Sonntag, 31. März 2019

Der Anteil von Frauen an der Sklaverei.

WON Kombo Download original file1142 × 1244 px png View in browser You can attribute the author Show me how Enslaved Black woman wet-nursing White infant CIRCA MID 1930's: Southern ladies chat with a slave during a recreation of pre Civil War life on a plantation circa mid 1930's in the deep south. (Photo by Ivan Dmitri/Michael Ochs Archive/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
aus welt.de, 31. 3. 2019                                           Sklavenhalterinnen ließen ihre Kinder gern von schwarzen Ammen stillen

US-Frauen als Sklavenhalter
Zum Sex gezwungen, um als Amme zu dienen
Im Sommer 1619 wurden 20 afrikanische Sklaven nach Jamestown in der Kolonie Virginia gebracht. Damit kam die Sklaverei nach Nordamerika. Frauen waren daran aktiver beteiligt als lange angenommen.



Am 20. August 1619 verloren die USA ihre Unschuld, obwohl sie noch gar nicht gegründet waren. An diesem Tag ging ein niederländisches Schiff im Hafen von Jamestown, der ersten dauerhaften englischen Siedlung in Nordamerika, vor Anker. Die Ladung weckte das Interesse der Bewohner, handelte es sich doch um Sklaven aus Afrika. 20 von ihnen fanden bald einen Käufer, die sie als Arbeitskräfte auf den Tabakplantagen einsetzten, mit der die künftige Kronkolonie Virginia zu Wohlstand kommen sollte.

Das Beispiel machte Schule. Je mehr Siedler nach Nordamerika kamen und weitere Kolonien gründeten, desto mehr Sklaven aus Afrika wurden importiert. Bis zum Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges gegen die englische Krone 1775 waren es mehr als 300.000. Auch nachdem die 13 Kolonien ihre Unabhängigkeit erkämpft und sich die freiheitlichste Verfassung des Planeten gegeben hatten, blieb fast ein Fünftel ihrer Bewohner Sklaven - belebte Dinge, Produktionswerkzeuge, Handelsware.

Bereits im Vorfeld des 400. Jahrestages des Geschäfts von Jamestown drängt die Sklaverei in den USA ins Tagesgespräch. Nicht nur, dass die rassistischen Anschläge in US-Südstaaten in jüngster Zeit dieses dunkle Kapitel der amerikanischen Geschichte wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben haben. Vor allem bringen – wie das anlässlich markanter Gedenktage so ist – Ausstellungen, Studien, Bücher bislang unbekannte Aspekte des Themas ans Licht.

Das gelingt auch Stephanie Jones-Rogers mit ihrem Buch „They Were Her Property“ (Sie waren ihr Eigentum). Darin entzaubert die Historikerin von der Universität von Kalifornien in Berkeley einen Mythos der Sklavereigeschichte. Frauen in den US-Südstaaten, so die überkommene Meinung, hätten bei der Haltung der Sklaven keine große Rolle gespielt. Doch das Gegenteil war der Fall. Sie waren höchst aktiv an der Unterdrückung der Menschen beteiligt, die vor dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs 1861 ein Drittel der Einwohnerschaft in den sklavenhaltenden Staaten ausmachten.

Zum Beispiel Martha Gibbs. Sie besaß in Vicksburg im US-Bundesstaat Mississippi ein Sägewerk, das von zahlreichen Sklaven betrieben wurde. Martha Gibbs sorgte insofern gut für ihre Sklaven, als sie zwei Häuser für ihre Unterbringung hatte bauen lassen und sogar eine Kirche. Dass sie ihnen auch ausreichend Nahrung zur Verfügung stellte, war hingegen üblich, denn Sklaven waren ein wertvolles Eigentum, dessen Arbeitskraft es zu erhalten galt. Schließlich war die Einfuhr von Sklaven seit Anfang des 19. Jahrhunderts verboten. Zwischen 1800 und 1860 stieg der Preis für einen gesunden Afroamerikaner von 600 auf 1600 bis 1800 Dollar.


Slaves working with a 19th century cotton gin on a plantation in a southern state of the United States of America. From The History of Our Country, published 1905. (Photo by: Universal History Archive/UIG via Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Ihr persönliches Eigentum: Sklaven unter Aufsicht bei der Baumwollernte

Wie andere Sklavenbesitzer auch ließ Martha Gibbs ihre Leute von schwer bewaffneten Aufsehern bewachen. Schließlich war ein möglicher Aufstand das Trauma des Südens. Als ihr Ehemann gegen das brutale Auspeitschen von Sklaven protestierte, wies sie ihn streng darauf hin, dass die Sklaven ihr persönliches Eigentum seien.

In den Nordstaaten ging die Sklavenhaltung nach der Gründung der USA schnell zurück. Sie entpuppte sich dort als wirtschaftlich unrentabel und galt zudem als moralisch fragwürdig. Im Süden wurde dagegen die Sklaverei nach der Erfindung der Baumwoll-Entkörnungsmaschine (Cotton Gin) durch Eli Whitney 1793 zur Grundlage unvorstellbaren Reichtums. Da Baumwolle nun arbeitsökonomisch in großem Stil verarbeitet werden konnte, stiegen die US-Südstaaten zum weltgrößten Exporteur dieses Schlüsselprodukts der Industrialisierung auf.

Ginning cotton by steam powered gin in 1861. U.S. cotton production supplied the textile mills of the U.S. North and Britain, and accounted for 57% of U.S. exports in 1860. | Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
 
Diese Erfindung zementierte die Sklaverei in den USA

Zwischen 1812 und 1860 steigerten die Pflanzer zwischen North Carolina und Louisiana die Jahresproduktion des Weißen Goldes von weniger als 300.000 auf mehr als vier Millionen Ballen. Das waren gut zwei Drittel der Weltproduktion. Die Sklaven haltende Pflanzeraristokratie avancierte zur wohlhabendsten Unternehmergruppe der Erde.

Zu ihnen gehörten Ehefrauen, Witwen, Erbinnen, Nonnen. Die Ursulinen in New Orleans etwa engagierten sich aktiv im Handel mit Sklaven und ließen sie auf ihren Plantagen arbeiten. Paradoxerweise ermöglichte der Besitz von Sklaven Frauen die eigene Freiheit auf Kosten anderer. Der Handel mit Sklaven war nicht an einen Ort gebunden, er konnte überall stattfinden, so auch im informellen Kontext eines Wohnzimmers oder auf der Veranda eines Privathauses.

