Sonntag, 30. Mai 2021

Gibt es sie denn, die neue Mittelklasse?

  Prenzlauer Berg, Straßenszene

aus FAZ.NET, 29. 5. 2021                                                    

Neue Mittelklasse? Das wären ja wir!
Gibt es eine neue Mittelklasse in unserer Gesellschaft? Ein deutscher Soziologe wirft seinen Kollegen vor, die Augen vor den Realitäten der Gegenwartsgesell-schaft zu verschließen.
 
Von Gerald Wagner

Gibt es in der deutschen Soziologie einen „Abwehrreflex“ gegen die neue Mittelklasse? Der Berliner Kultursoziologe Andreas Reckwitz hat diesen Vorwurf jetzt in einem Beitrag der Zeitschrift Leviathan* erhoben, die dem Thema der „gespaltenen Gesellschaft“ ihr aktuelles Heft widmet. Reckwitz antwortet dort seinerseits auf den Vorwurf von Nils Kumkar und Uwe Schimank, dass seine Diagnose einer „Spätmoderne“ mit einer in drei Klassen geteilten Ge-sellschaft falsch sei. Genauer: dass Reckwitz’ Thesen einer empirischen Überprüfung nicht standhalten, weil die Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft viel komplexer sei, als Reckwitz es darstelle.

Der so Angegriffene reagiert auf die übliche Weise: Viel Lob für die Einlassungen der Kritiker, aber im Kern habe man ihn missverstanden. Reckwitz schließt seinen Beitrag mit der ironi-schen Bemerkung, man sei das ja von der deutschen Soziologie gewöhnt: dass man dort auf Widerstände stöße, wenn man die Existenz einer neuen und kulturell dominanten Mittel-schicht behaupte. Widerstände, die eben „nicht nur sachliche Gründe“ hätten. Reckwitz nimmt hier seine beiden Kontrahenten ausdrücklich aus, aber er unterstellt, dass sich „nicht wenige andere in der Zunft“ lieber ahnungslos stellten, als die Existenz einer neuen Mittel-klasse ernsthaft zu diskutieren. Leicht könne man diese Abwehr aber nicht nehmen, so Reckwitz. Die Sache sei zu ernst, immerhin stehe damit nicht weniger als die Fähigkeit der Soziologie auf dem Spiel, „die Gegenwartsgesellschaft zu begreifen“. Und zwar „ganz ohne Scheuklappen hinsichtlich dessen, wie man es gern hätte“. Was Reckwitz hier eigentlich meint, sind aber wohl die Scheuklappen davor, wie man die Gesellschaft nicht gern hätte.

Ist „Prenzlauer-Berg-Soziologie“ unanständig?

Reckwitz unterstellt der deutschen Soziologie recht pauschal, ihre empirischen Interessen von ihren sozialkritischen Motiven leiten zu lassen. „Sozialstruktur heißt im Kern Ungleichheits-analyse.“ Man schaue bevorzugt „in die unteren Etagen der Gesellschaft“, um dann nach den eigenen Maßstäben sozialer Gerechtigkeit diese Ungleichheit beklagen zu können. Sich statt-dessen so wie er, Reckwitz, mit der neuen Mittelklasse der Modernisierungsgewinner und de-ren „vermeintlichen Selbstverwirklichungsproblemen“ zu beschäftigen, erscheine dann „gera-dezu frivol“. Ist „Prenzlauer-Berg-Soziologie“ (so Reckwitz’ ironische Selbstetikettierung) un-anständig, solange noch an deutschen Schulen Migrantenkinder schlechtere Noten bekom-men? Man muss sich aber (trotzdem) mit den Gewinnern beschäftigen, so Reckwitz trotzig, weil man sonst die heutige Gesellschaft gar nicht mehr verstehe.

Aber Reckwitz geht noch weiter: Die analytischen Berührungsängste gegenüber der neuen Mittelklasse lägen an einem „unterschwelligen politischen Unbehagen“ gegenüber diesen „politisch unsicheren Kantonisten“. Ihre Angehörigen fügten sich nicht mehr in die übliche „Links-rechts-Unterscheidung“. Zudem sei die neue Mittelklasse gesellschaftlich einflussreich bis fast zur „Hegemonie“. Man weiß nicht so recht, ob das eine „gute oder schlechte Hege-monie“ sei, da scheint es tatsächlich nahezuliegen, diese Klasse erst mal zu ignorieren. Seine Diagnose zwänge die Soziologie aber zu einer „unbehaglichen Selbstbeobachtung“. Denn nehme man „in seinem privaten Leben“ als privilegierter Akademiker nicht „unterschwellig an jenen sozialen Schließungstendenzen“ teil, welche die neue Mittelklasse charakterisierten? Hat Reckwitz also die deutschen Soziologen dabei ertappt, in ihrer Forschung etwa die schulischen Nachteile von Migrantenkindern anzuprangern, den eigenen Nachwuchs aber doch lieber auf die Waldorf-Schule zu schicken? Das ist natürlich „peinlich“, so Reckwitz, darum scheint für manche Kollegen zu gelten: „Die neue Mittelklasse, das sind immer die anderen.“

