... Unsere
Staatlichkeit beruht auf Säulen, die zur Zeit ihrer Entstehung modern
und innovativ waren. Das gilt für die Verwaltungsreformen von Hardenberg
und von Stein aus der Zeit der napoleonischen Befreiungskriege, auf
deren Grundlage wir im Wesentlichen bis heute arbeiten. Es gilt aber
auch für unsere föderale Ordnung, die 1949 im Grundgesetz festgeschrieben wurde, und die seit 1990 in ganz Deutschland gilt.
Wir müssen uns auf vier Bereiche konzentrieren
Das
sind Ordnungsprinzipien, die in einer analogen, in einer langsameren
Welt dazu beigetragen haben, den Wohlstand unseres Landes zu mehren und
es stark zu machen. In der beschleunigten Welt des 21. Jahrhunderts
brauchen wir aber eine grundlegende Reform. Nicht nur weil wir bei den
Besten sein wollen, sondern weil ich überzeugt bin, dass so das Leben in
unserem Land heute und in der Zukunft lebenswerter ist.
Genau
jetzt in der Krise ist der Zeitpunkt, Staat und Verwaltung rundum zu
erneuern. Wir wollen dabei die unbestrittenen Vorteile der föderalen
Ordnung und der kommunalen Selbstverwaltung in das 21. Jahrhundert
tragen. Wir wollen aber auch Neues wagen. Gutes bleibt, alles andere
muss geändert werden. Diese Krise wäre eine vergeudete Krise, wenn wir
nicht daraus lernen. Deshalb müssen wir die Modernisierung unseres
Staates auf vier konkrete Bereiche konzentrieren.
I. Strukturen auf den Prüfstand stellen
Zuerst müssen wir die Strukturen, Ebenen, Institutionen und
Verantwortlichkeiten unseres Staates kritisch überprüfen: Was ist
doppelt, was kann weg, was muss dazu kommen? Das gilt auch für die Wege
der Entscheidungsfindung. Unsere Gesellschaft ist auf Konsens ausgelegt.
Einvernehmlichkeit fühlt sich befreiend an und dient auch dazu,
Verantwortung zu verschleiern.
Wir haben mit Bund, Ländern,
Bezirksregierungen, Landkreisen und Gemeinden in manchen Bundesländern
bis zu fünf Verwaltungsebenen, die an irgendeiner Stelle mitentscheiden.
Das geht oftmals zu langsam – schon in normalen Zeiten. Geld ist oft
ausreichend vorhanden, es kommt aber nicht rechtzeitig dort an, wo es am
dringendsten gebraucht wird. Bund, Länder und Kommunen sind in diesen
Strukturen nicht schnell und nicht effizient genug. Deshalb wollen wir
die Strukturen und Entscheidungswege unseres Staates überprüfen und, wo
erforderlich, reformieren.
Inventur aller staatlichen Aufgaben
Dazu
müssen wir zunächst eine grundlegende Inventur aller staatlichen
Aufgaben vornehmen. Die so identifizierten Aufgaben müssen wir dann
bewerten. Dabei wird sich dann herausstellen, dass, wie bei jeder
Inventur, einiges ausgesondert werden kann. Denn der Staat muss nicht
alles regeln, nicht für alles sorgen, nicht für die Bewältigung jedes
persönlichen Lebensrisikos verantwortlich sein.
Die verbleibenden
Aufgaben des Staates und die zugrundeliegenden Prozesse müssen dann
klar den föderalen Ebenen des Staates unter Einbeziehung der Kommunen
zugeordnet werden. So vermeiden wir Doppelstrukturen und unklare
Verantwortlichkeit. Jede staatliche Ebene braucht außerdem die Mittel,
um ihre Aufgaben optimal erfüllen zu können. Deshalb müssen wir den
Finanzbedarf für die Erfüllung der Aufgaben feststellen. Jede föderale
Ebene hat dann ihre ureigenen Aufgaben, ihren Finanzbedarf und ihre
eigenen Steuern, um diesen Finanzbedarf zu decken. Der mittlerweile
völlig intransparente Verschiebebahnhof im Finanzverhältnis zwischen
Bund, Ländern und Kommunen wäre damit Vergangenheit.
