Freitag, 15. März 2019

Demokratie beruht darauf, dass die meisten Leute Mitläufer sind.

noz
aus nzz.ch,

Ohne Mitläufer gäbe es keinen Totalitarismus – aber auch keine Demokratie. 
Ein Lob auf einen verrufenen Zeitgenossen
Mitläufer sind schlecht organisiert und haben keine eigene Meinung. Das macht sie anfällig. Und trotzdem braucht sie die freiheitlich verfasste Gesellschaft.

von Andreas Thiel 

Gebt den Mitläufern nichts zum Mitlaufen, sonst laufen sie mit. Und ohne Mitläufer gäbe es keinen Totalitarismus, in dem bekanntlich alles Private politisch ist und alles Politische kollektiv. Denn in keiner Gesellschaft gibt es genügend totalitär gesinnte Menschen, um einen totalitären Staat zu bilden. Aber offensichtlich gibt es auch nie genügend besonnene Menschen, um den Totalitarismus zuverlässig und dauerhaft zu verhindern. Genügend Mitläufer hingegen, um den Totalitarismus zu dulden, scheinen immer und überall latent vorhanden zu sein. 

Viele Phänomene tauchen in einer gaussschen Normalverteilung auf. Dieses abstrakte Verhältnis gilt auch für die Verteilung von guten und schlechten Menschen. Jede Gesellschaft verfügt über eine kleine Minderheit von wirklich guten und eine kleine Minderheit von wirklich schlechten Menschen. Die grosse Mehrheit ist weder ausserordentlich gut noch ausgesprochen schlecht. Diese grosse Mehrheit bildet in jeder Gesellschaft die breite Masse der Mitläufer.

Sie ist allerdings nicht als solche organisiert. Mitläufer passen sich an, machen mehr oder weniger begeistert mit, lassen sich beeinflussen, verhalten sich passiv, lachen sich ins Fäustchen oder machen die Faust im Sack. Aber sie sprechen sich nicht untereinander ab. Denn sie gehören sämtlichen gesellschaftlichen Schichten, politischen Gruppierungen und Berufsgattungen an. Je nach Standpunkt sind es Pragmatiker, Opportunisten oder einfach nur treue oder loyale Menschen. Zusammen bilden sie die stabile Basis jeder Gemeinschaft. Sie übernehmen eine passive, kollektive Verantwortung und sorgen dafür, dass sich die Dinge nicht so schnell ändern.

Zu wenig Demokraten

Wenn die grosse Mehrheit aus Mitläufern besteht und wenn der Totalitarismus von diesen Mitläufern getragen wird, dann verhält es sich mit der Demokratie nicht anders. Ohne Mitläufer gäbe es keine Demokratie. Es gibt schlicht zu wenige überzeugte Demokraten, um irgendwo eine stabile Demokratie zu bilden. Die meisten Menschen, die in einer Demokratie leben, sind Mitläufer der Demokratie.

Wir werden in eine Demokratie genauso hineingeboren, wie wir in eine Diktatur hineingeboren werden. Und die grosse Mehrheit wehrt sich genauso wenig gegen die Diktatur, wie sie sich für die Demokratie begeistert.

Die grosse Mehrheit zweifelt sogar latent am Funktionieren der Demokratie. Wenn eine Abstimmung anders verläuft als erhofft, wünschen sich viele Abstimmungsverlierer die Korrektur des demokratischen Entscheids durch das Parlament, die Verwaltung, Gerichte oder supranationale Organisationen. Die Demokratie lässt sich zwar nur mit Hilfe von Mitläufern erhalten, aber mit den gleichen Mitläufern kann man auch jede Demokratie wieder abschaffen. Eine Revolution ist im Grunde jederzeit und überall möglich, eine sanfte oder auch eine blutige, eine chaotische oder eine schleichende, aber sie ist nicht möglich ohne die schweigende Masse der Mitläufer.

Worin unterscheidet sich denn aber die Demokratie vom Totalitarismus, wenn der grösste Teil der Gesellschaft so oder so aus Mitläufern besteht?

Die Antwort ist einfach. In totalitären Systemen sind die wenigen wirklich Guten im Gefängnis und die wenigen wirklich Schlechten an der Macht. Und in der Demokratie sind die wenigen wirklich Schlechten im Gefängnis, aber die wenigen wirklich Guten sind nicht an der Macht.

Denn Machtstreben ist nichts Gutes. Demokratie ist der prekäre Zustand, in dem die grosse Masse der Mitläufer führerlos ist. Dieser Zustand ist nur so lange haltbar, wie man keine Machtpositionen schafft, in die sich die paar wenigen Schlechten drängen können. Denn Machtstreben ist ein schlechter Charakterzug.

Der kleine Unterschied

Aber wo sind sie denn, die Guten, in einer Demokratie, wenn nicht an der Macht? Natürlich an ihrem Platz in der Gesellschaft: an der Werkbank, in der Küche, im Büro, in der Arztpraxis, im Stall, vor der Schulklasse oder hinter der Theke.

Die Demokratie hat gegenüber dem Totalitarismus den Vorteil, dass die paar wenigen wirklich guten Menschen, über die jede Gesellschaft verfügt, frei sind. Eine freie Gesellschaft ist somit nur um die paar wenigen guten Menschen besser, die in einem totalitären System im Gefängnis wären. Das ist ein kleiner Unterschied und erklärt, warum Menschen, die in totalitären Systemen leben, im Durchschnitt nicht schlechter sind als freie Menschen und Menschen, die in Freiheit leben, auch nicht besser als unterdrückte.

