aus tagesspiegel.de
aus welt.de, 31. 12. 202
Röttgen: Ja und Nein. Es gibt eine positive und eine negative Seite. Die negative Schlussfolgerung aus der Pandemie ist, dass es uns offenbar selbst angesichts einer Gefahr, die unmittelbar ihre Opfer verlangt, sehr schwerfällt, uns auf eine neue Lebensrealität einzustellen. Mit Blick auf die Klimakrise, die sich viel, viel langsamer vollzieht, mag das bedeuten, dass noch weniger Bereitschaft zum Umdenken und zur Verhaltensänderung vorhanden ist und sein wird.
Das positive Moment ist, dass die Politik durch ihr entschlossenes, rationales und ehrliches Verhalten in der ersten Welle der Pandemie bei vielen Menschen einen enormen Vertrauensgewinn erzielt hat. Statt die Situation schönzureden, wurde wissenschaftlicher Sachverstand in dieser Phase der Unkenntnis hinzugezogen. Es galten die Kriterien rationaler Geeignetheit – und nicht das, was politisch opportun war.
Die Bürger haben einen aktiven Staat erlebt, der in der Lage ist, sie zu schützen. Davon profitiert das Krisenmanagement bis heute. Dieses Verhaltensmuster müssen wir auch auf die Klimapolitik anwenden.
Röttgen: Ja, die Politik profitiert noch immer von ihrem Auftreten zu Beginn der Krise. Das hat ein tiefgründiges Vertrauen zurückgebracht, das nachhallt. Dass das so bleibt, ist aber nicht garantiert.
WELT: Ob das Vertrauen bleibt, hängt vom Gelingen der Massenimpfung ab. Schon spricht mancher davon, dass Geimpfte keine Sonderrechte erhalten sollen. Wieso Sonderrechte? Das meint doch nichts weiter als die Rückkehr zum normalen Leben?
Röttgen: Es geht nicht um Sonderrechte. Es geht um die Rechtfertigung von Einschränkungen. Wenn man das Sonderrechte nennt, dann zeigt das, dass im Denken etwas verrutscht ist; dass man die Situation der Einschränkung für den Normalfall hält und die Situation, dass der Bürger frei ist, für den Sonderstatus. Ich finde, die Frage, wie Geimpfte leben können, wird fälschlicherweise moralisch debattiert. ...
Natürlich muss man Schlüsse daraus ziehen, wenn jemand andere nicht mehr gefährden kann. Wenn die praktischen Fragen gelöst sind und es für die Einschränkungen keinen sachlichen Grund mehr gibt, dann müssen sie aufgehoben werden.
WELT: Aktuell haben wir noch viel zu wenig Impfstoffe. Das war absehbar. Fragen Sie sich nicht, warum nicht schon früher über die Ausweitung von Produktionskapazitäten gesprochen wurde?
Röttgen: Es ist eine der Lehren des Jahres, dass wir [Wer - die Länderchefs?] trotz der Erfahrungen der ersten Welle immer noch und immer wieder zu spät waren und sind. Das müssen wir selbstkritisch bewerten, an dieser Stelle müssen wir uns verändern, auch mit Blick auf andere Krisen. Sonst verspielen wir das neu gewonnene Vertrauen der Menschen gleich wieder.
WELT: Die erste geimpfte Person war 101 Jahre alt. Was war Ihr erster Gedanke?
Röttgen: Ich war gerührt und stolz, dass im Verhalten des Staates kein bisschen Nützlichkeitsdenken, sondern die Wertschätzung eines sehr langen Lebens eines Menschen zum Ausdruck gekommen ist. Das war ein hohes Symbol für die Zivilität dieser Gesellschaft.
WELT: Ist es wirklich ethisch, junge Menschen ganz hinten zu priorisieren? Braucht es nicht eine Art Generationenausgleich?
Röttgen: Ich persönlich finde es richtig, das Kriterium der Gefährdung von Leben und damit das individuelle Schutzbedürfnis voranzustellen. Generell geht es hier um Wertabwägungen, die nicht technisch-exekutiv zu beantworten sind. Deshalb hätte ich mir eine gesetzgeberische Entscheidung über die Grundlinien im Bundestag ohne Fraktionszwang gewünscht. Das wäre ein demokratischer Gewinn gewesen.
WELT: Sie sind als Kandidat für den Vorsitz angetreten, die Jugend stärker an die CDU heranzuführen. Wie?
Röttgen: Wir
müssen politischer werden. Junge Menschen haben ein gutes Gespür für
die moralische Verantwortungsdimension von Entscheidungen, da müssen wir
sie abholen. Das zeigt sich doch, wenn junge Menschen über das Klima
sprechen. Die großen Fragen unserer Zeit müssen ins Zentrum der Partei.
... Aber die JU ist eine politische Vereinigung. Sie ist nicht die junge Generation. Wenn ich von jungen Menschen spreche, dann meine ich tatsächlich eine ganze Generation junger Menschen, welche die CDU wieder ins Auge fassen muss.
Ich spreche von jungen Wählerinnen und
Wählern und solchen, die es sehr bald sein werden. Um mit ihnen in den
Dialog zu treten, ist eines völlig klar: Wir müssen Zukunftskompetenz
beweisen, und da gibt es ein definierendes Thema, und das heißt
Klimawandel. ...
WELT: Würden auch Sie Jens Spahn als CDU-Vize vorschlagen? Andernfalls wäre es denkbar, dass der oberste Corona-Manager sogar seinen Posten im Parteipräsidium verliert.
Röttgen: Wenn ich Vorsitzender werde, wird Jens Spahn weiter eine zentrale Figur in der Partei und in der Regierung sein. Er wird ganz sicher dem nächsten Präsidium der Partei angehören.
WELT: Inzwischen deutet auch Laschet an, dass er sich CSU-Chef Markus Söder als Kanzlerkandidat der Union vorstellen könnte. Und selbst Merz sagt, keiner habe ein Zugriffsrecht. Kopieren die Kollegen Ihre Strategie, sich auch mit dem CDU-Vorsitz zu begnügen und damit auf dem Parteitag jene zu ködern, die Söder wollen?
Röttgen: Ich stelle fest, dass ich auch ein Dreivierteljahr, nachdem ich mich das erste Mal in dieser Frage geäußert habe, noch immer keinen Bedarf habe, meine Meinung zu ändern. Es liegt im Selbstverständnis des Vorsitzenden der CDU, dass er sich das Amt des Bundeskanzlers zutraut.
Gleichzeitig habe ich immer gesagt, dass es gemeinsam mit der CSU um die Bestaufstellung für die Bundestagswahl im kommenden Jahr geht. Ich empfinde es als entspannend, dass ich solche Aussagen kurz vor Toresschluss nicht revidieren oder gar erst definieren muss.
WELT: Kann ein CDU-Vorsitzender im Amt bleiben, der darauf besteht, Kanzlerkandidat zu werden, aber sich gegen die CSU nicht behaupten kann?
Ein CDU-Vorsitzender, der sich ohne Wenn und Aber für den richtigen Kanzlerkandidaten hält und dem dann wenig später von seiner Partei mitgeteilt wird, als Kanzlerkandidat nicht gewünscht zu sein, hätte seine Autorität eingebüßt.
WELT: Die Kanzlerin hat die Bewältigung der Corona-Krise auch zu einer Art Systemkonflikt erklärt. Das geschah mit Blick auf China. Der Antagonist, die USA, versagt bei der Bewältigung der Krise. Hat China gewonnen?
Röttgen: Ich würde mir nicht zu eigen machen, dass die Pandemie-Bewältigung ein Beispiel für den Systemkonflikt ist. Genau das versucht China uns seit Beginn der Pandemie weiszumachen: seine vermeintliche systemische Überlegenheit vor allem gegenüber dem Westen. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, wo die Pandemie nach allem, was wir wissen, ihren Ursprung genommen hat.
Vielleicht hätte es die Pandemie gar nicht gegeben, wenn sie nicht in China, sondern in einem demokratischen und offenen Staat ausgebrochen wäre. Statt transparent mit den bekannten Informationen umzugehen, wurde über Wochen die Existenz des Virus vertuscht. Es wurde Einfluss auf die Weltgesundheitsorganisation WHO genommen und später mit Masken Politik gemacht.
Wir sollten auf den Versuch, aus der Pandemie einen geopolitischen Konflikt zu stilisieren, nicht eingehen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Menschen bestmöglich vor Krankheit und Tod zu bewahren. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
WELT: Ist das große Zeitalter Chinas nicht schon da?
Röttgen: Ich glaube nicht, dass wir gerade den Beginn eines chinesischen Zeitalters erleben. Wir sehen eine enorme wirtschaftliche Entwicklung in China, einen enormen Erfolg, indem Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt wurden. Wir sehen gewaltigen technologischen Fortschritt.
Und gleichzeitig hat das China unter Xi ein enormes Maß von Unterdrückung mittels moderner Überwachungstechnologien erreicht. Die Macht wird monopolisiert, wie das seit den Zeiten von Mao nicht mehr der Fall war. Der außenpolitische Machtanspruch des Landes hält sich weder an moralische noch an völkerrechtliche Prinzipien. Damit steht China aber nicht als der dominierende Staat, wohl aber als der größte Herausforderer der internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert fest.
aus welt.de, 28. 12. 2020
Es ist noch gar nicht lange her, da wurde der mittägliche Gang zur Kantine oder auch ins Restaurant mit dem knappen Gruß „Mahlzeit“ begleitet. Geradezu ruppig war das Wort, und dass die Mahlzeit „gesegnet“ sein sollte, wurde dabei stillschweigend vorausgesetzt. Es eröffnete eine kurze Pause in der Arbeitszeit. Dass „Mahlzeit“ inzwischen vielerorts aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist, erklärt sich nicht zuletzt durch Veränderungen in der Arbeitswelt. Die lassen leicht vergessen, dass über Jahrtausende hinweg das von Arbeit umrahmte gemeinsame Mahl die Grundlage der menschlichen Zivilisation legte.
Wie das geschah, verdeutlichen neueste Forschungen an Funden aus einer der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen der vergangenen Jahrzehnte. Seit der deutsche Ausgräber Klaus Schmidt auf dem Hügel Göbekli Tepe in der Südosttürkei ab 1995 auf riesige Steinbauten stieß, deren Alter auf bis zu 11.500 Jahre datiert werden konnte, eröffnet sich für die Archäologie ein Fenster in die Zeit, in der Homo sapiens daranging, sesshaft zu werden. Das bedeutete zugleich, dass die ersten Monumentalbauten bereits vor der neolithischen Revolution entstanden, zu einer Zeit also, in der sich die Menschen noch vom Jagen und Sammeln ernährten.
Angesichts der spektakulären mehr als fünf Meter hohen Monolithe und Reliefs blieb eine Fundgattung lange unbeachtet, der nur eine geringe Aussagekraft beigemessen wurde, obwohl sie in großer Zahl in Göbekli Tepe ans Licht kam. Es handelt sich um Reibsteine aus Basalt. Rund 7000 Exemplare dieser schlichten Artefakte wurden inzwischen geborgen, ein Mehrfaches der Stückzahlen, die in anderen Grabungsstätten aus der Epoche bekannt sind.
Diese unscheinbaren Geräte haben es Laura Dietrich angetan. Um herauszufinden, was es mit ihnen auf sich hat, startete die Prähistorikerin der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts 2016 ein experimentelles Projekt, dessen erste Ergebnisse sie jetzt zusammen mit Teamkollegen in der Zeitschrift „Antike Welt“ vorstellt: Die Steine dienten offenbar dazu, den Stoff zu gewinnen, der Göbekli Tepe errichten half.
Um herauszufinden, was mit den Reibsteinen zerkleinert wurde, bezog Laura Dietrich mit Studenten und Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung im Berliner Museumsdorf Dahlem eine Werkstatt. Darin baute man die als Läufer bezeichneten Reibsteine und ihre weniger belasteten Unterlieger bis ins kleinste Detail nach. „Reibsteine sind universell einsetzbar“, erklärt Dietrich im Gespräch. „Man kann mit ihnen Fleisch, Obst oder Nüsse zerkleinern, aber auch Tierfelle bearbeiten. Jedes Material hinterlässt spezifische Spuren auf dem Stein.“
Diese Kratzer und andere Deformationen analysierten die Forscher mithilfe von Mikroskopen – und sie verglichen sie mit Fotografien und 3-D-Modellen der Originale. Es zeigte sich, dass die meisten Reibsteine zum Zerkleinern von Getreide benutzt wurden. Doch auf unterschiedliche Weise. Kreisförmige Bewegungen hatten zerquetschte Körner zum Ergebnis, die zu Brei verarbeitet wurden, pendelartige Bewegungen lieferten dagegen feines Mehl, wie es zur Herstellung von Brot verwendet wird. „Fast 80 Prozent der Steine zeigten die markanten Strukturen, die beim groben Zerkleinern von Einkorn oder Gerste entstehen“, sagt Dietrich. „Nur etwa ein Fünftel zeigte Spuren, wie sie beim Erzeugen von Feinmehl auftreten.“
Das Erstaunliche an dem Befund ist seine zeitliche Datierung. Im 10. und 9. Jahrtausend v. Chr., als die verschiedenen Steinbauten auf dem Göbekli Tepe entstanden, hatten die Menschen die Wirtschaftsstufe des Jägers und Sammlers noch gar nicht verlassen. Zwar versuchten die neolithischen Jäger bereits, sich ihren Lebensunterhalt von zumindest saisonal festen Unterkünften aus zu verschaffen. Aber die systematische Erschließung der natürlichen Ressourcen durch Ackerbau oder Viehzucht gelang ihnen noch nicht.
Immerhin lebten sie in der Region zwischen Taurusgebirge und den Oberläufen von Euphrat und Tigris, in denen die Wildformen der Getreidesorten heimisch waren, mit denen im Zuge der neolithischen Revolution ab etwa 9000 v. Chr. der Übergang zur sesshaften Lebensweise gelang. Bis es dazu kam, mussten allerdings Jahrhunderte ins Land gehen, bis die Menschen durch Beobachtung sowie ständiges Ausprobieren erkannten, welches Potenzial in diesen kleinen Körnern verborgen war. Die Herstellung von nahrhaftem Brei war offensichtlich ein Ergebnis.
Nachdem Laura Dietrich und ihr Team das Reibgut entschlüsselt hatten, widmeten sie sich einer anderen Hinterlassenschaft aus Göbekli Tepe, die bislang ebenfalls wenig Beachtung gefunden hatte. Es handelt sich um mehrere große Gefäße aus Kalkstein mit bis zu 13 Zentimeter dicken Wänden, von denen sechs noch an Ort und Stelle erhalten sind. Zahlreiche Scherben belegen aber, dass Dutzende davon in Gebrauch waren.
Bislang wurden sie als Vorratsbehältnisse gedeutet. Doch mit einem Fassungsvermögen bis zu 165 Litern sind sie im Grunde zu groß, um den Vorrat für eine Familie aufzunehmen, erklärt Dietrich den Ansatz ihres zweiten Experiments. Dafür tat sie grobkörniges Getreide in den Nachbau eines 30 Liter fassenden Kalksteintrogs und gab Wasser hinzu.
Dann kam eine dritte Fundgruppe aus Göbekli Tepe zum Einsatz: Steinkugeln aus Basalt. Noch heute werden solche von indigenen Völkern in offenem Feuer erhitzt, um anschließend die gespeicherte Wärme an Flüssigkeiten abzugeben. Im Experiment zeigte sich, dass sie auch in den Nachbauten der steinzeitlichen Gefäße aus Göbekli Tepe ihre Wirkung taten.
Doch damit wurde nicht nur Brei erwärmt. Funde an anderen Orten der Levante, zuletzt in der Höhle Rakefet bei Haifa, erhärten die These, dass bereits im Epipaläolithikum, also im 12. Jahrtausend v. Chr., Menschen darangingen, aus dem Samen wild wachsender Getreidearten ein alkoholhaltiges Getränk zu brauen. Reste bestätigen, dass den Betreibern dieser urtümlichen Brauerei die Technik der Malzherstellung bekannt war.
Um dies auch für Göbekli Tepe nachzuweisen, vermischten die Wissenschaftler gemälztes Getreide mit Wasser, kochten das Gebräu einige Stunden und gaben dann natürliche Hefe (wie sie etwa auf der Haut vorkommt) hinzu. Dann wurde der Sud gefiltert und der Trog mit einer Tierhaut und Lehm oder Wachs verschlossen.
Das Zerkleinern, Kochen, Maischen und Läutern von vier Kilogramm Getreide in 20 Liter Wasser dauerte acht Stunden, beschreibt das Team in seiner Studie den Vorgang: „Nach fünf Tagen war die verbliebene Flüssigkeit zu einem bierähnlichen, fruchtig-säuerlich schmeckenden Getränk mit etwa zwei Prozent Alkoholgehalt vergoren.“ Dabei zeigte sich übrigens auch, dass der Kochvorgang mit den Steinen erstaunlich einfach zu kontrollieren war.
Im verschlossenen Braugefäß geriet die Flüssigkeit in Gärung
Was sagen diese Experimente für Göbekli Tepe aus? Laura Dietrich ist vorsichtig: „Bei der Herstellung von Bier sind wir auf Analogieschlüsse angewiesen.“ Zwar wurden in der Höhle bei Haifa Spuren von Getreidemalz gefunden, aber ob diese Technik auch im Südosten Kleinasiens bekannt war, ist zunächst eine Annahme. Allerdings eine ziemlich plausible. Denn sie fügt sich gut in das bisherige Deutungsmuster der monumentalen Anlage ein.
Schon ihr Ausgräber Klaus Schmidt erkannte in den sieben kreisförmige Steinanlagen und den bis zu 20 Tonnen schweren Monolithen mit den Darstellungen furchterregender Tiere einen Kultort, an dem sich Leute aus weit entfernten Gegenden versammelten und unbekannte Rituale abhielten. Rechteckige Räume, in denen auch Reibsteine und fest eingebaute Steingefäße gefunden wurden, zeugen von einer gut ausgebauten Infrastruktur, die die Bewirtung einer Menschenmenge ermöglichte, die wesentlich größer war als die der zwischen 25 und 50 Personen zählenden Sammlergruppen. Auch für die Siedlungen, die inzwischen in der Nachbarschaft entdeckt wurden, dürfte die weithin sichtbare Anlage auf dem Hügel überdimensioniert gewesen sein.
Es könnten daher rauschende „Arbeitsfeste“ gewesen sein, zu denen die Menschen auf dem Göbekli Tepe zusammenkamen, sagt Dietrich und verweist auf Totenrituale indigener Gruppen in Indonesien. Indem sie ihren unbekannten Göttern monumentale Standbilder errichteten, legten sie zugleich die Grundlage für soziale Kontakte über größere Entfernungen hinweg.
Als Lohn und Ansporn für diese Arbeit, die ja erhebliche Ressourcen verschlang, gab es „Mahlzeiten“, die wahrscheinlich zuweilen in große Gelage oder womöglich gar Orgien ausarteten. Da diese Feste zugleich auch der Repräsentation und dem Austausch von Erfahrungen dienten, wirkten sie zugleich am Fortschritt der Zivilisation mit. „Die Annäherung der Sammler an die Naturausbeutung durch Ackerbau und Domestikation wilder Tiere wurde beschleunigt“, folgert Laura Dietrich.
Dieses Modell könnte auch die monumentalen Bauwerke erklären, mit denen die frühen Hochkulturen ins Licht der Geschichte traten. Die Pyramiden des Alten Reiches Ägyptens, die großen Tempel Mesopotamiens oder auch die Großbauten in Südamerika waren nicht einfach Beispiele grandioser Ressourcenverschwendung, sondern sie waren Projekte, mit denen Gesellschaften durch gemeinschaftliche Arbeit zusammenfanden – und eingebetteten Mahlzeiten.
Brachte also der Alkohol den Menschen dazu, sesshaft zu werden? So weit will der Prähistoriker und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, in seiner „Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ nicht unbedingt gehen: Aber „es ist sicher nicht übertrieben, zu sagen, dass es für den Menschen stets eine große Rolle spielte, sich zu bestimmten Anlässen zu berauschen“.
Nota. - Als Altphilologe hat Friedrich Nietzsche sich keinen Namen machen können, doch er war ein scharfer Denker, und so zählt er heute zu den tonangebenden Philosophen unserer Zeit. Ein disziplinierter Denker war er aber nicht. Er hat das Dionysische mehr unter den Kulturphilosophen als unter den Historikern zu einem akkreditierten Begriff gemacht. (Das Apollinische hatten schon Winckelmann und der ganze Rattenschwanz von Gelehrten im abendländischen Vorurteil festgetreten). Es mag ja biographischen Zufällen geschuldet sein - aber da hat ihn seine Phantasie wohl auch historisch ins Schwarze treffen lassen.
JE
Von einer Partei kann man bei dem gärigen Haufen nocht immer nicht oder schon wieder nicht mehr sprechen. Doch von einer "Bewegung", wie Alexander Gauland nostalgisch schwärmt, ja wohl schon gar nicht:
Schon wieder berichtet die Frankfurter Allgemeine heute über einen kausalen Zusammenhang zwischen der anhaltenden Entvölkerung der östlichen Bundesländer und den Wahlerfolgen der AfD eben dort. Mit der AfD sympathisieren dort gerade nicht die, die sich bewegen, sondern die lahmfüßigen Sitzenbleiber.
Volk ohne Raum - daraus wird nichts mehr, Herr Gauland. Ihre Stärke ist ein Raum ohne Volk.
In den uç (Spitze) genannten Grenzregionen standen im Grunde alle Männer sowie zum Teil auch Frauen unter Waffen, waren sie doch unter anderem gegen steuerliche Vergünstigungen verpflichtet, etwaige Eindringlinge abzuwehren und selbst Raubzüge in benachbarten Territorien zu unternehmen. Auch Bedreddin entstammte offenbar einer Familie von Ghazis. Diesen Ehrentitel durften in der osmanischen Frühzeit jene Männer führen, die sich an den Rändern des Reichs als Kämpfer für die Sache Gottes – und die Erweiterung des Herrschaftsgebiets – hervorgetan hatten.
Sie kämpften für ein Reich, dessen Grundstein eine Generation zuvor Osman I. (1258–1326) gelegt hatte, zunächst noch als ein Regionalfürst unter vielen. Nur 25 Jahre später war sein anfangs recht bescheidenes Herrschaftsgebiet in Anatolien auf das Dreifache gewachsen. Zur Zeit der Geburt Bedreddins regierte bereits Orhan I. (1281–1359). Er hatte das Reich von seinem Vater geerbt – und offenbar auch dessen Eroberungsglück: Die Byzantiner hatte er bereits weitgehend aus Kleinasien verdrängt sowie konkurrierende türkische Fürstentümer, so genannte Beyliks, entweder schon einkassiert oder wenigstens in die Schranken gewiesen, Land auf dem europäischen Kontinent erobert und den osmanischen Machtbereich noch einmal verdreifacht.
Die von unablässigen Grenzkonflikten geprägte Welt des jungen Bedreddin war dabei multiethnischer und multireligiöser, als man es vielleicht erwarten würde: »Auf byzantinischer Seite kämpften vor allem die jeweiligen Provinzialherren und neben diesen dorthin dirigierte Armenier, Slawen, Franken, zunehmend auch Türken«, schreibt der Berliner Sprachwissenschaftler Mesut Keskin in einer umfangreichen Studie zum Leben und Wirken Bedreddins. Auf osmanischer Seite wiederum zogen auch christliche oder bereits islamisierte Armenier und Griechen in den Kampf. Heiraten über die konfessionellen Grenzen hinweg waren keine Seltenheit, wobei in der Regel die Frau die Religion ihres Mannes annahm. Die Herrschenden machten es vor: Byzantinische Prinzen nahmen sich türkische Frauen und osmanische heirateten Griechinnen. Das Volk tat es ihnen gleich, wie ja auch Bedreddins Mutter griechischer Abstammung war.
In Bursa, das erst kurz zuvor zur Hauptstadt des Osmanischen Reichs geworden war, vertiefte er seine Studien. Von dort zog er nach Konya, der einstigen Hauptstadt der Seldschuken, die auch nach dem Untergang der Dynastie als anatolisches Zentrum der Kultur und Gelehrsamkeit galt.
Von hier aus ging er bald über Jerusalem nach Kairo an die 988 gegründete al-Azhar, die älteste Hochschule der islamischen Welt. Dort setzte er seine umfangreichen Studien der Theologie und der Rechte sowie der Astronomie, Mathematik, Logik und Philosophie fort und vervollkommnete sie.
Offenbar fiel seine umfassende Bildung bald
auch den richtigen Leuten in Kairo auf, ernannte ihn doch der dort
residierende Mamlukensultan Barquq (1339–1399) zum Erzieher seines
Sohnes.
In der Krise wandelt er sich zum Derwisch
In
der Stadt am Nil kam es schließlich zur entscheidenden Wandlung des
Mittdreißigers. Eine nicht näher erläuterte Lebenskrise soll den Sohn
des Richters von Simavna, so der Beiname Bedreddins, zu einem
ungewöhnlichen Schritt veranlasst haben: Er schloss sich dem Sufiorden
Scheich Hüseyin Al-Achlātīs (um 1320–1397) an, der zu jener Sorte von
Derwischen gehörte, die es mit der islamischen Regelstrenge nicht so
genau nahmen. Er brach mit seinem bisherigen Leben und tat dies auch
äußerlich durch das Arme-Leute-Gewand der Derwische kund; die Bücher,
über Jahre hinweg die Quelle seiner Gelehrsamkeit, landeten im Fluss.
Sich
selbst, so berichtet es der Enkel und Biograf Halil, versenkte er in
Trance: »Die Verzückungszustände wurden von Tag zu Tag schlimmer. Selbst
dem Ordensgründer Hüseyin Achlati wurde es angst und bang, da er für
die Gesundheit Bedreddins zu fürchten begann.« Die Auflösung des Selbst,
das Aufgehen in Gott war und ist eine Sehnsucht der Sufis. Bedreddin
war in dieser Hinsicht wohl auf einem guten Weg.
Halil war es offenbar ein Anliegen, für die Nachwelt festzuhalten, dass sich sein Großvater erst unter dem Einfluss Al-Achlātīs vom orthodoxen Gelehrten zum freidenkerischen Mystiker wandelte. Wobei die Unterscheidung zwischen Gelehrten und Mystikern nicht nur im Orient und nicht nur zu jener Zeit bei Weitem nicht so einfach war, wie man meinen möchte. Wer sich mit der Essenz der Religion beschäftigte, galt als Weiser. Das aber traf auf den muslimischen Richter, der die Scharia auslegte, ebenso zu wie auf den Esoteriker, der die geheime Bedeutung einzelner Buchstaben und Wörter des Korans zu deuten suchte, um so den tieferen Sinn von Gottes Wort zu ergründen.
Anders als den meisten Christen die
Bibel gilt der Koran den gläubigen Muslimen als tatsächlich wörtliche
Offenbarung Gottes. Sufis, die unter anderem über den tieferen,
verborgenen Sinn der Suren grübelten, bewegten sich daher häufig
außerhalb der Normen und Gesetze des sunnitischen Islams, dem die
Osmanen anhingen. Trotzdem begegneten ihre Zeitgenossen diesen
»vagabundierenden und die Gesellschaftsregeln missachtenden Derwischen«,
so Keskin, mit Wertschätzung bis hin zur Bewunderung – und tun dies in
vielen Regionen der muslimischen Welt bis heute noch. Im Osmanischen
Reich genossen die Derwische, die seit Jahrzehnten vorwiegend aus dem
persischen Raum einwanderten, hohes Ansehen – vor allem beim einfachen
Volk, und besonders in den konfessionell und ethnisch durchmischten
Grenzländern, aber auch an den Küsten Kleinasiens, wo Muslime, Christen
und Juden unter türkischer Herrschaft nebeneinander lebten.
Der Dichter Rumi trifft auf Shams-e Tabrisi | Aus dem
Aufeinandertreffen ging ein Hauptwerk des Dichters hervor, der »Diwan-e
Schams-e Tabrizi«. Darin schreibt er: »Ich bin weder Christ noch Jude,
auch Parse und Muslim nicht.« Rumi wirkte auch in Konya, wo später
Bedreddin studieren sollte.
Einen Eindruck davon, wie weit viele Sufis die engen Grenzen
der orthodoxen Religion hinter sich ließen, vermittelt schon ein
einziger Vers aus dem »Diwan« des großen persischen Sufimystikers
Maulana Dschelaleddin Rumi (1207–1273): »Ich bin weder Christ noch Jude,
auch Parse und Muslim nicht.« Bis heute verehren in der islamischen
Welt auch streng religiöse Menschen Rumi, der in seinen Schriften eine
gewisse Affinität zu Jesus zeigte und für Toleranz eintrat, selbst
gegenüber »Götzenanbetern«, die er einlud, sich ihm anzuschließen. Das
offene, heute würde man sagen: liberale Religionsverständnis der
Derwische, die die Küstengebiete Kleinasiens durchwanderten,
erleichterte es denn auch den dort lebenden und plötzlich unter
muslimische Herrschaft geratenen Juden und Christen, sich in den neuen
Verhältnissen zurechtzufinden.
In
Kairo erwies sich Al-Achlātīs Sorge um Bedreddins Gesundheitszustand
augenscheinlich als unbegründet. Im Gegenteil. Der Mann aus Thrakien
gewann im Kreis der Derwische an Einfluss und übernahm nach dem Tod des
Gründers 1397 sogar dessen Nachfolge. Als Scheich des Kairoer Ordens
wirkte er jedoch nur ein halbes Jahr lang, »denn dann gerieten die
Derwische in Streit mit ihm, da jeder sich der Nachfolge Achlatis
würdiger hielt«, so sein Enkel und Biograf. Der Scheich räumte das Feld
und machte sich auf den langen Heimweg nach Norden.
Wie
weit er zu diesem Zeitpunkt seine brisante Philosophie entwickelt hatte
und wie offensiv er sie verkündete, ist nicht überliefert. Halil hielt
lediglich fest, sein Großvater habe beschlossen, die Lehre von der
Vereinigung mit Gott zu verbreiten. Unterwegs machte Bedreddin in allen
bedeutenden Städten wie Jerusalem, Damaskus, Aleppo oder Konya halt,
hielt Predigten und gewann Anhänger.
Wenn jeder einzelne sagte ›Ich bin Gott‹, entspräche das der Wahrheit. (Scheich Bedreddin)
In Westanatolien wurden zwei Männer zu seinen Murīds (Gefolgsleuten), die ihm bis zum bitteren Ende verbunden bleiben sollten: Börklüce Mustafa und Torlak Kemal, aus deren Leben wenig mehr bekannt ist, als dass sie die militärischen Anführer des Aufstands waren, den der Scheich in wenigen Jahren entfesseln sollte. Börklüce Mustafa stammte möglicherweise von der Ägäisinsel Samos, könnte daher ein konvertierter Grieche gewesen sein. Die osmanischen Chroniken weisen darauf hin, dass er sich sehr freundlich gegenüber Christen äußerte. So soll er gepredigt haben, dass kein Muslim sein könne, wer den Anhängern Jesu nicht mit Respekt begegne. Von Torlak Kemal heißt es in den Quellen, er sei als Jude geboren worden, habe aber ebenfalls den Islam angenommen.
Zur
Zeit der Heimkehr Bedreddins nach Edirne regierte Sultan Bayezid I.
(1360–1403) das Reich, der Urenkel des Dynastiegründers Osman. Durch
eine Reihe von so rasanten wie erfolgreichen Feldzügen hatte er sich
bereits den Beinamen Yıldırım (Blitz) verdient. Unmittelbar nach seinem
Amtsantritt 1389 hatte er einige wiedererstarkte türkische Fürstentümer
unterworfen. In der Schlacht bei Nikopolis in Bulgarien schlug er 1396
eine ausdrücklich gegen die Türkengefahr aufgebotene Streitmacht aus
ungarischen und französischen Kreuzrittern vernichtend. Als er im Jahr
darauf auch noch das mächtige Beylik der Karaman im Südosten Anatoliens
eroberte, beherrschte Bayezid ein Reich, das von der Donau bis zum Fluss
Kızılırmak (dem antiken Halys) reichte, somit von der ungarischen bis
an die armenische Grenze.
Ein mongolischer Feldherr ringt die Osmanen nieder
Das
alte Byzantinische Reich hingegen – über Jahrhunderte der größte
Machtfaktor der Region – war zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Stadt
Konstantinopel samt Hinterland und einige schmale Landstriche in
Griechenland zusammengeschrumpft. Es schien nur noch eine Frage der
Zeit, bis sich der Sultan auch diese Gebiete einverleiben würde.
Doch
dann kam Timur. Am 20. Juli 1402 unterlag Bayezids Heer in der fast
20 Stunden dauernden Schlacht bei Ankara der turkomongolischen
Streitmacht Timur Lenks (1336–1405). Der Sultan selbst geriet in
Gefangenschaft, in der er im folgenden Jahr verstarb – möglicherweise
von eigener Hand. Dabei war dem Heerführer aus dem Fernen Osten nie an
einer Herrschaft über Anatolien gelegen. Lediglich den ständigen Raub-
und Eroberungszügen der Osmanen an der Grenze seines gewaltigen Reichs
wollte er ein Ende setzen. Vielmehr war es dem fast 70-jährigen
mongolischen Herrscher ein Herzensanliegen, sein kriegerisches Werk zu
vollenden und endlich China einzunehmen, dessen Vasall er trotz all
seiner Eroberungen pro forma immer noch war. Also wandte er sich wieder
nach Osten und überließ Kleinasien seinem Schicksal.
Sultan Bayezid I. vor Timur | Seine Eroberungskriege
brachten dem Osmanensultan Bayezid I. den Beinamen »Blitz« ein. Doch
gegen den Mongolenherrscher Timur verlor der Sultan. Um ein Haar wäre
das Osmanische Reich untergegangen.
Dort vernahm man drei Jahre später mit Erleichterung die
Nachricht vom Tod des großen Feldherrn. Timur war im Februar 1405 auf
dem Feldzug gegen China gestorben, übrigens noch ehe er mit seinen
Truppen die Grenzen des Reichs der Ming-Dynastie erreicht hatte. Nun, da
die mongolische Gefahr bis auf Weiteres gebannt war, machten sich die
Osmanen daran, ihr beinah zerfallenes Reich wieder aufzubauen –
allerdings auf recht verworrene Weise. Gleich vier von Bayezids Söhnen
kämpften in einem zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg um den Thron.