II. Verwaltungshandeln modernisieren und beschleunigen
Alles in allem hat unsere Verwaltung auch in der Krise
überwiegend gut funktioniert. Gleichzeitig hat die Krise aber auch wie
ein Brennglas klaren Handlungsbedarf offengelegt: Wenn der Staat von
privaten Arbeitgebern Homeoffice für alle verlangt, aber in Ländern wie
Berlin nur ein Bruchteil der Mitarbeiter überhaupt über Dienstlaptops
verfügt. Wenn Senioren in ihrem Bundesland einen Impftermin buchen
wollen, aber selbst mit Unterstützung der Enkel an Warteschleifen und
abstürzenden Internetseiten scheitern.
Verfahren entschlacken und beschleunigen
Deshalb
müssen wir die Gewissheiten des Verwaltungshandelns einer umfassenden
Überprüfung unterziehen. Hierarchien, Entscheidungsabläufe,
Schriftgutverwaltung, Vergabewesen müssen wir zeitgemäß
weiterentwickeln. Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen wir
konsequent entschlacken und dann beschleunigen.
Ein Beispiel: Die
Bedeutung des Hamburger Hafens für Stadt und Region, aber auch als
wirtschaftliche Lebensader für uns als Exportnation ist kaum zu
überschätzen. Die Schiffe werden immer größer, müssen den Hafen aber
auch erreichen können. Dafür muss die Elbe regelmäßig ausgebaggert
werden. 2019 wurde mit der letzten Vertiefung begonnen, nach 17 Jahren
Planung und Auseinandersetzung mit den Gegnern. Abgeschlossen wurde sie
dann im März 2021, nach knapp 20 Jahren. Das funktioniert so nicht.
Anderes
Beispiel: In der Nähe des Wirtschaftsministeriums in Berlin-Mitte steht
eine Kita, davor sollte ein Zebrastreifen gemalt werden. Im Januar 2017
bejahte der Berliner Senat die Erforderlichkeit. Fertiggestellt wurde
der Zebrastreifen im Sommer 2020: dreieinhalb Jahre und 18
Verwaltungsvorgänge für etwas Farbe auf Asphalt.
Das ist keine
Kritik an den Mitarbeitern der Verwaltung: Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im öffentlichen Dienst machen einen guten Job und haben sich
in der Krise als zuverlässige Kraft erwiesen. Gleichwohl wissen viele
von uns, wie Verwaltungsstrukturen auch gute Ideen ausbremsen und
notwendige Initiativen im Sande verlaufen lassen. Wir brauchen mehr Raum
für neue, agile Arbeitsweisen und -methoden in der Verwaltung. Die
Expertise von Seiteneinsteigern müssen wir nutzen und den Wechsel von
der Wirtschaft in die Verwaltung und zurück Realität werden lassen.
III. Unseren Staat grundständig digitalisieren
Bund,
Länder und viele Kommunen haben in den vergangenen Jahren intensiv am
Fundament für eine umfassende Digitalisierung gearbeitet. Aber gerade in
der Krise wäre es gut gewesen, wenn wir schneller und schon weiter
gewesen wären.
In der Vergangenheit haben wir bei der Digitalisierung zu oft auf Goldrandlösungen gesetzt. Diese
gingen an den echten Bedarfen vorbei und haben sich nicht durchgesetzt:
der digitale Personalausweis, das Projekt De-Mail. Kennen Sie jemanden,
der diese Verfahren im Privaten nutzt? Ich nicht. Das sollte uns zu
denken geben.
Weitere Beispiele: Es gibt weder ein zentrales
Grundbuch für Deutschland noch ein zentrales Melderegister. Die aktuelle
Koalition aus Union und SPD hat im Bereich Registermodernisierung und
Onlinezugangsgesetz sicherlich einiges auf den Weg gebracht, was viele
Jahre liegen geblieben ist.
