aus nzz.ch,
Ohne Mitläufer gäbe es keinen Totalitarismus – aber auch keine Demokratie.
Ein Lob auf einen verrufenen Zeitgenossen
Mitläufer sind schlecht organisiert und haben keine eigene Meinung. Das macht sie anfällig. Und trotzdem braucht sie die freiheitlich verfasste Gesellschaft.
Zu wenig Demokraten
Wenn die grosse Mehrheit aus Mitläufern besteht und wenn der Totalitarismus von diesen Mitläufern getragen wird, dann verhält es sich mit der Demokratie nicht anders. Ohne Mitläufer gäbe es keine Demokratie. Es gibt schlicht zu wenige überzeugte Demokraten, um irgendwo eine stabile Demokratie zu bilden. Die meisten Menschen, die in einer Demokratie leben, sind Mitläufer der Demokratie.
Wir werden in eine Demokratie genauso hineingeboren, wie wir in eine Diktatur hineingeboren werden. Und die grosse Mehrheit wehrt sich genauso wenig gegen die Diktatur, wie sie sich für die Demokratie begeistert.
Die grosse Mehrheit zweifelt sogar latent am Funktionieren der Demokratie. Wenn eine Abstimmung anders verläuft als erhofft, wünschen sich viele Abstimmungsverlierer die Korrektur des demokratischen Entscheids durch das Parlament, die Verwaltung, Gerichte oder supranationale Organisationen. Die Demokratie lässt sich zwar nur mit Hilfe von Mitläufern erhalten, aber mit den gleichen Mitläufern kann man auch jede Demokratie wieder abschaffen. Eine Revolution ist im Grunde jederzeit und überall möglich, eine sanfte oder auch eine blutige, eine chaotische oder eine schleichende, aber sie ist nicht möglich ohne die schweigende Masse der Mitläufer.
Worin unterscheidet sich denn aber die Demokratie vom Totalitarismus, wenn der grösste Teil der Gesellschaft so oder so aus Mitläufern besteht?
Die Antwort ist einfach. In totalitären Systemen sind die wenigen wirklich Guten im Gefängnis und die wenigen wirklich Schlechten an der Macht. Und in der Demokratie sind die wenigen wirklich Schlechten im Gefängnis, aber die wenigen wirklich Guten sind nicht an der Macht.
Denn Machtstreben ist nichts Gutes. Demokratie ist der prekäre Zustand, in dem die grosse Masse der Mitläufer führerlos ist. Dieser Zustand ist nur so lange haltbar, wie man keine Machtpositionen schafft, in die sich die paar wenigen Schlechten drängen können. Denn Machtstreben ist ein schlechter Charakterzug.
Der kleine Unterschied
Aber
wo sind sie denn, die Guten, in einer Demokratie, wenn nicht an der
Macht? Natürlich an ihrem Platz in der Gesellschaft: an der Werkbank, in
der Küche, im Büro, in der Arztpraxis, im Stall, vor der Schulklasse
oder hinter der Theke.
Die
Demokratie hat gegenüber dem Totalitarismus den Vorteil, dass die paar
wenigen wirklich guten Menschen, über die jede Gesellschaft verfügt,
frei sind. Eine freie Gesellschaft ist somit nur um die paar wenigen
guten Menschen besser, die in einem totalitären System im Gefängnis
wären. Das ist ein kleiner Unterschied und erklärt, warum Menschen, die
in totalitären Systemen leben, im Durchschnitt nicht schlechter sind als
freie Menschen und Menschen, die in Freiheit leben, auch nicht besser
als unterdrückte.
Wenn
nun also der Unterschied beider Gesellschaften so klein ist, was ist
denn an der Demokratie so viel besser? Das Phänomenale an der Demokratie
ist, dass es sich erübrigt, darüber zu streiten, wer die paar wenigen
wirklich Guten sind. In einer Demokratie darf es keine politische
Definition für gut geben. Man einigt sich nur darauf, was wirklich
schlecht ist: Mord, Folter, Vergewaltigung, und man beschränkt sich
dabei auf das Schlimmste. Alles andere ist eine Frage des Standpunktes.
Die Freiheit der anderen
Was
gut ist, ist eine Streitfrage und abhängig vom Standpunkt. Diese
Prämisse ist für das Funktionieren einer Demokratie grundlegend. Sie
besteht auch darin, dass diese Frage vom Gesetzgeber unbeantwortet
bleibt.
Es spielt
keine Rolle, wer mit seiner Betrachtung von gut und schlecht recht hat.