Der Frage nach der kulturellen Dominanz einer Klasse, der man selbst angehört, möchte man lieber ausweichen, so Reckwitz. Sich einzugestehen, man gehöre zu den „Globalisierungsge-winnern“, obwohl man sich als Soziologe doch lieber mit den Verlierern solidarisch erklärt, könne bis zur „Selbstbeschämung“ führen.

Man könnte Reckwitz’ schneidende Kritik an der deutschen Soziologie fast als Aufforderung zum Fremdschämen lesen: Die Gesellschaft provoziere sie gern, sich selbst aber beim schönen und guten Leben in den Vierteln der Gewinnerklasse zu ertappen führe zum klammheimli-chen Verrat an den eigenen wissenschaftlichen Grundsätzen der Neutralität und Wertfreiheit. Klar ist: Das Phänomen der neuen Mittelklasse ist ein „umstrittenes Feld, ein vermintes, ein politisiertes Gelände, in dem deutlich mehr als nur wissenschaftliche Neugierde und Wahr-heitssuche“ verhandelt werden.

Dienstag, 25. Mai 2021

Konservativ?

Hammershøi

Ich bin altmodisch.

Das Neue hat einen ästhetischen Reiz und verdient daher Aufmerksamkeit.

Doch um lebenspraktisch zu höherer Geltung zu kommen als das Hergebrachte, reicht das nicht; dafür bräuchte es einen sachlichen Grund. Bis dahin ist ihm das Alte auch ästhetisch überlegen.




Donnerstag, 20. Mai 2021

Homophobie ist nicht verboten...

dw

...Antisemitismus und Rassismus auch nicht, nicht einmal Frauenfeindlichkeit, beste Schwester. Und wir leben in einem freiheitlichen Rechtsstaat, in dem jeder seine Meinung so öffentlich sagen darf, wie er will. Es kommt allerdings daruf an, was genau man sagt und wie man es sagt. Aufrufe zu strafbaren Handlungen sind ebenso verboten wie die strafbaren Handlungen selbst. Mit dem Tatbestand der Volksverhetzung kenne ich mich nicht auss, ich bin kein Jurist; seine Definition klingt dehnbar, aber sie obliegt ordentlichen Gerichten, deren Urteile bis in die oberste Instanz überprüfbar sind.

Ebenso verboten und nach spezifischen Paragraphen strafbar ist eine faktische Diskriminie-rung an einem öffentlichen Ort, wozu nicht nur öffentlicher Grund und Boden zählen, son-dern auch alle Stellen, die zu geschäftlichen oder kulturellen Zwecken jedermann frei zu-gänglich sind - Gaststätten, Tanzböden, Konzertsäle...

Keiner ist gehalten, Homosexxuelle, Juden und Neger und auch nur Frauen zu mögen, und schon gar nicht, es öffentlich zu bekunden. Das hält jeder, wie es ihm gefällt, denn wir leben in einem Rechtsstaat und nicht in einer Privilegienordnung.

Nicht, was korrekt ist, entscheidet der Staat, sondern was Recht ist. Selbst das mag strittig bleiben, doch einstweilen gilt das Gesetz.

 

 

 

 

Sonntag, 16. Mai 2021

Brinkhaus will den Neustaat.


aus Tagesspiegel.de, 16. 5. 2021

Unionsfraktionschef dringt auf Modernisierung  
Wir brauchen einen „Neustaat“, damit das Gute bleibt
Zu viele Zuständigkeiten, zu wenig Tempo: Die Coronakrise hat klar gemacht, wo es hakt. Wir müssen den Staat modernisieren – jetzt. Ein Gastbeitrag.
 
von Ralph Brinkhaus
 
... Unsere Staatlichkeit beruht auf Säulen, die zur Zeit ihrer Entstehung modern und innovativ waren. Das gilt für die Verwaltungsreformen von Hardenberg und von Stein aus der Zeit der napoleonischen Befreiungskriege, auf deren Grundlage wir im Wesentlichen bis heute arbeiten. Es gilt aber auch für unsere föderale Ordnung, die 1949 im Grundgesetz festgeschrieben wurde, und die seit 1990 in ganz Deutschland gilt.
 