Cotton is king - plantation scene with pickers at work. Georgia', c1900. [Underwood & Underwood, New York, London, Toronto-Canada, Ottawa-Kansas, 1900]. (Colorised black and white print). Artist Unknown.. (Photo by The Print Collector/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
um 1900 in Georgia

Stephanie Jones-Rogers weist nach, dass Frauen in den Südstaaten gerne von den Eltern zu wichtigen Ereignissen in ihrem Leben Sklaven geschenkt bekamen – und zwar mit Brief und Siegel, so blieben die Eigentumsverhältnisse auch bei einer Heirat unangetastet. Tatsächlich zögerten Frauen nicht, örtliche oder staatliche Gerichte in Anspruch zu nehmen, wenn ihre Ehemänner sich an ihrem „Besitz“ vergriffen.

Dies war beispielsweise der Fall, wenn Sklaven brutal ausgepeitscht wurden. Das minderte ihre Arbeitskraft und schädigte damit das persönliche Einkommen der Gattin. Ein anderer häufiger Fehltritt war sexueller Natur. Viele weiße Männer nutzten ihre Überlegenheit zur schnellen Triebbefriedigung, was ihre Ehefrauen kaum goutierten, zumal wenn Kinder mit brauner Hautfarbe auf die Welt kamen.


Sklaverei in den USA

Besonders beliebt waren weibliche Sklaven als Geschenk, denn sie waren eine Investition in die Zukunft; schließlich konnten sie Kinder zur Welt bringen, die dann ebenfalls der Eigentümerin gehörten. Da der internationale Menschenhandel verboten war, kam dem nationalen Geschäft mit Sklaven sowie ihrer Reproduktion größte Bedeutung zu. Nicht von ungefähr stieg die Zahl der Sklaven in den Südstaaten auf vier Millionen im Jahr 1860.

Sklavinnen erfüllten noch einen weiteren Zweck: Sie konnten ihrer „Eigentümerin“ als Amme dienen. Stephanie Jones-Rogers hat entsetzliche Fälle von sexueller und psychischer Gewalt recherchiert. Emily Haidee, eine Sklavenhalterin aus Louisiana, zwang ihre Sklavin Henrietta Butler zu Sex mit einem Mann auf der Plantage. Die Sklavin wurde schwanger, das Kind starb kurz nach der Geburt. Während Henrietta Butler noch um ihr Kind trauerte, musste sie das Baby ihrer „Herrin“ stillen.

Schlacht am Antietam
Amerikas blutigster Tag und das Ende der Sklaverei

Am 1. Januar 1863 trat die „Emanzipationsproklamation“ von US-Präsident Abraham Lincoln in Kraft, nach der alle Menschen, die als Sklaven in den Südstaaten gehalten werden, „fortan und für immer frei sein sollen“. Überall da, wo Unionstruppen auf dem Vormarsch waren, wurde die Proklamation in die Tat umgesetzt, was dem Süden seiner mobilen Vermögenswerte beraubte. Für die endgültige Abschaffung sorgte der 13. Zusatzartikel zur Verfassung vom 18. Dezember 1865.

Um den Widerstand der Sklaven haltenden Staaten Missouri, Kentucky, Maryland und Delaware, die zur Union gehalten hatten, gegen eine Aufhebung der Sklaverei zu brechen, hatte Lincoln anfangs eine Entschädigung der Sklavenhalter ins Spiel gebracht. Stephanie Jones-Rogers weist nach: 40 Prozent der Eingaben erfolgten von Frauen. Unter ihnen befanden sich auch Mitglieder weiblicher Ordensgemeinschaften wie die Schwestern von der Heimsuchung Mariens (Visitantinnen) in Georgetown (Washington D.C.)

Stephanie E. Jones-Rogers: „They Were Her Property. White Women as Slave Owners in the Amerikan South“. (Yale University Press, 320 S., ca. 28,50 Euro)


Nota. - Das Wort Negersklaven kommt gar nicht vor. Das waren schon damals "Afroamerikaner". So fälscht der gute Wille die Geschichte und merkt es nicht.
JE

Donnerstag, 28. März 2019

Volksseuche Narzissmus.

Narcissus, Gyula Benczúr
aus spektrum.de, 28.03.2019

Auf dem einsamen Sockel 
Es gibt zwei Theorien zu den Wurzeln narzisstischer Persönlichkeiten: Die Eltern hätten ihnen in der Kindheit zu wenig oder aber überzogen viel Lob und Aufmerksamkeit geschenkt. Was stimmt?

von Annemarie Huiberts

»Das hab ich noch nie gemacht, also werd ich es schaffen.« Die unbedarfte Einstellung von Pippi Langstrumpf ist typisch für Kinder. Auch Erwachsene dürfen sich ruhig hin und wieder Wunschvorstellungen hingeben, die dem Ego wohltun, findet der Psychoanalytiker Frans Schalkwijk von der Universität Amsterdam. In seinem jüngst veröffentlichten Buch über Narzissmus schildert er eine Reihe eigener Größenfantasien. So halte er sich für den allerbesten Psychoanalytiker – innerhalb seiner eigenen vier Wände. Und unterwegs mit seinen Enkeln stelle er sich gerne vor, dass jeder bemerke, wie toll er mit den Kleinen umgeht. Ihm sei schon klar, dass die Passanten wahrscheinlich andere Dinge im Kopf oder höchstens Augen für die Kleinen hätten – und nicht für ihn. Aber solche Größenfantasien seien harmlos, solange man sie selbst nicht allzu ernst nehme.

Beim Narzissten allerdings laufen diese Gedanken aus dem Ruder: Sie sind von ihrer Großartigkeit überzeugt. Und das müssen sie auch, denn sie verfügen über kein stabiles Selbstbild und können es deshalb schlecht ertragen, sich unbedeutend zu fühlen. Entweder sind sie die Besten, oder sie sind gar nichts wert. Ein Mittelding gibt es für sie nicht.

Um ihr übertrieben positives Selbstbild zu schützen, interpretieren Narzissen die Wirklichkeit ständig zu ihren Gunsten um. Abweichende Meinungen tun sie als mangelnde Einsicht ab oder führen sie auf Neid oder Eifersucht zurück. Wegen ihres fragilen Selbstbilds tun sie sich auch schwer, ihre Emotionen zu regulieren: Sie fühlen sich schnell angegriffen und reagieren ungehalten. Eine kleine Meinungsverschiedenheit löst auf diese Weise leicht einen narzisstischen Wutanfall aus. Kein Wunder, dass Narzissmus oft mit zwischenmenschlichen Problemen einhergeht.

Für Schalkwijk ist die Abkehr von den Mitmenschen der eigentliche Kern der Sache. Das Problem von Narziss, dem schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie, war nicht, dass er sich selbst so sehr liebte – sondern dass er niemanden außer sich selbst liebte. Sogar die bezaubernde Nymphe Echo verschmähte er, und darauf folgte eine göttliche Strafe: Er verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild. Der Mythos nimmt für ihn kein gutes Ende: In der einen Variante ertrank er, in der anderen siechte er langsam dahin.

Genug von den alten Griechen. Woran erkennt man Narzissten im Alltag? »Angenommen, du unterhältst dich auf einer Party mit einem Narzissten«, sagt Schalkwijk. »Sobald er deinen Beruf erfährt, wird er dir erklären, wie deine Welt funktioniert. Auch wenn er keine Ahnung davon hat.«

Es gibt aber noch eine weniger auffällige Variante. »Jemand will alles über einen wissen, scheint wirklich interessiert und hängt einem an den Lippen«, fährt Schalkwijk fort. »Doch auch hier fehlt es an Gegenseitigkeit, denn am Ende des Gesprächs merkt man, dass man nichts von seinem Gegenüber erfahren hat.«


Kennzeichen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nach DSM-5
  • grandioses Gefühl von Wichtigkeit, Übertreiben eigener Leistungen und Talente
  • Fantasien von Erfolg, Macht, Schönheit oder perfekter Liebe
  • Glaube, besonders zu sein und nur mit besonderen Menschen auf Augenhöhe zu sein
  • Verlangen nach Bewunderung
  • Anspruchshaltung und Erwartung, bevorzugt behandelt zu werden
  • nutzenorientierte Beziehungen
  • Mangel an Empathie und Rücksicht für Gefühle und Bedürfnisse anderer
  • Neid oder Vermutung, andere seien neidisch
  • Überheblichkeit

Der erste Gesprächspartner – voll und ganz mit seiner eigenen Großartigkeit beschäftigt – vereint viele Züge, die das klinische Handbuch DSM-5 zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung zählt. Die Diagnosebibel der Psychiatrie legt den Fokus auf die zur Schau gestellte Großartigkeit und das Bedürfnis nach Bewunderung. Das greife aber zu kurz, meint Schalkwijk. Neben diesem »grandiosen« Narzissmus gibt es eine Variante, die mit sozial erwünschteren Eigenschaften und Verhaltensweisen einhergeht: den »verletzlichen« Narzissmus. Charakteristisch seien Schamgefühle und Überempfindlichkeit gegenüber Kritik und Ablehnung.

»Indem er sich interessiert und hilfsbereit zeigt, übernimmt der verletzliche Narzisst die Rolle der Mutter Teresa«, sagt Schalkwijk. »Das hat auch etwas Nötigendes, beschränkt die Autonomie. Es geht dem Narzissten nicht um die Bedürfnisse seines Gegenübers, sondern darum, Lob und Dankbarkeit zu erfahren.«

Lange Zeit wurden grandiose und verletzliche Narzissten als zwei verschiedene Gruppen betrachtet. Einer neuen Sichtweise zufolge tragen jedoch alle narzisstischen Persönlichkeiten beides in sich, in unterschiedlichem Ausmaß. Wer am Vorabend der schillernde Mittelpunkt einer Party war, kann sich am nächsten Tag sorgen, welchen Eindruck er wohl hinterlassen hat. Ein- und dieselbe Person kann sich mal großartig in Szene setzen, mal hochgradig verwundbar sein.

Die Tragödie des Narzissten

Narzissmus hat seinen Ursprung in der Kindheit, so Schalkwijk. Wenn die Eltern nicht auf die Bedürfnisse ihres Babys nach Aufmerksamkeit und Verständnis eingehen, wird das Kind verunsichert, reagiert verstört. Warum sehen sie nicht, wie ich mich fühle? Warum tun sie nicht etwas, damit es mir besser geht? Nach einer unendlichen Anzahl solcher Enttäuschungen »entscheidet« das Kind, dass es ohne andere Menschen auskommen möchte. Es entwickelt sich ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster. »Die Tragödie ist, dass ein Narzisst eigentlich unbedingt andere Menschen braucht«, sagt Schalkwijk. »Seine Eltern haben ihn nicht ausreichend spüren lassen, dass sie ihn lieben. Deshalb hat er ein derart großes Bedürfnis, bewundert zu werden, dass er damit andere abstößt.«

Diese Dynamik beschreibt Schalkwijks Landsmann Martin Appelo, Psychologe und Verhaltenstherapeut, als Teufelskreis: Um das instabile Selbst nicht spüren zu müssen, blasen sich Narzissen auf und hinterlassen so oft einen selbstbewussten ersten Eindruck. Fällt dem Gegenüber der Mangel an Wechselseitigkeit auf, gehe die Wertschätzung jedoch verloren. Narzissten empfinden das als Angriff, werten das Gegenüber ab und stehen schließlich allein da. Das instabile Selbst wird bestätigt; der Kreis schließt sich.

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Der Psychologe Eddie Brummelman von der Universität Amsterdam glaubt zwar ebenfalls, dass Narzissten in einem Teufelskreis feststecken. Der Grund liege allerdings nicht in einem instabilen Selbst oder einem niedrigen Selbstwertgefühl. »Das würde zwar erklären, warum sich Narzissen manchmal schämen, obwohl sie sich großartig zu finden scheinen«, sagt Brummelman. »Aber mehrere Forschungsgruppen haben die Hypothese überprüft, und eine zusammenfassende Metaanalyse spricht dagegen, dass Narzissten unbewusst ein geringes Selbstwertgefühl haben.« Brummelman meint, dass vielmehr das Gefühl der eigenen Überlegenheit den Teufelskreis aufrechterhalte, denn das mache sie verwundbar: »Narzissten spielen sich auf, um von anderen bestätigt zu bekommen, dass sie zu den Besten gehören.«

Die Überzeugung, überlegen oder etwas Besonderes zu sein, ist nicht dasselbe wie ein hohes Selbstwertgefühl. Der Narzisst ist der Überzeugung, der Wert von Menschen lassen sich hierarchisch ausdrücken, und er stellt sich auf einen einsamen Sockel. Ein Mensch mit hohem Selbstwertgefühl hingegen hält sich für wertvoll, aber nicht für wertvoller als andere. Wenn man beides per Fragebogen misst, stellt sich heraus, dass es sich um zwei weitgehend unabhängige Dimensionen handelt. Es gibt in etwa so viele Narzissten mit einem hohen wie mit einem niedrigen Selbstwertgefühl.

Zwei Theorien vom Ursprung

Selbstwertgefühl und Narzissmus zeigen sich ungefähr im Alter von sieben Jahren. Erst dann haben Kinder ein allgemeines Urteil über sich selbst entwickelt, unter anderem, indem sie sich mit Gleichaltrigen vergleichen. In diesem Alter beginnen sie auch darüber nachzudenken, welchen Eindruck sie bei anderen hinterlassen. Brummelman betrachtet daher die mittlere und späte Kindheit als wichtigste Phase bei der Entstehung von Narzissmus.

Wie kommt es also, dass einige Kinder stark narzisstische Züge entwickeln? Nach psychoanalytischer Auffassung sind narzisstische Merkmale ein Versuch, die Leere zu kompensieren, die durch den Mangel an elterlicher Wärme entsteht. Kinder versuchen sich als großartig darzustellen, wenn sie sich von ihren Eltern nicht genug gesehen und verstanden fühlen.

