Freitag, 22. März 2019

Moralisierende Götter, komplexe Gesellschaften.

aus scinexx                             Die ägyptische Gottheit Maat wog nach dem Tode die Herzen und gab strenge moralische Regeln vor.

Starke Götter als Kitt der Hochkulturen
Moralisierende Religionen entstanden erst nach dem Aufkommen komplexer Gesellschaften 

Warum und wann haben sich Religionen mit starken Göttern und strengen Moralregeln entwickelt? Darauf haben Forscher nun eine überraschende Antwort gefunden. Denn entgegen gängiger Annahme waren solche Religionen nicht die Triebkraft für die Entwicklung komplexer Gesellschaften, sondern eher ihr Kitt: Sie entstanden erst nach den komplexen Großreichen, sorgten dann aber dafür, dass diese Sozialgebilde auf Dauer stabil blieben, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.

Ob Christentum, Islam, Judentum oder Buddhismus: In vielen großen Weltreligionen gibt es strenge moralische Gebote und starke Gottheiten, die ihren Gläubigen bestimmte Regeln auch im sozialen Umgang untereinander auferlegen. Das Auffallende daran: Religionen mit starken moralisierenden Gottheiten haben sich vor allem in Hochkulturen entwickelt, aber nur selten bei Naturvölkern. Schon länger vermuten Wissenschaftler deshalb einen engen Zusammenhang zwischen der Umwelt, der gesellschaftlichen Komplexität einer Kultur und der Art ihrer Religion.

Triebkraft komplexer Kulturen?

Nach gängiger Hypothese könnte der Glaube an strenge, kontrollierende Gottheiten als Sozialkitt in den wachsenden Bevölkerungen der Hochkulturen gedient haben: Er minderte das Misstrauen zwischen sich eigentlich Fremden und schreckte „Sozialschmarotzer“ ab. Erst das könnte die Bildung großer, komplexer Gesellschaften ermöglicht haben. Ob aber die Religion wirklich die Triebkraft für Hochkulturen war, ist strittig – auch weil Studien bisher widersprüchliche Ergebnisse lieferten. 

Deshalb haben nun Harvey Whitehouse von der University of Oxford und sein Team eine der bisher umfangreichsten Studien zu dieser Thematik durchgeführt. Sie werteten dafür standardisierte historische Daten für 414 Kulturen in 30 verschiedenen Regionen der Erde aus – von der Jungsteinzeit bis zum Beginn der industriellen Revolution. Aus 51 kulturellen und sozialen Parametern erstellten sie einen Index der jeweiligen gesellschaftlichen Komplexität und verglichen dann, ob und wann diese Kulturen eine moralisierende Religion entwickelten.

Erst Großreich, dann starke Götter

Das überraschende Ergebnis: Bei den zwölf Kulturen, bei denen moralisierende Religionen auftraten, gab es eine klare, aber unerwartete Abfolge: „Wir stellen fest, dass moralisierende Götter dem Entstehen komplexer Gesellschaften nicht vorangehen, sondern erst danach auftreten“, berichten Whitehouse und sein Team. „Das widerspricht den gängigen Hypothesen.“ Das Hauptwachstum der Kulturen fand im Schnitt mehr als hundert Jahre vor dem Erscheinen der moralisierenden Götter statt.

In der Regel entwickelten sich die Religionen mit starken Gottheiten immer erst dann, wenn eine Kultur die Schwelle zur Megagesellschaft mit mehr als einer Million Menschen schon überschritten hatte. „Das erste Auftreten moralisierender Götter in unserer Probe war in Ägypten, wo das Konzept einer übernatürlichen Vollstreckung von Ordnung (Maat) um 2800 vor Christus dokumentiert ist“, berichten Whitehouse und seine Kollegen. Dem folgten weitere lokale Moral-Religionen in Mesopotamien, Anatolien und China.

Bindung in multiethnischen Reichen

„Machtvolle Götter und übernatürliche Strafen sind demnach keine Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Komplexität“, sagen Whitehouse und seine Kollegen. Stattdessen seien solche Religionen eher eine Art Kitt, der komplexe, multiethnische Gesellschaften auf Dauer zusammenhielt. „Sie könnten nötig gewesen sein, um die oft sehr unterschiedlichen Bevölkerungsteile solcher Großreiche unter einer höheren Macht zusammenzubinden“, so die Forscher.