Online-Banking geht schon längst, Online-Autoanmelden nicht
Wir
können uns bei der Digitalisierung keine weiteren Verzögerungen
leisten. Meine Zielvorstellung für das Modernisierungsjahrzehnt der 20er
Jahre ist die Digitalisierung aller wesentlichen
Verwaltungsdienstleistungen. Die Verwaltung muss jeden Bürger digital
mit den notwendigen Dienstleistungen versorgen können: für jede
Generation. Zu jederzeit und an jedem Ort. Sicher, benutzerfreundlich
und barrierefrei. Oder können Sie erklären, warum Online-Banking auch
mit größeren Summen möglich ist, die Zulassung von Kraftfahrzeugen aber
nicht überall von zu Hause aus digital erfolgen kann?
Dabei müssen
wir die Themen Datenschutz und Cybersicherheit neu denken: Den
Datenschutz müssen wir entschlacken. Im Kern muss die Frage stehen, wie
wir Daten für bessere Dienstleistungen nutzen können. Gleichzeitig
müssen wir bei der Cybersicherheit zulegen, um staatliche und private
Infrastrukturen zu schützen. Es gibt Feinde der Demokratie im Inneren
und im Äußeren: Hier müssen wir eine wehrhafte Demokratie sein.
IV. Bevölkerungsschutz stärken
Die
Fähigkeiten von Bund und Ländern im Bevölkerungsschutz müssen wir
besser verknüpfen und deutlich stärken. Dafür sollten wir die Lektionen
aus der Coronakrise systematisch erheben und kritisch reflektieren.
Gefahren
für die Bevölkerung können im Cyberraum, durch Klimawandel, durch
Überschwemmungen oder im Gesundheitsbereich entstehen. Die nächste große
Krise kommt vielleicht erst in 20, vielleicht aber schon in zwei
Jahren.
Wir müssen vorbereitet sein. Wir müssen den Staat so
aufstellen, dass er für unvorhergesehene Katastrophen gewappnet ist. Im
Bund müssen wir eine zentrale Schaltstelle schaffen. Wir müssen Krisen
üben, Automatismen schaffen. Hier muss das Bundesamt für
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) künftig eine stärkere
Rolle spielen. Die von Bundesinnenminister Seehofer und dem Präsidenten
des BBK Armin Schuster vorgeschlagenen Reformideen sind richtig und
müssen zügig umgesetzt werden.
Stehende Katastrophenstäbe, mehr Übungen, bessere Vernetzung
So
wie unsere Bundeswehr im Kalten Krieg gut ausgebildet und mit einer
starken Reserve ausgestattet in ständiger Bereitschaft war, so müssen
wir jetzt die Strukturen zum Schutz der Bevölkerung aufstellen. Auf
regionaler Ebene haben wir gut funktionierende Strukturen im
Katastrophenschutz, ob durch Feuerwehr, THW oder andere ehrenamtliche
Hilfsdienste. Diese sind gut geschult, vernetzt und vor allem tun sie
eins: üben, üben, üben.
Das brauchen wir auch auf Bundesebene.
Stehende Katastrophenstäbe, mehr Übungen und eine bessere Vernetzung.
Und wir bräuchten neben den sehr gut arbeitenden Hilfsorganisationen
eine zivile Reserve. Männer und Frauen zum Beispiel mit
Verwaltungshintergrund, die bereit sind, in der Pandemie im
Gesundheitsamt administrative Aufgaben zu übernehmen.
Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern genauer ansehen
Die
verfassungsrechtlichen Kategorien für den Krisenfall entstammen einer
Zeit, in der militärische Auseinandersetzungen die wahrscheinlichsten
Krisenauslöser waren. Jetzt aber müssen wir uns für aktuelle Krisen
wappnen. Zum Beispiel sollten wir uns Artikel 35 des Grundgesetzes, der
die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Krise regelt, genauer
ansehen. Wir müssen in der Lage sein, im Krisenfall schnellstmöglich
Kräfte überall dort in Deutschland einzusetzen, wo es erforderlich ist.
Hier müssen wir klare Strukturen und eindeutige Abstimmungswege zwischen
Bund, Ländern und Kommunen schaffen.
Ausblick
Diese vier
Schritte für eine Modernisierung des Staates sind erste Lehren aus der
Pandemie. Wir stehen am Anfang eines Modernisierungsjahrzehnts. Wir
sollten die Krisenfestigkeit unseres Landes stärken und ausbauen. Da
gibt es noch sehr viel zu tun, wir müssen jetzt anfangen. Und zwar
gemeinsam. Die umfassende Modernisierung unseres Staatswesens ist eine
Herkulesaufgabe und sie braucht politische Führung und Entschlossenheit.
Dazu müssen die Verantwortlichen in Bund und Ländern zusammenwirken und
erkennen, dass wir jetzt einen Sprung nach vorne machen können.
Ohne
die Länder und Kommunen geht es nicht, das wird in manch hitziger
Debatte vergessen. Der Bund kann und will die Verwaltungen in Städten
und Kommunen nicht per Anordnung modernisieren, er kann aber den Impuls
geben und vorangehen. Diese Reform wird nur mit den Menschen gelingen:
mit den vielen Ideen und Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im öffentlichen Dienst selbst und mit der Kreativität aller
anderen Bürgerinnen und Bürger.
Brauchen wir die ganzen Gesetze?
Wir
neigen in Deutschland dazu, viel zu regeln. Viele sind davon überzeugt,
dass sich mit Gesetzen die Wirklichkeit verändert. Im Bundestag steht
in dieser Legislaturperiode noch eine hohe zweistellige Anzahl von
Gesetzen zur Beratung an – in nur drei Sitzungswochen. Brauchen wir
wirklich jedes dieser Gesetze? Die Wirklichkeit verändert sich nicht
durch ein Gesetz, das im Bundesgesetzblatt steht, nicht durch Geld, das
im Bundeshaushalt zur Verfügung steht. Es verändert sich etwas durch
Machen, Tun, Handeln. Wir brauchen einen anderen Geist in unserem Land.
Der Staat, das sind nicht „die da oben“ – der Staat ist das organisierte
„Wir“. Der Staat ist unsere Gemeinschaft, die uns alle angeht.
Wir brauchen Mut, etwas zu wagen. Mut etwas anders zu machen
als bisher. Mut, neue Wege zu gehen. Dabei werden auch Fehler passieren.
Und das ist auch gut so, denn die Angst vor der Fehlervermeidung lähmt
unser Land an zu vielen Stellen.
Um nicht missverstanden zu werden:
Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland trotz der von mir
kritisierten Unzulänglichkeiten ein sehr gutes, in einigen Bereichen
sogar ein herausragendes Land ist. Aber wir brauchen einen „Neustaat“,
damit das Gute bleibt. Nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt.
Nota. - Eine grundlegende Staatsreform?! - Na ja, das reißt einem alles nicht grade die Schuhe von den Füßen, jedenfalls nicht, solange man jedes für sich nimmt. Aber jedes für sich - das ginge gar nicht: Das könnte Jahrzehnte dauern, dafür die jeweils erforderliche Mehrheit zu finden; und davon, es dann auch noch bis in die Verwaltungen hinein durchzusetzen, gar nicht zu reden... Das geht nur als Gesamtpaket, das nicht mit je nach Wahlperiode neu zusammen-zusetzenden Koalitionen, sondern nur von einer strategischen Allianz durchzusetzen wäre, und nicht als wechselhafte Schnittmenge von konkurrierenden Wahlkämpfern, sondern als bindendes Programm - und dies nicht bloß, weil gelegentlich Zweidrittelmehrheiten erfor-derlich würden.
Das ist zwar noch meilenweit entfernt von der Radikalen Mitte, die ich zu propagieren nicht müde werde. Aber es ist doch, wenn ich's recht übersehe, ein ernstliches Novum in der deut-schen Politik. Ob er sich der Tagweite bewusst ist? Wenn nicht, wäre es Zeit, dass er's wird.
JE