Eine andere Erklärung bietet die Theorie des sozialen Lernens: Kinder finden sich dann selbst großartig, wenn Mama und Papa sie auf ein Podest stellen, als Geschenk des Himmels betrachten und zu stark übertriebenen und unverdienten Komplimenten neigen – und das weitgehend losgelöst von der Realität. »Zum Beispiel halten diese Eltern ihr Kind für viel intelligenter, als dessen IQ es nahelegt«, erläutert Brummelman. »Es beginnt schon mit der Geburt: Über-wertschätzende Eltern geben ihren Kindern oft einen ausgefallenen Vornamen.«

Brummelman testete die beiden konkurrierenden Theorien zur Entwicklung von Narzissmus in einer Langzeitstudie, an der mehr als 500 Kinder im Alter zwischen sieben und elf Jahren sowie deren Eltern teilnahmen. Die Hypothese der sozialen Lerntheorie bestätigte sich: Narzissmus hing deutlich mit übertriebener Wertschätzung zusammen, aber nicht mit einem Mangel an elterlicher Zuwendung.

Ein Kind lernt also, sich selbst für besonders zu halten, wenn seine Eltern es als solches behandeln, und es entwickelt Anspruchsdenken, wenn seine Eltern ihm einen Sonderstatus zugestehen. Laut Brummelman ist es die mit dem Besonderen verknüpfte Aufmerksamkeit, die zu Narzissmus führt. »Die betreffenden Eltern finden es so wichtig, dass ihr Kind sich von der Masse abhebt, dass sie eine implizite Botschaft vermitteln: Wir mögen dich, weil du besonders, weil du herausragend bist.«

Mangelnde elterliche Aufmerksamkeit und Wärme scheint nicht zu Narzissmus zu führen, hat aber einen anderen negativen Effekt: geringes Selbstwertgefühl. Brummelman zeigt, dass eine bedingungslose Zuneigung das kindliche Selbstwertgefühl fördert.

Klinische Praxis und psychologische Forschung verstehen unter Narzissmus nicht unbedingt dasselbe. Während Therapeuten wie Schalkwijk und Appelo darin eine frühe und andauernde Entwicklungsstörung sehen, definieren Sozialpsychologen Narzissmus als Persönlichkeitsmerkmal, das in der Bevölkerung normalverteilt ist: Die meisten Menschen liegen irgendwo in der Mitte, Extreme sind seltener.

Gibt es also zwei verschiedene Formen des Narzissmus: eine echte Störung, die in den ersten Lebensjahren aus der Enttäuschung und Vernachlässigung durch die Eltern entsteht, und eine »normale« Variante, die mit übertriebener elterlicher Wertschätzung im Grundschulalter zusammenhängt?

Schalkwijk hält das für wahrscheinlich. Die narzisstischen Probleme, mit denen er sich als Therapeut beschäftigt, hätten wenig mit Narzissmus als Persönlichkeitsmerkmal zu tun. »Ein Persönlichkeitsfragebogen misst Selbstwertgefühl und Individualismus, nicht pathologischen Narzissmus.«

Brummelman hingegen hält normalem und pathologischen Narzissmus nicht für grundverschieden. »Der Kern von Narzissmus ist stets, sich selbst über andere zu stellen. In seiner Extremform kann das zu einer Störung werden.« Seine Forschung zeige, dass Narzissmus nicht unbedingt in einer instabilen Basis wurzelt. Doch in der klinischen Praxis hält sich diese Vorstellung hartnäckig. Das liegt vielleicht daran, dass Eltern oft beides tun: ihr Kind auf einen Sockel stellen und zugleich nicht angemessen auf seine Bedürfnisse reagieren.

Ein bisschen mehr Miteinander

Bei Erhebungen in den USA fällt auf, dass narzisstische Züge anscheinend seit den 1980er Jahren zunehmen. Steht am einen Ende der Skala der Dalai Lama und am anderen Ende Donald Trump, so hat sich der Schwerpunkt anscheinend in Richtung des Letzteren verschoben. Diese Entwicklung erklärt der britische Journalist und Autor Will Storr in seinem Buch »Selfie« 2018 mit dem Glauben an die freie Marktwirtschaft. Um in einer Wettbewerbskultur erfolgreich zu sein, sollte man nicht durchschnittlich, sondern ganz und gar großartig sein.

Wenn es den Kern von Narzissmus ausmacht, sich von den Mitmenschen abzuwenden, dann liegt das Heil in der Zuwendung, im Mitfühlen und Sorgen. Wir sitzen alle im selben Boot, und diese Erkenntnis sollte uns auf der Narzissmusskala weg von Trump und hin zu einem guten Miteinander bewegen. Natürlich wollen wir nicht alle zu einem Dalai Lama werden. Manchmal möchte man einfach wie Pippi Langstrumpf glauben, dass man alles schaffen kann, auch wenn man es noch nie zuvor getan hat.

Tipps für Eltern

Überschwängliches Lob kann unerwünschte Folgen haben, warnt Eddie Brummelman von der Universität Amsterdam. Er beobachtete, wie Eltern und Kind gemeinsam eine Aufgabe erledigten, und entdeckte ein Paradoxon: Lobten die Eltern in übertriebener Weise, zeigten die Kinder einige Monate später ein schwächeres Selbstwertgefühl. Unangemessene Komplimente wirkten womöglich verunsichernd, vermutet der Psychologe. Bei Kindern mit hohem Selbstwertgefühl stellte er hingegen fest, dass sie nach überzogenem Lob narzisstischer wurden.

Narzissmus vorbeugen:
  • Versuchen Sie Ihr Kind objektiv zu beurteilen
  • Loben Sie Engagement, nicht das Ergebnis
  • Loben Sie angemessen
  • Drängen Sie es nicht dazu, andere zu übertreffen
  • Beanspruchen Sie keine Sonderrechte für Ihr Kind
Das Selbstwertgefühl fördern:
  • Zeigen Sie Ihrem Kind, dass es wertvoll ist
  • Unternehmen Sie etwas zusammen
  • Haben Sie gemeinsam Spaß
  • Umarmen Sie es
  • Zeigen Sie Interesse für sein Tun

Nota. - Am grassierenden Narzissmus sei die Marktwirtswchaft schuld, er stamme aus der Konkurrenz? Das ist 08/15-Psychologie. Der erfolgreiche Marktteilnehmer achtet genau auf die Signale aus seiner Umwelt und sucht sie sorgfältig von seinen Privatneigungen zu unterscheiden; was er sucht, ist der Vorteil, um dessentwillen nimmt er zähneknirschend auch eine Demütigung in Kauf.