Wir müssen uns auf vier Bereiche konzentrieren

Das sind Ordnungsprinzipien, die in einer analogen, in einer langsameren Welt dazu beigetragen haben, den Wohlstand unseres Landes zu mehren und es stark zu machen. In der beschleunigten Welt des 21. Jahrhunderts brauchen wir aber eine grundlegende Reform. Nicht nur weil wir bei den Besten sein wollen, sondern weil ich überzeugt bin, dass so das Leben in unserem Land heute und in der Zukunft lebenswerter ist.

Genau jetzt in der Krise ist der Zeitpunkt, Staat und Verwaltung rundum zu erneuern. Wir wollen dabei die unbestrittenen Vorteile der föderalen Ordnung und der kommunalen Selbstverwaltung in das 21. Jahrhundert tragen. Wir wollen aber auch Neues wagen. Gutes bleibt, alles andere muss geändert werden. Diese Krise wäre eine vergeudete Krise, wenn wir nicht daraus lernen. Deshalb müssen wir die Modernisierung unseres Staates auf vier konkrete Bereiche konzentrieren.

I. Strukturen auf den Prüfstand stellen

Zuerst müssen wir die Strukturen, Ebenen, Institutionen und Verantwortlichkeiten unseres Staates kritisch überprüfen: Was ist doppelt, was kann weg, was muss dazu kommen? Das gilt auch für die Wege der Entscheidungsfindung. Unsere Gesellschaft ist auf Konsens ausgelegt. Einvernehmlichkeit fühlt sich befreiend an und dient auch dazu, Verantwortung zu verschleiern.

Wir haben mit Bund, Ländern, Bezirksregierungen, Landkreisen und Gemeinden in manchen Bundesländern bis zu fünf Verwaltungsebenen, die an irgendeiner Stelle mitentscheiden. Das geht oftmals zu langsam – schon in normalen Zeiten. Geld ist oft ausreichend vorhanden, es kommt aber nicht rechtzeitig dort an, wo es am dringendsten gebraucht wird. Bund, Länder und Kommunen sind in diesen Strukturen nicht schnell und nicht effizient genug. Deshalb wollen wir die Strukturen und Entscheidungswege unseres Staates überprüfen und, wo erforderlich, reformieren.

Inventur aller staatlichen Aufgaben

Dazu müssen wir zunächst eine grundlegende Inventur aller staatlichen Aufgaben vornehmen. Die so identifizierten Aufgaben müssen wir dann bewerten. Dabei wird sich dann herausstellen, dass, wie bei jeder Inventur, einiges ausgesondert werden kann. Denn der Staat muss nicht alles regeln, nicht für alles sorgen, nicht für die Bewältigung jedes persönlichen Lebensrisikos verantwortlich sein.

Die verbleibenden Aufgaben des Staates und die zugrundeliegenden Prozesse müssen dann klar den föderalen Ebenen des Staates unter Einbeziehung der Kommunen zugeordnet werden. So vermeiden wir Doppelstrukturen und unklare Verantwortlichkeit. Jede staatliche Ebene braucht außerdem die Mittel, um ihre Aufgaben optimal erfüllen zu können. Deshalb müssen wir den Finanzbedarf für die Erfüllung der Aufgaben feststellen. Jede föderale Ebene hat dann ihre ureigenen Aufgaben, ihren Finanzbedarf und ihre eigenen Steuern, um diesen Finanzbedarf zu decken. Der mittlerweile völlig intransparente Verschiebebahnhof im Finanzverhältnis zwischen Bund, Ländern und Kommunen wäre damit Vergangenheit.

II. Verwaltungshandeln modernisieren und beschleunigen

Alles in allem hat unsere Verwaltung auch in der Krise überwiegend gut funktioniert. Gleichzeitig hat die Krise aber auch wie ein Brennglas klaren Handlungsbedarf offengelegt: Wenn der Staat von privaten Arbeitgebern Homeoffice für alle verlangt, aber in Ländern wie Berlin nur ein Bruchteil der Mitarbeiter überhaupt über Dienstlaptops verfügt. Wenn Senioren in ihrem Bundesland einen Impftermin buchen wollen, aber selbst mit Unterstützung der Enkel an Warteschleifen und abstürzenden Internetseiten scheitern.

Verfahren entschlacken und beschleunigen

Deshalb müssen wir die Gewissheiten des Verwaltungshandelns einer umfassenden Überprüfung unterziehen. Hierarchien, Entscheidungsabläufe, Schriftgutverwaltung, Vergabewesen müssen wir zeitgemäß weiterentwickeln. Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen wir konsequent entschlacken und dann beschleunigen.

Ein Beispiel: Die Bedeutung des Hamburger Hafens für Stadt und Region, aber auch als wirtschaftliche Lebensader für uns als Exportnation ist kaum zu überschätzen. Die Schiffe werden immer größer, müssen den Hafen aber auch erreichen können. Dafür muss die Elbe regelmäßig ausgebaggert werden. 2019 wurde mit der letzten Vertiefung begonnen, nach 17 Jahren Planung und Auseinandersetzung mit den Gegnern. Abgeschlossen wurde sie dann im März 2021, nach knapp 20 Jahren. Das funktioniert so nicht.

Anderes Beispiel: In der Nähe des Wirtschaftsministeriums in Berlin-Mitte steht eine Kita, davor sollte ein Zebrastreifen gemalt werden. Im Januar 2017 bejahte der Berliner Senat die Erforderlichkeit. Fertiggestellt wurde der Zebrastreifen im Sommer 2020: dreieinhalb Jahre und 18 Verwaltungsvorgänge für etwas Farbe auf Asphalt.

Das ist keine Kritik an den Mitarbeitern der Verwaltung: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst machen einen guten Job und haben sich in der Krise als zuverlässige Kraft erwiesen. Gleichwohl wissen viele von uns, wie Verwaltungsstrukturen auch gute Ideen ausbremsen und notwendige Initiativen im Sande verlaufen lassen. Wir brauchen mehr Raum für neue, agile Arbeitsweisen und -methoden in der Verwaltung. Die Expertise von Seiteneinsteigern müssen wir nutzen und den Wechsel von der Wirtschaft in die Verwaltung und zurück Realität werden lassen.

III. Unseren Staat grundständig digitalisieren

Bund, Länder und viele Kommunen haben in den vergangenen Jahren intensiv am Fundament für eine umfassende Digitalisierung gearbeitet. Aber gerade in der Krise wäre es gut gewesen, wenn wir schneller und schon weiter gewesen wären.

In der Vergangenheit haben wir bei der Digitalisierung zu oft auf Goldrandlösungen gesetzt. Diese gingen an den echten Bedarfen vorbei und haben sich nicht durchgesetzt: der digitale Personalausweis, das Projekt De-Mail. Kennen Sie jemanden, der diese Verfahren im Privaten nutzt? Ich nicht. Das sollte uns zu denken geben.

Weitere Beispiele: Es gibt weder ein zentrales Grundbuch für Deutschland noch ein zentrales Melderegister. Die aktuelle Koalition aus Union und SPD hat im Bereich Registermodernisierung und Onlinezugangsgesetz sicherlich einiges auf den Weg gebracht, was viele Jahre liegen geblieben ist.

Online-Banking geht schon längst, Online-Autoanmelden nicht

Wir können uns bei der Digitalisierung keine weiteren Verzögerungen leisten. Meine Zielvorstellung für das Modernisierungsjahrzehnt der 20er Jahre ist die Digitalisierung aller wesentlichen Verwaltungsdienstleistungen. Die Verwaltung muss jeden Bürger digital mit den notwendigen Dienstleistungen versorgen können: für jede Generation. Zu jederzeit und an jedem Ort. Sicher, benutzerfreundlich und barrierefrei. Oder können Sie erklären, warum Online-Banking auch mit größeren Summen möglich ist, die Zulassung von Kraftfahrzeugen aber nicht überall von zu Hause aus digital erfolgen kann?

Dabei müssen wir die Themen Datenschutz und Cybersicherheit neu denken: Den Datenschutz müssen wir entschlacken. Im Kern muss die Frage stehen, wie wir Daten für bessere Dienstleistungen nutzen können. Gleichzeitig müssen wir bei der Cybersicherheit zulegen, um staatliche und private Infrastrukturen zu schützen. Es gibt Feinde der Demokratie im Inneren und im Äußeren: Hier müssen wir eine wehrhafte Demokratie sein.

IV. Bevölkerungsschutz stärken

Die Fähigkeiten von Bund und Ländern im Bevölkerungsschutz müssen wir besser verknüpfen und deutlich stärken. Dafür sollten wir die Lektionen aus der Coronakrise systematisch erheben und kritisch reflektieren.

