstellung Europas einsetzt?
Ich
glaube, dass Deutschland eine Wette auf den Umbau der EU eingeht. Der
springende Punkt ist, dass Deutschland erstmals mit einer
Vergemeinschaftung von Schulden in der EU einverstanden ist. Auch in der
Außenpolitik setzt Deutschland stärker als zuvor auf eine Souveränität
der EU. Ob die Wette aufgeht, kann ich nicht sagen. Aber der Wandel in
der deutschen Europapolitik geht nicht allein auf Merkel zurück. Auch
die öffentliche Meinung in Deutschland war darauf vorbereitet.
Ob
das Corona-Hilfspaket für die anderen EU-Staaten tatsächlich wie
geplant kommt, dürfte am Ende auch von der CDU und CSU abhängen. Wird
die Unterstützung der beiden Parteien für Merkels neuen Kurs in den
kommenden Monaten anhalten?
Das wird davon abhängen, ob es eine zweite Corona-Welle
gibt. Die starke Position der Kanzlerin hängt ja damit zusammen, dass
die Leute gesehen haben, dass ihre Krisenpolitik funktioniert hat. Sie
nutzt also das moralische und politische Kapital, das sie in der Krise
angesammelt hat, für einen Neuanfang in Europa. CDU und CSU dürften
nicht vergessen haben, dass es vor der Corona-Krise einen Moment gab,
als die Union in den Umfragen von den Grünen eingeholt wurde.
Die
Union wird also vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr grundsätzlich
gut beraten sein, eine Brücke zur jüngeren Generation zu schlagen. Ich
habe den starken Eindruck, dass das klassische Links-Rechts-Schema in
der Politik weniger wichtig wird und Fragen, welche unterschiedliche
Generationen unterschiedlich betreffen, stärker in den Vordergrund
rücken.
Sie sind der Ansicht, dass
in der Krise ein neuer „Bleiben Sie zu Hause“-Nationalismus in Europa
aufgetreten sei, der sich vom ethnischen Nationalismus unterscheidet.
Kann dies Auswirkungen auf die in Europa ungelöste Flüchtlingsfrage
haben?
Es geht hier um zwei sehr verschiedene Dinge.
Der Nationalismus in der Flüchtlingskrise war ein ganz und gar
ethnischer Nationalismus und damit ein anderer als jener, den wir nun in
der Corona-Krise erlebten. Denn die europäischen Nationalstaaten
versprachen nach den Grenzschließungen im „Bleiben Sie zu
Hause“-Nationa-lismus, sich um alle Menschen zu kümmern, die zu diesem
Zeitpunkt in ihrem Territorium lebten, unabhängig von deren Herkunft
oder Ethnie. Dazu kommt noch etwas: Europa entdeckt gerade seine
territoriale Einheit neu. Das gilt nicht nur für Regierungen, sondern
auch für die Gesellschaft.
Aber hat der Shutdown nicht zu einer allgemeinen Vereinzelung der Menschen in Quarantäne geführt?
Eine
der wichtigsten Folgen der Corona-Krise lässt sich so beschreiben: Wir
alle erleben in diesem Moment, dass wir für eine gewisse Zeit in einer
Welt leben, in der alle mit den gleichen Problemen kämpfen. In dem
Moment, in dem wir unsere Wohnungen nicht mehr verlassen sollten, wurden
wir kosmopolitischer als je zuvor. Gleichzeitig schauen die Menschen
sehr genau auf die Reaktion ihrer eigenen Regierung und vergleichen
deren Ergebnisse mit denen anderer Regierungen.
Sie warnen vor einem Erstarken von Populisten wie Marine Le Pen
in Frankreich oder Matteo Salvini in Italien. In der nächsten Phase der
Pandemie könnten sie profitieren. Wie wahrscheinlich ist das?
Das
ist ein interessanter Punkt. Als in der Corona-Krise die Grenzen
geschlossen wurden, schien der Traum von Rechtspopulisten und
Nationalisten wahr zu werden: Über Nacht wurden die Grenzen innerhalb
Europas dichtgemacht.
Viele Beobachter sagten:
Die Rechtspopulisten werden nun die Gewinner sein, weil die Krise
gezeigt hat, dass ihre Warnungen vor offenen Grenzen berechtigt waren.
Aber in der Krise zeigte sich: Das war nicht die Angst der Mehrheit der
Menschen.
Warum nicht?
Die
Menschen hatten vor allem Angst um ihre Gesundheit und die ihrer
Angehörige, wollten nicht, dass diese oder sie selbst sterben. Sie
fanden die Grenzschließungen nur gut, weil sie ihnen Schutz vor Covid-19
versprachen. Deshalb waren nicht die Rechtspopulisten, sondern die
Regierungen die größten Gewinner der ersten Phase der Krise.
Ob
die Wirtschaftskrise nun den gleichen Effekt haben wird, ist noch nicht
ausgemacht. Jetzt haben die Leute nicht mehr Angst vor dem Sterben,
sondern Angst vor dem Sterben ihrer Unternehmen. Jetzt zeigt sich, dass
die deutsche Kanzlerin den richtigen politischen Instinkt hatte. Die
Menschen mögen keine radikalen Lösungen.
Sind das nur Schlussfolgerungen – oder lassen sich Ihre Thesen auch durch konkrete Daten stützen?
Wir
haben Daten. Vor wenigen Tagen haben mein Centre for Liberal Strategies
und der European Council on Foreign Relations die Ergebnisse von
Umfragen in neun EU-Ländern vorgelegt. Eine überwältigende Mehrheit der
Europäer wünscht mehr Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Die Menschen sorgen
sich nämlich um Europas Position in der Welt.
Aber
die Gesetzgeber in Brüssel sollten diese Unterstützung für die EU nicht
missverstehen: Es ist kein Auftrag für den weiteren Ausbau von
Institutionen. Das könnte nach hinten losgehen. Noch etwas: Nur in zwei
europäischen Ländern, nämlich in Deutschland und in Frankreich, ist eine
Mehrheit bereit, einen höheren Preis zu bezahlen als andere Länder,
damit Europa weiter funktioniert.
Manche
Beobachter meinen, die Corona-Krise verschärfe den weltweiten
Wettbewerb der politischen und gesellschaftlichen Systeme. Sind die
westlichen Demokratien Gewinner der Corona-Krise?
Ich
sehe keinen Zusammenhang zwischen dem politischen und gesellschaftlichen
System und einem guten Management der Krise. Spanien oder Italien haben
die gleiche Demokratie wie Deutschland, und trotzdem sind sie
schlechter durch die Krise gekommen.
Manche
Demokratien waren erfolgreich, andere nicht. Das demokratische Taiwan
war erfolgreich, die nicht demokratische Volksrepublik China aber auch.
Ich sehe einen anderen Zusammenhang: Alle Länder, in denen die
öffentlichen Institutionen hohes Vertrauen genießen, haben die
Herausforderung besser bewältigt. ...
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