Die Marktwirtschaft wird vom Wert beherrscht. Das ist vorbei. Gewinne kommen heute eher aus der Spekula- tion. Da spielt wie beim Poker der Bluff eine Rolle. Freilich Bluff im großen Stil, dafür braucht man die nötigen Mittel. Die Mediale Gesellschaft verwischt dieses kleine, aber entscheidende Detail. Jeder für eine Viertelstunde ein Star war die Parole der Pop-Kultur. Sie hat Verheerungen angerichtet. Das allgemeine Kreischen und Kra- keelen ist so schrill geworden, dass es uns alle betäubt. Da hört der Narziss dann sein Herz höher schlagen.
JE

Mittwoch, 27. März 2019

Wissenschaft ersetzt Vernunft.

Pappbecher für Heißgetränke
aus Süddeutsche.de,

Motivationsforschung
Das machen alle so
  • Psychologen haben untersucht, wie sich Menschen zu umweltfreundlichem Verhalten motivieren lassen. 
  • Laut dem Experiment funktioniert das besonders gut, indem der Herdentrieb geweckt wird; also mit dem Hinweis, dass viele andere auch so handeln. 
  • Die Forscher untersuchten das am Beispiel von Pappbechern für Kaffee

Von Sebastian Herrmann 

Die Fahrer übermotorisierter Stadttraktoren sind ein beliebtes Feindbild. SUVs beanspruchen viel zu viel Platz auf den chronisch verstopften Straßen. Der Spritverbrauch dieser Autos ist hoch, das belastet Klima und Luftqualität. Und wenn einem dann auf der Autobahn so ein Geschoss an der Stoßstange hängt, ist oft unklar, ob es sich um ein Überholmanöver oder einen Tötungsversuch handelt. SUVs gelten sehr vielen Menschen als Paradesymbol der Verschwendung und des Egoismus. Jedoch halten diese weitverbreiteten moralischen Verurteilungen kaum jemanden davon ab, sich einen SUV zu kaufen: Die Industrie verdient prächtig mit den Modellen. Und deren Besitzer halten ihre Kritiker vermutlich für penetrante Öko-Spießer, die lieber die linke Spur freigeben sollten, statt zu moralisieren.

Die Menschen sind bockig und stur. Sie ändern ihr Verhalten höchst ungern, egal, wie gut die Argumente sind. "Wer andere auf Fehlverhalten hinweist, provoziert damit vor allem Ablehnung", sagt David Loschelder von der Leuphana-Universität Lüneburg. Der Psychologe hat gerade eine Studie publiziert, die einen möglichen Ausweg anbietet - was in Zeiten des Klimawandels, so lästig das auch klingen mag, nicht ganz unwichtig sein könnte. Die kurze Nachricht lautet: Um Verhalten zu ändern, sollte man den Herdentrieb des Menschen ausnutzen. "Dazuzugehören, Teil einer Gruppe zu sein, sind menschliche Grundbedürfnisse", sagt Loschelder. Wer nicht weiß, was er tun soll, der schaut eben erst einmal, was die anderen machen, und orientiert sich dann daran.

Vorwürfe provozieren Widerstand

Die Psychologen um Loschelder untersuchten das am Beispiel einer neben SUVs weiteren Pest der Gegenwart: den Coffee-to-go-Bechern. Laut der deutschen Umwelthilfe werden alleine in Deutschland jährlich drei Milliarden der plastikbeschichteten Pappbehälter weggeworfen. Angesichts dieser Dimensionen wäre es doch wünschenswert, wenn mehr Kunden aus wiederverwendbaren Tassen trinken würden.

In den Versuchen der Psychologen in einem Uni-Café ließen sich die Kunden am ehesten dazu umstimmen, wenn sie auf das Verhalten der anderen Besucher hingewiesen wurden: "Immer mehr wechseln von einem To-go-Becher zu einer nachhaltigen Alternative" stand auf einem Schild, das die Forscher im Café angebracht hatten. Auf diese Weise stieg der Verkauf von Heißgetränken in Mehrwegbechern im Untersuchungszeitraum um gut 17 Prozent an. Das ist nicht die Welt, aber ein kleiner Beginn, ohne Verbot etwas zu bewirken.

Wer sich unsicher ist, kopiert eben das Verhalten der anderen Menschen und lässt sich davon inspirieren. Im Guten wie im Schlechten: Wenn sich viele Kunden einen SUV kaufen, dann eifern viele andere ihnen nach, weil es normal ist, so ein Auto zu besitzen. Wer Käufer vom Erwerb einer Riesenkiste abhalten will, könnte also darauf hinweisen, dass sich immer mehr Kunden für spritsparende Modelle entscheiden.

Natürlich muss diese Aussage auch zutreffen, sonst würde es sich um unlautere Manipulation handeln. Dennoch bleibt die Aussage bestehen, dass sich Menschen lieber am Verhalten anderer orientieren, statt sich belehren zu lassen. Vorwürfe provozieren dagegen Widerstand - besonders, wenn sie auch noch stimmen.


Nota. - In einigen andern Blättern hätte mich ein solcher Beitrag verblüfft; wenn ich ihn nicht gar für eine Parodie gehalten hätte. Nicht so bei der Süddeutschen. Ob Binnen-I, ob Gendersternchen, ob Geflüchtete, ob Indianerkostüme beim Kinderfasching: Die ist immer dabei, wenn man*frau es so machen kann, wie alle an- dern. Kritischer Geist und Vernunft sind da nicht zielführend, der Gutmensch muss die Masse oft zu ihrem Glück erst übertölpeln.
JE






Dienstag, 26. März 2019

Unser Mittelalter kam auch nicht über Nacht.

aus spektrum.de, 23. 2. 2019

Globalisiertes Mittelalter
Ein Ausstellungs-Begleitband beleuchtet die vielfältigen Verflechtungen zwischen den frühmittelalterlichen Kulturen Europas.

Eine Rezension von Lena Nüchter

Gabriele Uelsberg (Hg.)
Europa in Bewegung
Verlag: WBG Theiss, Darmstadt 2018
ISBN: 9783806238280 | Preis: 29,95 €

Fränkische Broschen aus byzantinischem Gold und ägyptische Pilgerfläschchen in Großbritannien: Im frühen Mittelalter war die bekannte Welt bereits erstaunlich gut vernetzt. Ein internationales Forschungsprojekt hat nun erkundet, wie sich solche Verknüpfungen am Übergang von der Antike zum Mittelalter herausbildeten. Hierfür brachten Wissenschaftler diverse Gegenstände aus historischen Sammlungen in ganz Europa zusammen. Als Ergebnis dieser Arbeiten entstand die Ausstellung »Europa in Bewegung«, die – nach Stationen in Amsterdam und Athen –noch bis zum 25. August 2019 im »LVR-LandesMuseum« in Bonn zu sehen ist. Dieses Buch stellt den Begleitband dazu dar, und es trägt unterhaltsam und gut zugänglich dazu bei, die Vielfalt der frühmittelalterlichen Kulturen und deren gegenseitiger Verflechtungen zu verstehen.