Gefahren für die Bevölkerung können im Cyberraum, durch Klimawandel, durch Überschwemmungen oder im Gesundheitsbereich entstehen. Die nächste große Krise kommt vielleicht erst in 20, vielleicht aber schon in zwei Jahren.

Wir müssen vorbereitet sein. Wir müssen den Staat so aufstellen, dass er für unvorhergesehene Katastrophen gewappnet ist. Im Bund müssen wir eine zentrale Schaltstelle schaffen. Wir müssen Krisen üben, Automatismen schaffen. Hier muss das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) künftig eine stärkere Rolle spielen. Die von Bundesinnenminister Seehofer und dem Präsidenten des BBK Armin Schuster vorgeschlagenen Reformideen sind richtig und müssen zügig umgesetzt werden.

Stehende Katastrophenstäbe, mehr Übungen, bessere Vernetzung

So wie unsere Bundeswehr im Kalten Krieg gut ausgebildet und mit einer starken Reserve ausgestattet in ständiger Bereitschaft war, so müssen wir jetzt die Strukturen zum Schutz der Bevölkerung aufstellen. Auf regionaler Ebene haben wir gut funktionierende Strukturen im Katastrophenschutz, ob durch Feuerwehr, THW oder andere ehrenamtliche Hilfsdienste. Diese sind gut geschult, vernetzt und vor allem tun sie eins: üben, üben, üben.

Das brauchen wir auch auf Bundesebene. Stehende Katastrophenstäbe, mehr Übungen und eine bessere Vernetzung. Und wir bräuchten neben den sehr gut arbeitenden Hilfsorganisationen eine zivile Reserve. Männer und Frauen zum Beispiel mit Verwaltungshintergrund, die bereit sind, in der Pandemie im Gesundheitsamt administrative Aufgaben zu übernehmen.

Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern genauer ansehen

Die verfassungsrechtlichen Kategorien für den Krisenfall entstammen einer Zeit, in der militärische Auseinandersetzungen die wahrscheinlichsten Krisenauslöser waren. Jetzt aber müssen wir uns für aktuelle Krisen wappnen. Zum Beispiel sollten wir uns Artikel 35 des Grundgesetzes, der die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Krise regelt, genauer ansehen. Wir müssen in der Lage sein, im Krisenfall schnellstmöglich Kräfte überall dort in Deutschland einzusetzen, wo es erforderlich ist. Hier müssen wir klare Strukturen und eindeutige Abstimmungswege zwischen Bund, Ländern und Kommunen schaffen.

Ausblick

Diese vier Schritte für eine Modernisierung des Staates sind erste Lehren aus der Pandemie. Wir stehen am Anfang eines Modernisierungsjahrzehnts. Wir sollten die Krisenfestigkeit unseres Landes stärken und ausbauen. Da gibt es noch sehr viel zu tun, wir müssen jetzt anfangen. Und zwar gemeinsam. Die umfassende Modernisierung unseres Staatswesens ist eine Herkulesaufgabe und sie braucht politische Führung und Entschlossenheit. Dazu müssen die Verantwortlichen in Bund und Ländern zusammenwirken und erkennen, dass wir jetzt einen Sprung nach vorne machen können.

Ohne die Länder und Kommunen geht es nicht, das wird in manch hitziger Debatte vergessen. Der Bund kann und will die Verwaltungen in Städten und Kommunen nicht per Anordnung modernisieren, er kann aber den Impuls geben und vorangehen. Diese Reform wird nur mit den Menschen gelingen: mit den vielen Ideen und Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst selbst und mit der Kreativität aller anderen Bürgerinnen und Bürger.

Brauchen wir die ganzen Gesetze?

Wir neigen in Deutschland dazu, viel zu regeln. Viele sind davon überzeugt, dass sich mit Gesetzen die Wirklichkeit verändert. Im Bundestag steht in dieser Legislaturperiode noch eine hohe zweistellige Anzahl von Gesetzen zur Beratung an – in nur drei Sitzungswochen. Brauchen wir wirklich jedes dieser Gesetze? Die Wirklichkeit verändert sich nicht durch ein Gesetz, das im Bundesgesetzblatt steht, nicht durch Geld, das im Bundeshaushalt zur Verfügung steht. Es verändert sich etwas durch Machen, Tun, Handeln. Wir brauchen einen anderen Geist in unserem Land. Der Staat, das sind nicht „die da oben“ – der Staat ist das organisierte „Wir“. Der Staat ist unsere Gemeinschaft, die uns alle angeht.

