aus FAZ.NET, 7. 3. 2019
Vorteile der Polarisierung?
Schlauer im Streit
Voneinander stark abweichende Meinungen können nützlich sein, sofern sie einer konstruktiven Diskussion nicht im Wege stehen.
von Sibylle Anderl
Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft hat viele negative Folgen. Forscher haben nun aber zumindest einen positiven Effekt polarisierter Gruppen ausgemacht.
Unserer Welt gehen zunehmend die Grautöne verloren. Die Dinge sind schwarz oder weiß, genau richtig oder völlig verkehrt, grandios oder katastrophal. Und diese Spaltung im Raum möglicher Urteile besitzt ihr Ebenbild in der Spaltung von Menschengruppen. Wir sind zunehmend polarisiert, und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Darüber, wer oder was dafür die Schuld trägt, gibt es verschiedene Theorien. Einigkeit herrscht aber darüber, dass dieses Phänomen uns Kopfzerbrechen bereiten sollte: Polarisierung hat die Tendenz, sich selbst in abgeschlossenen Echoblasen zu verstärken, und öffnet Missinformation und Manipulation Tor und Tür.
Aber könnte Polarisierung bei all dem Negativen nicht vielleicht doch auch gute Seiten haben? Letztendlich erzeugt sie ja auch nur eine radikale Form von Diversität, und die – da sind sich Psychologen einig – ist für die Performance zusammengesetzter Arbeitsgruppen außerordentlich förderlich. Dieser These sind nun amerikanische Wissenschaftler in „Nature Human Behaviour“ nachgegangen. Als Testfeld nutzten sie die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Ihre Frage dabei: Wie wirkt sich die Polarisierung der Editoren von Wikipedia-Einträgen auf die Qualität der Texte aus?
Dafür bestimmten sie zunächst die politische Ausrichtung der Autoren auf der Grundlage von deren bisheriger Beteiligung an konservativen oder liberalen Artikeln. Dabei zeigten sich tatsächlich zwei Populationen von Akteuren entgegengesetzter politischer Positionierung. Diese Information konnten die Wissenschaftler daraufhin nutzen, um den Grad der Polarisierung im Autorenpool einzelner Artikel zu messen. Zusammen mit den von Wikipedia selbst verliehenen Einschätzungen der Artikelqualität ergab sich daraufhin: Je höher die Polarisierung der Autoren, desto besser der Artikel.
Dies spiegelte sich auch auf den die Texte begleitenden, moderierten Diskussionsseiten wider: Es wurde deutlich mehr diskutiert als in politisch homogenen Gruppen – Wikipedias interne Richtlinien zur Gewährleistung ihrer Qualitätsstandards vermochten dabei, inhaltliche Auseinandersetzungen konstruktiv zu halten. Die Forscher schließen daraus: Ausgeprägte Meinungen motivieren und stärken die für Debatten notwendige Geduld. Und das ist gut. Wir müssten also nur kultiviert zu streiten lernen. Vielleicht könnten wir dann in eine Phase der „Weisheit der polarisierten Gruppen“ eintreten – dem Titel der Studie folgend. Wie dies außerhalb von Wikipedia klappen könnte, darüber hüllen sich die Autoren allerdings in Schweigen.
Nota. - Dass politische Meinnungsverschiedenheit seit Jahr und Tag nur als entrüstetes Ankeifen ausgetragen? - nein: in Szene gesetzt werden, liegt ja nicht daran, dass aus der Öffentlichkeit die Vernunft geschwunden wäre. Sondern daran, dass aus der Öffentlichkeit das Streiten verbannt wurde. Hauptverantwortlich daran war aber nicht eine vormals wortlose Rechte, sondern die Generation, die in 80ern das nachhaltige Plärren mit ermüdetem Konsens zum herrschenden Modus des gesellschaftlichen Verkehrs gemacht haben. Nicht das rationelle Argu- ment, sondern die richtige Gesinnung gab den Ausschlag.
Mit den nüchternen Erwäggründen des Verstandes war dagegen damals kein Ankommen. Aber inzwischen mit Rüpeln und Pöbeln als der andern Seite der Medaille.
Da sind wir nun. An einer Art Exaequo. Das ist nicht schlecht, jetzt kann vielleicht die Vernunft wieder ihr Glück versuchen. Und die ficht mit scharfer Klinge.
JE
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