Die mehr als 20 Beiträge beleuchten exemplarisch einige Gesellschaften, die sich nach dem Fall (West-)Roms herausbildeten. Dabei geht die Perspektive erfreulich weit über den unmittelbaren Mittelmeerraum hinaus und umfasst unter anderem auch das Sassanidenreich und die Kiewer Rus in Osteuropa. Zudem behandelt das Buch die vielfältigen Verbindungen zwischen all diesen Kulturen – in Form von Kriegen, Handel, diplomatischen Kontakten und Wissenstransfer. Schließlich widmen sich die Autoren der heutigen Rezeption des frühmittelalterlichen Europa. Positiv ins Auge sticht die Vielfalt ihrer Standpunkte. So weist der – europakritische – Historiker David Abulafia von der University of Cambridge zu Recht darauf hin, wie problematisch die Konstruktion einer »europäischen« Identität in der damaligen Zeit ist.

Theophanus Heirat

Exemplarische Porträts verschiedener »Reisender«, also historisch belegter Personen, die Bindeglieder zwischen Kulturen und Identitäten darstellten, lockern den Band auf. Geschrieben wurden sie zum Teil von einem Blogger, der – im Gegensatz zu den anderen Autoren – nicht als Wissenschaftler oder in einem Museum arbeitet. Positiv hervorzuheben ist, dass hier auch Frauen erscheinen. Die byzantinische Prinzessin Theophanu beispielsweise heiratete ins Ostfränkische Reich ein und regierte dort »wie ein Mann«. Die Pilgerin Egeria wiederum, die wohl aus Galicien im heutigen Spanien über Konstantinopel und Jerusalem nach Ägypten und Syrien reiste, ließ in einer Art Reisebericht andere Frauen an ihren Erlebnissen teilhaben.

Wie dunkel das »finstere Mittelalter« tatsächlich war und wie die verschiedenen europäischen Regionen mit dem Erbe des (West-)Römischen Reichs umgingen, dazu liefert die Lektüre aufschlussreiche Einblicke. Während sich etwa das Oströmische Reich trotz islamischer Expansion erstaunlich lange behauptete, wurden West- und Mitteleuropa von Umbrüchen und Migrationsbewegungen geprägt. Die Etablierung zahlreicher kleinerer Königreiche und Dynastien hatte zur Folge, dass Fragen der Legitimation, der regionalen Identität und Zugehörigkeit hier eine sehr große Bedeutung bekamen. Archäologische Funde machen sichtbar, welche Antworten die Menschen hierauf gaben. Alltags- und Kunstgegenstände zeigen beispielsweise, wie regionale Bildsprachen und Stile entstanden und wie diese exportiert beziehungsweise importiert wurden. Indischer Granat auf einer fränkischen Scheibenfibel oder eine Münze aus dem syrischen Kalifat in einem belgischen Hort illustrieren anschaulich, wie komplex die damaligen Handelsbeziehungen waren.

Besonders interessant zeigt sich der Schlussteil des Buchs, der ein weiteres Kernanliegen des Forschungsprojekts diskutiert: die Entwicklung multimedialer Technologien für die Rezeption des frühen Mittelalters in Museen. Beispielhaft stellen die Autoren etwa eine interaktive Installation vor, die ein Objekt für Besucher unmittelbar und im Detail erfahrbar macht. Wim Hupperetz, Direktor des Allard Pierson Museum und Professor für Niederländische Kulturgeschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam, setzt sich überzeugend mit dem Wandel musealer Ausstellungspraxis auseinander. So führt das »Paradox des digitalen Erbes« zu hohen Erwartungshaltungen hinsichtlich des Einsatzes neuer Medien in Museen, die diese oft nicht erfüllen können. Hupperetz zeigt aber auch, dass die digitalen Medien den Museen große Chancen bieten, sowohl den Kontext ausgestellter Objekte als auch verschiedene Perspektiven zu integrieren, die mit traditionellen Ausstellungsmethoden schwer sichtbar zu machen sind.

Heftcover Spektrum der Wissenschaft Spezial Archäologie – Geschichte – Kultur 2/2018 Die Psychologie vergangener Kulturen  

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Es handelt sich allerdings nicht um einen klassischen Ausstellungskatalog: Der eigentliche Katalog der Exponate fehlt, sodass gelegentlich die Frage offen bleibt, ob das jeweils vorgestellte Objekte auch in der Ausstellung selbst zu finden ist. Bemängeln lässt sich weiterhin, dass das Buch am typischen Zielkonflikt von Museumstexten leidet, Kürze und Verständlichkeit mit angemessener Komplexität und wissenschaftlicher Transparenz zu vereinen. Besonders stark macht sich das bei den Porträts der »Reisenden« bemerkbar, die jeweils nur eine Doppelseite umfassen und daher zwangsläufig ziemlich oberflächlich bleiben. Unterm Strich jedoch dürfte das Werk seine angepeilte Zielgruppe erreichen, unter der man sich eine interessierte, breitere Öffentlichkeit vorzustellen hat.

»Europa in Bewegung« bietet seinen Leser(inne)n eine interessante Reise durchs frühmittelalterliche Europa, die vor allem die damaligen kulturübergreifenden Vernetzungen sichtbar macht. Das erklärte Ziel der Herausgeber, ein »Verständnis von Vielfalt und Verbindungen zwischen Menschen« zu fördern, wird erreicht.


Sonntag, 24. März 2019

Gab es im Islam kein Mittelalter?

aus derStandard.at,18. März 2019                                                                                 Mongolen stürmen Bagdad

Im Islam das eigene Spiegelbild erblicken
Der Islamwissenschafter Thomas Bauer schreibt die "andere Geschichte" des Nahen Ostens

von Gudrun Harrer

Die Beschäftigung mit dem Islam und der islamischen Welt ist längst zur Domäne all jener geworden, die eine "Meinung" dazu haben: Zwischen der meist, aber nicht nur von Muslimen betriebenen Apologetik, die uns vor allem erklärt, was Islam alles nicht ist – auf keinen Fall Radikalismus -, und dem wachsenden Islamhass, der seine Gefühle mit bestenfalls auf Halbbildung fußenden "Beweisen" zu rationalisieren versucht, wird der Raum für die Wissenschaft immer kleiner. Und Islamwissenschafter, die Bücher schreiben, die dazu geeignet wären, in einen breiter angelegten Diskurs einbezogen zu werden, gibt es nur ganz wenige.

Einer davon ist Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster. 2011 hat er schon Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams vorgelegt, ein gewichtiges Werk, das sich mit der Kultur der hohen Ambiguitätstoleranz der arabisch-islamischen Gesellschaften des Nahen Ostens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts befasst – also genau dem Gegenteil dessen, was dem Islam heute unterstellt wird, nämlich, dass er immer intolerant war und immer so sein wird.

Dazu gleich mehr. Vorher soll erwähnt werden, dass es gewissermaßen einen Ableger dieses Buches gibt, ein 2018 bei Reclam erschienenes, sehr empfehlenswertes schmales Bändchen des Titels Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Hier dekliniert Bauer das Thema Authentizitätsobsession – Ambiguitätsintoleranz – auch anhand anderer Fachgebiete durch.

Der heutigen Ambiguitätsintoleranz des Islam – wer könnte sie bestreiten – stellt Bauer dessen äußerst ambigu- itätstolerante Geschichte gegenüber. Ein einfaches und eingängiges Beispiel: Empfanden frühere Islamgelehrte die Varietät der Interpretationsmöglichkeiten des Korans als Bereicherung und versuchten sie womöglich zu erweitern, so wird heute an die einzig gültige geglaubt. Übrigens von Muslimen und ihren Feinden gleicher- maßen, die ja mit Koranversen nur so um sich werfen.

Die Rolle des Westens

Der noch wichtigere Punkt ist, wie es zu diesem Verlust von Ambiguitätstoleranz kam. Bauer in der Einleitung: "Viele westliche Islamkommentatoren glauben nun, in dieser Ambiguitätsintoleranz das wahre Gesicht des Islam zu sehen, auch wenn sie in ihr doch nur das eigene Spiegelbild erblicken."

Denn der Westen sei an deren Entstehung beteiligt gewesen. Am Verlust auch der eigenen Lust an Ambiguität hat die Aufklärung und ihre Suche nach Klarheit ihren Anteil (Aufklärung: das liebste Wort der "Islamkritiker", die nur einen einzigen Weg in die Moderne tolerieren).

Thomas Bauer neueres Buch setzt sich mit dem – auch für Europa – schwierigen Begriff "Mittelalter" ausein- ander, in das ja der Islam oder islamische Gesellschaften angeblich "wieder" fallen. Dass jeder weiß, was damit gemeint ist, ändert nichts daran, dass es historischer Unsinn ist. Wenn es im Nahen Osten kein Mittelalter gegeben hat, weil – nachweislich – die Spätantike andauerte, dann wird die Anwendung dieses Begriffs als zutiefst eurozentrisch entlarvt.

Aber keine Angst, das Buch ist kein Pamphlet, sondern untermauert seine Behauptungen zum Zustand des Nahen Ostens im angeblichen Mittelalter, etwa mit Beispielen von A bis Z, von Analphabetismus bis zu Ziffern.

Gleich zu Ersterem: Während im Westen der Analphabetismus überall außer in der Geistlichkeit die Regel war, belegen Dokumente, dass im Nahen Osten sogar banale Alltagsgeschäfte schriftlich abgewickelt wurden. Oder D, wie Dachziegel, die im Westen, anders als im Nahen Osten, mit der antiken Kultur untergingen. Nach der Lektüre weiß man auch über den Westen mehr. (Gudrun Harrer, ALBUM, 16.3.2019)


cover: c.h. beck

Thomas Bauer "Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient". 22,95 Euro / 175 Seiten. C. H. Beck, München 2018
 

cover: verlag der weltreligionen
Thomas Bauer, "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams". 36,- Euro / 462 Seiten. Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011


Nota. - Das ist wohl wahr: Mittelalter ist ein Ausdruck, der nur aus europäischem Blickwinkel Sinn hat. Da bezeichnet er das Zeitalter nach dem Zusammenbruch der antiken Zivilisation und des mittelmeerischen Markts und vor dem Zeitalter der Vernunft und der Marktwirtschaft.

Hat es dergleichen im Raum der islamischen Kultur gegeben? Fangen wir hinten an: Ein Zeitalter der Vernunft und der Marktwirtschaft hat dort bis heute nicht begonnen. Doch die antike Zivilisation ist - wie übrigens der mittelmeerische Wirtschaftsraum - auch dort untergegangen. Ein gestaltloser Schwebezustand herrscht dort bis heute. 

In Europa ist die antike Bildung dem Ansturm der germanischen Migrationen erlegen - in kargen Rudimenten bewahrt in Klöstern und an Bischofssitzen. Doch von da aus geschah die feudale Landnahme: im Europa jen- seits der Alpen. Dort begann etwas Neues - und war sich der Zäsur bewusst.

Im östlichen und südlichen Mittelmeerraum wurde das antike Erbe sowohl in Ostrom als auch unter den Kalifen gepflegt und erhalten. Doch Anlass, etwas neu zu beginnen, fand man nicht. Die Herausforderung durch die Kreuzzüge, deren Opfer Byzanz und die islamischen Gebiete gleichermaßen wurden, führte zu keiner neuen Sammlung, die abbassidischen Kalifen in Bagdad versanken in Bedeutungslosigkeit, und der Mongolensturm besorgte den Rest.

Der asiatische Mongolensturm ist mit der europäischen Völkerwanderung in keiner Weise zu vergleichen. Die Mongolen mordeten und brandschatzten in viel größerem Stil, aber gründeten selber keine Staaten, außer in Nordindien - und selbst dort hinterließen sie keine eigenen kulturellen Marken. Die Erbschaft der antiken Kultur ist unterm Islam nach und nach ohne große Zäsur einfach versandet. Als unterm Schutz der spanischen, portu- giesischen, holländischen und schließlich der englischen Flotte die europäischen Kaufleute daran gingen, sich den Rest der Welt zu eigen zu machen, trat ihnen auf islamischem Boden kein Widerstand entgegen. Selbst der osmanische Sultan musste dem Großfürsten von Moskau Schrit für Schritt weichen.
JE




Samstag, 23. März 2019

Wie kam der Ackerbau nach Anatolien?

Grab eines Angehörigen einer Jäger-und-Sammler-Kultur, der vor 15 000 Jahren starb  
aus spektrum.de, 19.03.2019

Jungsteinzeit
Wer waren die ersten Bauern Anatoliens?
Die meisten heutigen Europäer haben frühe Bauern aus Anatolien unter ihren Vorfahren. Doch wer waren diese steinzeitlichen Landwirte? Eine genetische Studie gibt nun Antwort.

von Jan Dönges

Ihren Ursprung hatte die Landwirtschaft vor rund 11 000 Jahren im »Fruchtbaren Halbmond« – einem Gebiet, das von Ägypten entlang der Länder der westlichen Mittelmeerküste über das heutige Syrien und den Irak bis an den Persischen Golf reichte. Die neue, so genannte neolithische Lebensweise wurde aber schon bald zum kulturellen Exportgut: Ab etwa 8300 v. Chr. finden sich Hinweise auf Ackerbau und Viehzucht auch nordwestlich in Zentralanatolien.