Wir brauchen Mut, etwas zu wagen. Mut etwas anders zu machen als bisher. Mut, neue Wege zu gehen. Dabei werden auch Fehler passieren. Und das ist auch gut so, denn die Angst vor der Fehlervermeidung lähmt unser Land an zu vielen Stellen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland trotz der von mir kritisierten Unzulänglichkeiten ein sehr gutes, in einigen Bereichen sogar ein herausragendes Land ist. Aber wir brauchen einen „Neustaat“, damit das Gute bleibt. Nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt.

 

Nota. - Eine grundlegende Staatsreform?! - Na ja, das reißt einem alles nicht grade die Schuhe von den Füßen, jedenfalls nicht, solange man jedes für sich nimmt. Aber jedes für sich - das ginge gar nicht: Das könnte Jahrzehnte dauern, dafür die jeweils erforderliche Mehrheit zu finden; und davon, es dann auch noch bis in die Verwaltungen hinein durchzusetzen, gar nicht zu reden... Das geht nur als Gesamtpaket, das nicht mit je nach Wahlperiode neu zusammen-zusetzenden Koalitionen, sondern nur von einer strategischen Allianz durchzusetzen wäre, und nicht als wechselhafte Schnittmenge von konkurrierenden Wahlkämpfern, sondern als bindendes Programm - und dies nicht bloß, weil gelegentlich Zweidrittelmehrheiten erfor-derlich würden.

Das ist zwar noch meilenweit entfernt von der Radikalen Mitte, die ich zu propagieren nicht müde werde. Aber es ist doch, wenn ich's recht übersehe, ein ernstliches Novum in der deut-schen Politik. Ob er sich der Tagweite bewusst ist? Wenn nicht, wäre es Zeit, dass er's wird.

JE

 

 

Donnerstag, 13. Mai 2021

Die Ich-ganz-wichtig-Tribus.

allgemeine-zeitung

Nachdem sie ein Vierteljahr lang um fünf Uhr aufgestanden waren und vergeblich vor Fabrik-toren aufrührerische Flugblätter verteilt hatten, sagten sie "Ich muss jetzt endlich auch mal an mich denken". Und das taten sie; gründlicher, als sie je gedacht hatten. Alles wurde anders. Latzhose, Fahrrad, Kräutertee und die überall durchdringende Sorge um die Gesundheit. 

Und da war er wieder, der Bezug aufs große Ganze! Bei dem Thema kann man*in stundenlang über sich selber reden - und doch auch im Namen der menschlichen Gattung. Alle denken nur an sich, sie aber setzen sich allezeit nur für Andere ein. Für sich selber müsste man kämpfen und gradestehen. So aber reichen Krakeel und Lamento, und im Ernstfall haben sie es nie so gesagt oder gemeint. Wenn sie dann doch mal wieder was für sich fordern, so ist es letzten En-des nur im wohlverstandenen Interesse des (Neutrum) Klientels, das sie auf sich genommen haben.

Es wäre nicht richtig, sie die Post68er-Generation zu nennen; sie haben sich bis ins dritte Jahrtausend fortgepflanzt, es ist ein ganzer Volksstamm daraus geworden, lat. tribus, beson-deres Merkmal: identisch. Sie sind die seit einigen Jahren in einschlägigen Kreisen und seit ein paar Wochen auch öffentlich so genannte Lifestyle-Linke.

Da erzähle ich Ihnen nichts Neues? 

Dies aber wussten Sie noch nicht:

"So ticken die „Querdenker“: Antiautoritär, gebildet – und überwiegend links" - so titelt der Tagesspiegel am 10. Mai über eine soeben veröffentliche empirische Studie.

Wächst da zusammen, was zusammengehört: das Ressentiment der gefühlt ewig nicht genü-gend Wichtiggenommenen?

 

 

Dienstag, 11. Mai 2021

Wie bei Hempels unterm Sofa.

Wenn Maulheld*innen einen wie mich in die Verlegenheit bringen, einen wie H. G. Maaßen verteidigen zu müssen, dann herrschen in unserer Öffentlichkeit Zustände wie bei Hempels unterm Sofa. Da ist ein Kehraus fällig.

 

Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

Montag, 10. Mai 2021

Kann man aus der Geschichte was lernen?

Ob man aus der Geschichte was lernen kann, war schon immer umstritten. Doch ganz sicher lernt man nichts, indem man versucht, sie ungeschehen zu machen. 

 

Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Samstag, 1. Mai 2021

"Islamophobie".

Taschkent

aus nzz.ch,

«Die Linken sind nützliche Idioten»
Islamkennerin kritisiert falsche Toleranz gegenüber Radikalen
Unterwandern Islamisten unsere Gesellschaft? Und wie lassen sie sich stoppen? Die Islamkennerin Saïda Keller-Messahli spricht in «NZZ Standpunkte» über Drohungen, die Indoktrinierung von Schulkindern und eine Politik, die sich zum Gehilfen macht.
 
von Yannick Nock 

Terror, Enthauptungen, Propaganda: Anhänger des radikalen Islams arbeiten weiterhin unbe-irrt an der Errichtung eines weltweiten Kalifats. Doch wer sind diese Leute? Und wie gefähr-lich sind sie? Saïda Keller-Messahli befasst sich seit Jahren mit diesem Thema: «Islamisten unterwandern unsere Gesellschaft», sagt die Expertin, die gegen radikale Imame und Moscheen kämpft. Sie fordert, dass die Politik nun stärker durchgreife, sonst habe dies schwerwiegende Folgen – für die Schweiz, Deutschland und ganz Europa.

In der jüngsten Ausgabe von «NZZ Standpunkte» mit NZZ-Chefredaktor Eric Gujer hält sich Keller-Messahli deshalb mit Kritik nicht zurück. Das tut sie nie. Für die einen ist sie «eine der mutigsten Frauen der Schweiz» («NZZ am Sonntag»), für andere «ein ausser Kontrolle geratener Bulldozer, der alles platt walzt, was sich ihr argumentativ in den Weg stellt» («Sternstunde Religion»). Kalt lässt sie die wenigsten. In der Sendung spricht Keller-Messahli über frauenfeindliche Schüler, Polizeischutz – und sie sagt, warum Wanderprediger so gefährlich sind.

Noch immer werde Kritik an einem politischen Islam nur hinter vorgehaltener Hand geäussert, sagt Keller-Messahli. Gerade an den Schulen werde das zum Problem. Muslimische Kinder hätten oft bereits genaue Vorstellungen, wie sich Mädchen zu kleiden hätten – am besten mit einem Kopftuch. «Die Kinder bringen ihre Ideologie mit in unsere Schulen.»

«Ich höre sowieso nicht auf Sie, weil Sie eine Frau sind»

Das führe zu Spannungen, sagt Keller-Messahli und nennt ein Beispiel: «Lehrerinnen wird gesagt: ‹Ich höre sowieso nicht auf Sie, weil Sie eine Frau sind.› Das ist inakzeptabel.» Statt sich mit Schulfreunden zu treffen und sich sozial zu vernetzen, verbrächten muslimische Kinder ihre freien Samstage und Sonntage in Moscheen. «Dort werden sie indoktriniert.»

Ein grosses Problem seien radikale Wanderprediger. «Sie gehen in der Schweiz von Moschee zu Moschee und verbreiten menschenverachtende, freiheits- und frauenfeindliche Propaganda», sagt sie. Die Salafisten nutzten aus, dass in einer Demokratie die Religionsfreiheit gewährleistet werde. Keller-Messahli fordert deswegen Kontrollen. Jeder Arzt brauche eine Bewilligung, um zu praktizieren. «Warum nicht auch Imame?» Sie setzt sich deshalb für eine hiesige Ausbildung ein. Die Schweiz habe überhaupt keinen Überblick darüber, wer wo predige, doch das sei zwingend nötig: «Da, wo der Islam politisch wird, müssen wir reagieren.»

Keller-Messahli erwartet deshalb Unterstützung aus der Politik, doch manchmal sei das Gegenteil der Fall. Es gebe Linke – meistens Grüne oder Sozialisten –, die den politischen Islam reflexartig in Schutz nähmen, selbst wenn die Personen gegen Gleichberechtigung und Freiheit predigten. «Die Linken sind nützliche Idioten», sagt Keller-Messahli. «Sie dienen den Islamisten zu, nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen Ländern Europas.»

Polizeischutz wegen Berliner Moschee

So stünden beispielsweise die meisten ihrer Verbündeten in Deutschland unter Polizeischutz, wie sie in der Sendung verrät. «Das ist traurig und ein Skandal.» Keller-Messahli hat in Berlin eine liberale Moschee mitbegründet, die von der Rechtsanwältin und Imamin Seyran Ates geführt wird. Dort sind Männer und Frauen gleichberechtigt, und auch gleichgeschlechtliche Paare werden akzeptiert. Seither werde Seyran Ates von Islamisten bedroht. Echte Hilfe erhielten sie von den Behörden nicht: «Die liberalen Muslime werden von der Politik im Stich gelassen.»

Dabei seien sie entscheidend. Wenn eine Besserung kommen solle, dann müsse sie von den Muslimen in Europa ausgehen, sagt Keller-Messahli. Sie hätten die Chance, etwas Neues zu entwickeln und eine Religionskritik zu betreiben, die diesen Namen wirklich verdienen würde – doch noch zensierten sich die Kritiker zu oft selbst. 

 

Nota. - Wie stellt sie sich vor, dass "die Politik" die liberalen Muslime unterstützen solle? Ein freiheitlicher Rechtsstaat ist säkular - Deutschland wie die Schweiz. In die inneren Verhältnisse der Glaubensgemeinschaften hat er sich nicht einzumischen, auch nicht hintenrum. Er tritt allerdings auf, wenn und wo das Strafrecht berührt ist. Dazu müssen die, die geschützt werden wollen, allerdings ihr Gesicht zeigen und sich kenntlich machen, anders gehts nicht.

Und die gern zitierte Zivilgesellschaft? Die muss nicht unparteiisch sein. Doch in das Innen-leben der Religionen hat sich nur einzumischen, wer ihnen angehört. Katholikinnen und Ka-tholiken mögen beklagen, dass die römische Kirche Frauen nicht zum Priesteramt zulässt; andere nicht. Was ginge das denn zum Beispiel eine lutherische Pastorin an? 

Was anderes ist es mit der Stellung der jeweiligen Religion in der Gesellschaft. Das ist eine öffentliche und politische Angelegenheit. Da darf ein jeder Staatsbürger seine eigne Meinung zu haben.

Auch die Atheisten im Land. Die sind a priori Religions- und daher "islamkritisch". Doch nie-mand kann uns vorschreiben, dass wir alle Religionen gleich bewerten und gleichbehandeln. Das Christentum zum Beispiel hat die westliche Kultur bis ins Mark geprägt. Da gibt es eine ganze Reihe von einzelnen Glaubenssätzen und Vorschriften, die zum positiven Bestand un-serer Zivilisation gehören; etwa das Gebot der Einehe, das die Frau dem Mann grundsätzlich gleichstellt - aber vor allen Dingen, und das war wohl ursprünglich ihr Hauptgrund, die Gesell-schaft aus den Fesseln der Stammes- und Clanzugehörigkeit befreit hat. Andere christliche Glaubensartikel sind viel allgemeiner und weisen weit über die Kirschen hinaus, etwa im Satz von der gemeinsamen Gotteskindschaft aller Menschen, nämlich auch der Nichtgetauften. 

Nicht immer haben die Glaubenssätze den privaten Interessen - der Begüterten - standgehal-ten, viel zu oft haben sie ihnen sogar als Vorwand gedient. Und solange das Christentum in den westliche Ländern auch politisch herrschend war, durften wohl auch Nichtchristen daran Anstoß nehmen. Doch seit die Macht der Kirchen selbst Irland zurückgedrängt ist und hof-fentlich auch bald in Polen wird, sind innerreligöse Konflikte rein innerkirchliche Angelegen-heiten. Nicht dass Andere dazu keine Meinung haben dürfen; doch die ist dann Privatsache - wie der Glaube selbst.

Auch der Atheist hat also ein vernünftiges Interesse daran, dass die zivilisatorischen Errun-genschaften des christlichen Abendlands nicht den Anmaßungen frommer Eiferer zum Opfer fallen. Und schon gar nicht einem Sektenglauben, der zu Freiheit, Menschenrechten und Bür-gerrechten in seiner jahrhundertelangen Geschichte nie etwas beigetragen hat, weil es in seinen Glaubenssätzen dafür keinen Anlass gibt. In unserer konkreten Situation ist der denkende Atheist daher nicht nur "islamkritisch", sondern ein Gegner des Islam, sobald er in der Öffentlichkeit auftritt.

Und um die Sache abzurunden: Das Christentum ist nicht nur die an weitesten verbreitete Weltreligion (das bewiese garnichts); sondern ist auf der Welt die einzige Religion, die den Stachel zu ihrer Aufhebung selbst in sich trägt. Sein Gott hat sich bekehrt, er ist ein anderer geworden, und seine Lehre verheißt die schließlich Umwälzung aller weltlichen Verhältnisse. Es verweist über sich hinaus und ist von allen Bekenntnissen das einzige, das ganz privat werden kann.

JE