Wenn nun also der Unterschied beider Gesellschaften so klein ist, was ist denn an der Demokratie so viel besser? Das Phänomenale an der Demokratie ist, dass es sich erübrigt, darüber zu streiten, wer die paar wenigen wirklich Guten sind. In einer Demokratie darf es keine politische Definition für gut geben. Man einigt sich nur darauf, was wirklich schlecht ist: Mord, Folter, Vergewaltigung, und man beschränkt sich dabei auf das Schlimmste. Alles andere ist eine Frage des Standpunktes. 

Die Freiheit der anderen 

Was gut ist, ist eine Streitfrage und abhängig vom Standpunkt. Diese Prämisse ist für das Funktionieren einer Demokratie grundlegend. Sie besteht auch darin, dass diese Frage vom Gesetzgeber unbeantwortet bleibt.

Es spielt keine Rolle, wer mit seiner Betrachtung von gut und schlecht recht hat. Denn wenn alle frei sind, dann sind auf jeden Fall auch die Guten frei, unabhängig davon, wer diese sind. Diese beruhigende Erkenntnis müsste uns alle gut schlafen lassen. Tut es aber nicht. Denn viele glauben, unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Resultaten, das Gute wie das Schlechte eindeutig identifiziert zu haben. Sie alle neigen dazu, ihrem jeweiligen Guten zu folgen und ihr jeweilig Schlechtes zu bekämpfen. Diese zum Teil entgegengesetzten Sichtweisen führen aber alle in die gleiche Richtung. Sie sind ein Schritt hin zum Totalitarismus.

Ich will damit nicht sagen, dass man nicht zwischen gut und schlecht unterscheiden soll. Was ich feststelle, ist etwas anderes: Es gibt so viele unterschiedliche Ansichten darüber, dass wir in einer Gemeinschaft nur so lange in Frieden und Freiheit zusammenleben können, wie wir diese Frage nicht zur Staatsangelegenheit erklären. Gutem zu folgen und das Schlechte sein zu lassen, ist eine private Angelegenheit.

Freiheit ist eine chaotische Ordnung, so paradox dies klingen mag. In der Freiheit sind zwar auch die schlechten Menschen frei, sofern sie nicht gerade wegen Mordes oder Vergewaltigung eingesperrt sind. Aber nur in der Freiheit haben gute Menschen gleich lange Spiesse wie schlechte Menschen.

Wer die Freiheit erhalten will, hütet sich davor, eine moralische Position zur kollektiven Angelegenheit zu erklären. Der Staat hat keine Moral zu haben. Als überzeugter Vegetarier darf ich nicht der Versuchung erliegen, nach staatlicher Förderung des Vegetarismus zu rufen. Als Hersteller von Impfstoffen darf ich nicht der Versuchung erliegen, staatliche Impfprogramme zu verlangen. Als Klimaschützer darf ich nicht der Versuchung erliegen, staatliche Klimaschutzprogramme zu fordern. Als Künstler darf ich genauso wenig nach staatlicher Unterstützung schreien, wie ich als Bauer die staatliche Subventionierung der Landwirtschaft propagieren darf.

Freiheit ist die Freiheit aller. Wer die Interessen von politisch Andersdenkenden als weniger wichtig betrachtet als seine eigenen, ist totalitär. Nein, halt, dieses Urteil wäre ebenfalls totalitär, denn vermutlich handelt es sich bei den meisten Menschen, die Andersdenkende bevormunden möchten, bloss um Mitläufer.



Nota. - Das ist ja gar keine Satire. Aber weil er Satiriker ist, kann er sich Ungenauigkeiten durchgehen lassen.

Was die repräsentative Demokratie als vergleichsweise beste Staatsverfassung auszeichnet, ist nicht, dass dort die Mehrheit herrscht. Das würde sie im Gegenteil zweifelhaft machen. 

Dazu muss man nicht Gute und Böse unterscheiden. Es reicht die Einsicht, dass das innovative Potenzial einer jeden Idee irgendwann erschöpft ist. In der Wirklichkeit stellen sich aber, mal häufiger, mal seltener, neue Aufgaben, für die es neue Lösungen braucht; wäre dem anders, bräuchte man auf Dauer gar keine politische Ver- fassung, eine funktionierenden Polizei reichte aus.


So aber müssen neue Ideen die Gelegenheit bekommen, sich zu den herrschenden zu entwickeln. Denn das müssen sie, wenn sie Lösungen bewerkstelligen sollen. Und neue Ideen kommen immer erst unter wenigen auf, die große Mehrheit weiß vielleicht noch nichtmal was von den neuen Aufgaben. Es bedarf also einer Verfas- sung, in der die Minderheit die Chance hat, Mehrheit zu werden. 

Das setzt voraus, da hat der Verfasser Recht, dass sie die Freiheit hat, ihre neuen Ideen öffentlich zu machen und zu propagieren (doch dass sie sich für die besseren Menschen hielten, wäre eher eine Hypothek). Um nämlich die Mitläufer auf ihre Seite zu ziehen, die ja nicht dumm sind (sondern im Gegenteil als vernünftig vorausge- setzt werden), sondern nur langsamer, bedächtiger, vorsichtiger - und vielleicht auch etwas feiger. Machtstreben ist nichts Schlechtes, wenn es um der richtigen Ideen willen geschieht; welche das sind, kann immer nur der Meinungsstreit entscheiden.

Darum ist die Demokratie andern Staatsformen vorzuziehen, weil sie die Möglichkeit schafft, wann immer die herrschenden Ideen und sicher auch die, die sie vetreten, erschöpft sind, es mit neuen Ideen zu versuchen, indem man ihre Verkünder ans Ruder lässt, die meistens weniger erschöpft sind. 

Freiheit und Recht sind die notwendige Bedingung; das Gewinnen der Mehrheit ist ein technisch-praktisches Pensum.
JE    

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen