Alles fing mit Osman an
Die siebenhundert Jahre bis zur modernen Türkei
Das Osmanische Reich prägte die Geschichte des Mittelmeerraums, seit sein erster Sultan die Macht ergriff.
Dieses
Buch ist nicht für den Touristen geschrieben, der seine Türkei-Ferien
nur am Badestrand verbringen möchte. Umso mehr Gewinn werden all jene
aus ihm ziehen, die als historisch interessierte Besucher des Landes
gründlicher über die Zeit unterrichtet sein wollen, bevor Kemal Atatürk
aus dem Restterritorium des Osmanischen Reichs ab den zwanziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts die moderne Türkei zu formen begann – einen
Staat, in dem einst auch deutsche Emigranten wie der Berliner
Bürgermeister Ernst Reuter vor den Nationalsozialisten Zuflucht fanden.
Der
amerikanische Historiker Douglas A. Howard hat die Geschichte des alten
Imperiums aufgearbeitet und erzählt vor allem von dessen politischer
Entwicklung. Er gliedert den Stoff in sieben Kapitel, die den
Jahrhunderten des islamischen Kalenders folgen. Für die
Kapitelüberschriften hätte man sich allerdings präzisere Formulierungen
gewünscht als so allgemeine Floskeln wie «Eine Sicht auf die Welt»,
«Unklarheiten und Gewissheiten» oder «Globales und Lokales». Diese
kryptischen Überschriften verbergen, welchen Reichtum an vorzüglich
aufbereiteter Information die einzelnen Abschnitte darbieten.
Das Erscheinen Osmans
Für
die Periode der «Osmanischen Genese (1300–1397)» im «achten islamischen
Jahrhundert» konzentriert sich Howard auf das Erscheinen Osmans, des
ersten Sultans der osmanischen Dynastie, das Unglück der Pest, die 1348
wie in europäischen Städten auch in Mosul und Bagdad zuschlug, und auf
die Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo) im Jahre 1389, an deren für die
Osmanen vorteilhaften Ausgang manch wirkmächtige Legende auf serbischer
Seite anknüpfte.
Aus
den Ereignissen des 9. islamischen Jahrhunderts (1397–1494) hebt Howard
die Invasion Timurs und den Aufstand der Derwische hervor. Für das
10. islamische Jahrhundert (1481–1591) steht Sultan Süleyman der
Prächtige im Zentrum. Er machte durch seine Eroberungen aus dem
Osmanischen Reich eine Grossmacht und geriet als erster Sultan in den
lange andauernden schweren Konflikt mit den Habsburgern. Im Inneren
stärkte er den «Ersten Haushalt» durch die Verbindung mit seiner
Lieblingskonkubine Hürrem, die er in die Freiheit entliess, um sie
sogleich als Freie zu seiner Hauptfrau zu nehmen. (Dem Leser hätte es
die Orientierung erleichtert, sie auch unter dem in Europa geläufigen
Namen als Roxelane einzuführen.)
Das
11. islamische Jahrhundert (1591–1688) war gekennzeichnet von
verlustreichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit Ungarn,
Rebellionen im Inneren, verlotterten Finanzen und brutalen dynastischen
Morden – Verhältnissen insgesamt, die erst Murad IV. (1623–1640) wieder
ordnete. Das Jahrhundert endete mit den Niederlagen Mehmed IV., die dem
osmanische Heer 1683 vor Wien der polnische König Johann III. Sobieski
und 1687 Eugen von Savoyen bei Mohács beibrachten. Mit weitgespanntem
Blick beschreibt Howard für das folgende Jahrhundert die teils handels-,
teils territorialpolitischen Interessen der osmanischen Herrscher vom
Indischen Ozean bis zum Schwarzmeergebiet.
Das Ende der Osmanen
Nicht
zur Sprache kommen die späten kriegerischen Auseinandersetzungen der
europäischen Mächte mit dem osmanischen Reich, etwa die Schlacht von
Peterwardein, die Eugen so sicher nicht hätte gewinnen können, hätte
nicht der venezianische Feldherr Johann Matthias von der Schulenburg in
aussichtslosem Kampf lange um die Festung Korfu gehalten. Ausführlich
dagegen wird der Leser über die Konflikte des Osmanische Reichs mit
Italien ab 1911, vor allem aber über den Völkermord an den Armeniern im
Jahre 1915 unterrichtet.
Mit
den erzählenden Passagen wechseln sich Darstellungen zu einzelnen
grundlegenden Themen ab, etwa zur osmanischen Verwaltung, zum
Topkapi-Palast, zu den Bildungseinrichtungen Moschee, Medrese und Tekken
(den «Suffi»-Ordenshäusern) oder zum Buch- und Bibliothekswesen. An
vielen Stellen sind in den Text auch längere Quellentexte eingeschoben.
Ein
alter Reisebericht beispielsweise beschreibt die berühmte «stari most»
in Mostar, die alte Brücke von 1566, die – immer ein Symbol des
Zusammenlebens verschiedener Ethnien – 1993 zerstört und 2004 wieder
aufgebaut worden war.
Lange Herrschaft der Türken
Ein
Quellenauszug etwa gilt der türkischen Sprachfamilie: Ihre erste
sprachwissenschaftliche Analyse bot 1082 das in arabischer (!) Sprache
verfasste «Kompendium der Turksprachen» von Mahmud al-Kashgari. Er
berichtet, wie er seine Kenntnis der Turksprachen in der Empirie des
Reisens erworben hatte, überliefert aber auch die emphatische Mahnung
eines seiner Gewährsleute: «Lernt die Sprache der Türken, denn ihre
Herrschaft wird lang sein.»
Zahlreiche
Abbildungen und Karten erhöhen die Anschaulichkeit des flüssig
geschriebenen Buches zur Vorgeschichte der modernen Türkei. Es
vermittelt auch manchen Denkanstoss zum Verständnis gegenwärtiger
Probleme des Landes.
Douglas
A. Howard: Das Osmanische Reich: 1300–1924. Aus dem Engl. von Jörg
Fündling, Übersetzung der literarischen Kastentexte von Michael Reinhard
Hess. Theiss / Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018.
480 S., Fr. 38.80.
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