Demnach sind komplexe Gesellschaften und starke Religionen tatsächlich verknüpft – nur etwas anders als bisher gedacht. Statt Triebkraft und Voraussetzung für die Bildung großer Reiche waren sie eher der Garant für deren Stabilität. Einen gemeinsamen Faktor allerdings gab es bei vielen Kulturen tatsächlich schon vor dem Sprung zur Hochkultur: die Existenz vorgegebener religiöser Rituale. Nach Ansicht der Forscher könnten sie eine wichtige Vorstufe für die moralisierenden Religionen gewesen sein. (Nature, 2019; doi: 10.1038/s41586-019-1043-4)

Quelle: Nature

Führte ein "starker Gott" zu komplexen Gesellschaften? Hochkulturen entstanden etwa zur selben Zeit wie "moralisierende Götter". Doch was kam zuerst? Eine Studie zeigt, dass die Religionen etwas später dran waren


Die heutigen Weltreligionen – egal ob Christentum, Islam, Judentum oder Buddhismus – haben eine Gemeinsamkeit: Götter oder übernatürliche Gesetze (wie das Karma), die den Gläubigen moralische Gebote vorschreiben. Werden diese übertreten, setzt es Strafen.

Solche moralisierenden Gottheiten sind erst relativ spät in der Menschheitsgeschichte aufgetaucht: Die Götter bei den älteren Jäger- und Sammlerkulturen etwa geben sich kaum mit den Menschen und deren Verhalten ab, sondern kreisen sehr viel mehr um das Geschehen in der Natur.

Die "Big God"-Hypothese

Bleibt die spannende religionssoziologische Frage, wann und warum die "starken Götter" mit den strengen Moralregeln entstanden sind. Seit einigen Jahren wird eine Antwort auf diese Frage heftig diskutiert. Diese sogenannte "Big God"-Hypothese geht davon aus, dass es solche strengen, moralisierenden Götter brauchte, damit sich die ersten Hochkulturen entwickeln konnten.


Während nämlich die Gruppen der Jäger und Sammler so klein sind, dass unmoralisches Verhalten anderen Gruppenmitgliedern auffallen würde, gibt es diese persönliche Kontrolle in größeren und anonymeren Gesellschaften – also etwa den ersten Städten – nicht mehr. Als Ersatz für die Sanktionierung durch die Gruppe brauchte es starke Götter, die laut der "Big God"-Hypothese komplexere Gesellschaften überhaupt erst ermöglichen würden.

Datenbank der Weisheit

Um diese Behauptung empirisch zu überprüfen, hat ein internationales und interdisziplinäres Forscherteam um Harvey Whitehouse (Universität Oxford) Informationen einer neuen Datenbank namens Seshat (benannt nach der altägyptischen Gottheit der Weisheit) ausgewertet. Konkret analysierten die Forscher die historischen Daten für 414 Kulturen in 30 verschiedenen Regionen der Erde aus den vergangenen 10.000 Jahren.

Anhand von 51 Indikatoren bestimmten die Forscher zuerst die erreichte Komplexität der jeweiligen Gesellschaft. Danach versuchten sie zu eruieren, ob die Angehörigen dieser Gesellschaften an einen moralisierenden Gott glaubten. Die im Fachblatt Nature veröffentlichten Ergebnisse brachten einige Überraschungen – und lieferten jedenfalls keine eindeutige Bestätigung der Hypothese.

Starker Gott als sozialer Kitt

In den zwölf Kulturen mit "starken Göttern" – die erste war übrigens Ägypten mit Maat vor 4800 Jahren – bildeten sich diese Religionen erst dann heraus, wenn eine Kultur die Schwelle zur komplexen Gesellschaft mit mehr als einer Million Menschen schon überschritten hatte. Sprich: Moralisierende Götter gingen dem Entstehen komplexer Gesellschaften nicht voran, sondern traten erst rund hundert Jahre später auf.

Die Forscher vermuten deshalb, dass "starke Götter" quasi als sozialer Kitt dienten, um komplexe, oft multiethnische Gesellschaften auf Dauer zusammenzuhalten. Einen gemeinsamen Faktor gab es bei vielen Gesellschaften freilich schon vor dem Sprung zur Hochkultur: gemeinsame religiöse Rituale. Laut Whitehouse und Kollegen könnten diese eine wichtige Vorstufe für die moralisierenden Religionen gewesen sein. 

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