Diese anatolische Gruppe erwies sich als höchst bedeutsam für die weitere europäische Geschichte. Ihre Angehörigen wanderten aus und brachten diese Wirtschaftsform über den Balkan nach Mitteleuropa. Dort dominierten ihre Nachfahren bald die Population, während die einheimischen Jäger und Sammler in den Hintergrund traten und sich kaum mit den Neuankömmlingen vermischten. Der durchschnittliche Mitteleuropäer von heute ist darum kaum noch mit den Jägern und Sammlern von einst verwandt, umso präsenter ist das genetische Erbe der ehemals in Anatolien beheimateten Bauern.

Ganz anders waren die Vorgänge, als die Landwirtschaft zu ihnen selbst nach Anatolien kam; dies zeigt nun ein Forscherteam um Michal Feldman vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Wie die Wissenschaftler im Fachmagazin »Nature Communications« darlegen, ähneln sich die Bevölkerungsgruppen in Anatolien vor und nach Übernahme der Landwirtschaft sehr stark. Offenbar, so die Schlussfolgerung, schauten sich ortsansässige Jäger und Sammler die neue Form des Lebensunterhalts in den ursprünglichen Gebieten weiter im Süden ab.

Feldman und Kollegen stützen sich dabei auf die Analyse der DNA von acht prähistorischen Skeletten aus Anatolien, darunter ein 15 000 Jahre alter Angehöriger von Jäger-und-Sammler-Gruppen. Sie verglichen die Individuen, die in der Studie neu analysiert wurden, zudem mit bestehenden Daten von 587 prähistorischen Individuen und 254 heutigen Populationen.

Spektrum Kompakt:  Neolithische Revolution – Vom Jäger und Sammler zum Bauern

Wie die Forscher in einer Mitteilung des Max-Planck-Instituts erläutern, stammen zu Beginn des Neolithikums in Anatolien zwischen 8300 bis 7800 v. Chr. nur rund zehn Prozent der Gene der Ortsansässigen aus Nachbarpopulationen im heutigen Iran und im Kaukasus. Ab etwa 7000 bis 6000 v. Chr. komme laut den Forschern eine weitere genetische Komponente aus der Levante-Region im heutigen Israel mit Palästina, dem Libanon und Jordanien hinzu. »Dies deutet trotz veränderter Klima- und Ernährungsstrategien über fünf Jahrtausende auf eine langfristige genetische Stabilität in Zentralanatolien hin«, so Feldman. 

Anatolien sei demnach nicht nur ein Sprungbrett für die frühen Bauern aus dem Fruchtbaren Halbmond nach Europa gewesen, erläutert Koautor Choongwon Jeong, ebenfalls vom Jenaer MPI. »Es war vielmehr ein Ort, an dem lokale Jäger und Sammler Ideen, Pflanzen und Technologien annahmen, die zu einem landwirtschaftlichen Lebensunterhalt führten.« Dieser neue Lebensunterhalt bildete dann die Grundlage für entsprechende Innovationen in Europa.



aus derStandard.at, 22. März 2019

Wie die ersten Bauern Anatoliens zur Landwirtschaft kamen 
Genetische Studien untermauern die These, dass die ersten anatolischen Bauern keine neu eingewanderte Gruppe, sondern lokale Jäger und Sammler waren

Woher und wann kam die Landwirtschaft nach Europa? Ihr Ursprung lag vor rund 11.000 Jahren im Fruchtbaren Halbmond, das gilt inzwischen als sicher. Diese Region umfasst den heutigen Irak, Syrien, Israel, den Libanon, Ägypten und Jordanien sowie die Randgebiete von Südanatolien und dem westlichen Iran. Um etwa 8.300 vor unserer Zeitrechnung breitete sich die Landwirtschaft dann in Zentralanatolien aus.

Die frühen anatolischen Bauern wanderten anschließend durch ganz Europa und verbreiteten ihren neuen Lebensstil – und ihre Gene mit. Heute stammen die Europäer genetisch zum größten Teil von diesen anatolischen Bauern ab. Wie aber kam die Landwirtschaft nach Anatolien? Wurde sie auf ähnliche Weise von einer Gruppe wandernder Bauern eingeführt oder übernahmen die lokalen Jäger und Sammler Anatoliens landwirtschaftliche Praktiken von ihren Nachbarn?

Erlernte Lebensweise

Ein internationales Team unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte ist dieser Frage nun genauer nachgegangen und hat dafür bis zu 15.000 Jahre alte Skelette von Einwohnern Anatoliens untersucht. Wie sie in "Nature Communications" berichten, waren die ersten anatolischen Bauern direkte Nachkommen lokaler Jäger und Sammler. Diese Ergebnisse stützen die These, dass Jäger und Sammler in Anatolien die bäuerliche Lebensweise selbst annahmen, indem sie das Know-how aus anderen Gebieten importierten und weiterentwickelten.

Für die Studie analysierten die Forscher historische DNA von acht prähistorischen Skeletten. Dabei gelang es ihnen erstmals, 15.000 Jahre alte Genomdaten von einem frühen anatolischen Jäger und Sammler zu gewinnen. Die Daten ermöglichten es, die DNA dieser Person mit späteren anatolischen Bauern sowie mit Menschen aus benachbarten Regionen zu vergleichen, um festzustellen, wie sie miteinander verbunden waren. Sie verglichen die neu analysierten Genome auch mit bestehenden Daten von 587 prähistorischen Individuen und 254 Individuen aus heutigen Populationen.

Stabiles Genom

Dabei zeigte sich, dass rund 90 Prozent der frühen anatolischen Bauern von Vorfahren abstammen, die mit den frühen anatolischen Jägern und Sammlern verwandt war. "Dies deutet trotz veränderter Klima- und Ernährungsstrategien auf eine über fünf Jahrtausende währende genetische Stabilität in Zentralanatolien hin", sagte Michal Feldman vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Erstautor der Studie.

Die Ergebnisse würden frühere archäologische Hinweise stützen, wonach Anatolien nicht nur ein Sprungbrett für die frühen Bauern aus dem fruchtbaren Halbmond nach Europa war. "Es war vielmehr ein Ort, an dem lokale Jäger und Sammler Ideen, Pflanzen und Technologien übernahmen, die zu einer landwirtschaftlichen Lebensweise führten", sagte Koautor Choongwon Jeong. (red.)
 

Abstract
Nature Communications: "Late Pleistocene human genome suggests a local origin for the first farmers of central Anatolia"


Nota. - Der aktuelle Stand ist also der: In Anatolien wurde der Ackerbau selbstständig erfunden; doch wurden die frühen anatolische Bauern später durch Zuzug aus der Levante verstärkt. 

Aber nach Mitteleuropa wurde der Ackerbau eingeführt: über die Balkanroute von Bauern aus Anatolien.
JE