Denn wenn alle frei sind, dann sind auf jeden Fall auch die Guten frei,
unabhängig davon, wer diese sind. Diese beruhigende Erkenntnis müsste
uns alle gut schlafen lassen. Tut es aber nicht. Denn viele glauben,
unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Resultaten, das Gute
wie das Schlechte eindeutig identifiziert zu haben. Sie alle neigen
dazu, ihrem jeweiligen Guten zu folgen und ihr jeweilig Schlechtes zu
bekämpfen. Diese zum Teil entgegengesetzten Sichtweisen führen aber alle
in die gleiche Richtung. Sie sind ein Schritt hin zum Totalitarismus.
Ich
will damit nicht sagen, dass man nicht zwischen gut und schlecht
unterscheiden soll. Was ich feststelle, ist etwas anderes: Es gibt so
viele unterschiedliche Ansichten darüber, dass wir in einer Gemeinschaft
nur so lange in Frieden und Freiheit zusammenleben können, wie wir
diese Frage nicht zur Staatsangelegenheit erklären. Gutem zu folgen und
das Schlechte sein zu lassen, ist eine private Angelegenheit.
Freiheit
ist eine chaotische Ordnung, so paradox dies klingen mag. In der
Freiheit sind zwar auch die schlechten Menschen frei, sofern sie nicht
gerade wegen Mordes oder Vergewaltigung eingesperrt sind. Aber nur in
der Freiheit haben gute Menschen gleich lange Spiesse wie schlechte
Menschen.
Wer die
Freiheit erhalten will, hütet sich davor, eine moralische Position zur
kollektiven Angelegenheit zu erklären. Der Staat hat keine Moral zu
haben. Als überzeugter Vegetarier darf ich nicht der Versuchung
erliegen, nach staatlicher Förderung des Vegetarismus zu rufen. Als
Hersteller von Impfstoffen darf ich nicht der Versuchung erliegen,
staatliche Impfprogramme zu verlangen. Als Klimaschützer darf ich nicht
der Versuchung erliegen, staatliche Klimaschutzprogramme zu fordern. Als
Künstler darf ich genauso wenig nach staatlicher Unterstützung
schreien, wie ich als Bauer die staatliche Subventionierung der
Landwirtschaft propagieren darf.
Freiheit
ist die Freiheit aller. Wer die Interessen von politisch
Andersdenkenden als weniger wichtig betrachtet als seine eigenen, ist
totalitär. Nein, halt, dieses Urteil wäre ebenfalls totalitär, denn
vermutlich handelt es sich bei den meisten Menschen, die Andersdenkende
bevormunden möchten, bloss um Mitläufer.
Nota. - Das ist ja gar keine Satire. Aber weil er Satiriker ist, kann er sich Ungenauigkeiten durchgehen lassen.
Was die repräsentative Demokratie als vergleichsweise beste Staatsverfassung auszeichnet, ist nicht, dass dort die Mehrheit herrscht. Das würde sie im Gegenteil zweifelhaft machen.
Dazu muss man nicht Gute und Böse unterscheiden. Es reicht die Einsicht, dass das innovative Potenzial einer jeden Idee irgendwann erschöpft ist. In der Wirklichkeit stellen sich aber, mal häufiger, mal seltener, neue Aufgaben, für die es neue Lösungen braucht; wäre dem anders, bräuchte man auf Dauer gar keine politische Ver- fassung, eine funktionierenden Polizei reichte aus.
So aber müssen neue Ideen die Gelegenheit bekommen, sich zu den herrschenden zu entwickeln. Denn das müssen sie, wenn sie Lösungen bewerkstelligen sollen. Und neue Ideen kommen immer erst unter wenigen auf, die große Mehrheit weiß vielleicht noch nichtmal was von den neuen Aufgaben. Es bedarf also einer Verfas- sung, in der die Minderheit die Chance hat, Mehrheit zu werden.
Das setzt voraus, da hat der Verfasser Recht, dass sie die Freiheit hat, ihre neuen Ideen öffentlich zu machen und zu propagieren (doch dass sie sich für die besseren Menschen hielten, wäre eher eine Hypothek). Um nämlich die Mitläufer auf ihre Seite zu ziehen, die ja nicht dumm sind (sondern im Gegenteil als vernünftig vorausge- setzt werden), sondern nur langsamer, bedächtiger, vorsichtiger - und vielleicht auch etwas feiger. Machtstreben ist nichts Schlechtes, wenn es um der richtigen Ideen willen geschieht; welche das sind, kann immer nur der Meinungsstreit entscheiden.
Darum ist die Demokratie andern Staatsformen vorzuziehen, weil sie die Möglichkeit schafft, wann immer die herrschenden Ideen und sicher auch die, die sie vetreten, erschöpft sind, es mit neuen Ideen zu versuchen, indem man ihre Verkünder ans Ruder lässt, die meistens weniger erschöpft sind.
Freiheit und Recht sind die notwendige Bedingung; das Gewinnen der Mehrheit ist ein technisch-praktisches Pensum.
JE
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