In Edirne, wo sich Bedreddin inzwischen niedergelassen hatte, eroberte 1410 Musa Çelebi die Macht, der gemeinsam mit seinem Vater nach der Schlacht bei Ankara in Gefangenschaft geraten, inzwischen aber wieder frei gelassen worden war. Als Sultan im europäischen Teil des Reichs ernannte er Scheich Bedreddin zum Kadıasker, zum obersten Heeresrichter, was etwa dem Posten eines mit weit reichenden Befugnissen ausgestatteten Justizministers entsprach.
Drei Jahre darauf wurde
Musa von seinem Bruder Mehmet entmachtet und getötet, der damit auch
seinen letzten Rivalen um den Thron ausgeschaltet hatte. Der neue
Sultan, nunmehr alleiniger Herrscher über das weitgehend wieder
hergestellte Reich, ließ den Großteil der Gefolgsleute seines Bruders
hinrichten. Bedreddin aber gewährte er seiner Verdienste um den Staat an
sich und seines Ansehens wegen eine Rente und verbannte ihn in den
asiatischen Teil des Reichs nach Iznik, dem antiken Nicäa, unweit der
Hauptstadt Bursa. Dort widmete sich der Scheich hauptsächlich der
Niederschrift seiner Lehren. Zwar hatte er schon zuvor einige Werke
verfasst, unter anderem in seiner Zeit als Kadıasker ein juristisches,
in dem er die Notwendigkeit unabhängiger Gerichte unterstrich. Nun aber
entstand sein philosophisches Hauptwerk »Varidat« (Einsichten oder
Eingebungen), in welchem er seine Überzeugungen in religiösen wie in
sozialen Fragen zu Papier zu brachte.
Das
Buch, das den Eindruck erweckt, aus Predigten des Scheichs zu bestehen,
hebt an mit einem Paukenschlag: »Wisse und zweifle nicht daran: Das
Paradies, die Huri, die Bäume, die Früchte, die Flüsse, die Qual, das
Fegefeuer, welche in den Büchern geschrieben stehen und von Mund zu Mund
gehen, haben eine andere Bedeutung als die offenkundige.« Himmel und
Hölle, so Bedreddin, gebe es nicht so, wie sie im Koran beschrieben
würden. Vielmehr sei alles Gute und Schöne im Leben das Paradies, alles
Böse und Hässliche die Hölle. Überhaupt sollten die Aussagen der
heiligen Schriften nicht wörtlich genommen werden. Die Welt sei nicht in
sechs Tagen erschaffen worden – und sie werde auch nicht mit einem
Jüngsten Gericht enden. Die geheimen Aussagen der göttlichen
Offenbarungen würden immer nur dann verstanden werden, wenn die Menschen
dafür reif seien.
Das bedeutet zugleich, dass alle Aussagen des Korans – für orthodoxe Gläubige immerhin Gottes Wort – ausgelegt und interpretiert werden dürfen und sollen, ja müssen. Selbst den Glauben an die Auferstehung und das Leben nach dem Tod, Grundlagen der islamischen Religion, wies Bedreddin zurück. Wenn die Seele in der Vereinigung mit Gott aufgeht, ist der Körper ohne jede Bedeutung. Der Eine sei in allem, und alles sei in dem Einen, also in Gottes Absolutheit. Daher sind auch alle Wesen im Grunde gleich. »Wenn jedes einzelne von ihnen sagte ›Ich bin Gott‹, entspräche das der Wahrheit, da alle Wesen von Gott kommen.« Ob einer Muslim ist, Jude oder Christ, wird im Lichte dieser Theologie schlicht bedeutungslos.
Bei aller Sprengkraft, die Bedreddins heterodoxer
Auslegung der Religion innewohnt, stand er damit letztlich in der
Tradition vieler Derwische vor ihm. Die Schlussfolgerungen für die
Gesellschaft, die er daraus zog, waren hingegen weit bedrohlicher. Das
osmanische Establishment, vom Klerus über das Militär und die
Beamtenschaft bis hin zum Sultan selbst, konnte darin einen Angriff auf
den eigenen Rang und Status sehen. Alle Menschen, so der Scheich, seien
von Geburt an gleich geschaffen. Daher stehe es im Widerspruch zur
göttlichen Weisheit, dass manche in Reichtum schwelgten, während andere
Hungers litten. Dies gelte es, im Einklang mit Gottes Willen zu ändern.
In einer durch Timurs Feldzug und dem darauf folgenden Bürgerkrieg
völlig zerrütteten und verarmten Gesellschaft fanden solche Worte
natürlich Gehör. Und offenbar beließ es der Scheich nicht beim
Theoretisieren, sondern sandte Botschaften und Aufrufe an seine Anhänger
in den Provinzen.
Der Aufstand gegen die Mächtigen beginnt
Über
das, was dann geschah, berichten mehrere osmanische Chronisten – alle
freilich mehr oder weniger Hofschreiber, die die Sichtweise der am Ende
siegreichen Herrschenden vertraten. Nur der Grieche Johannes Dukas, der
um 1450 als Schreiber des genuesischen Podestàs (Gouverneurs) im
heutigen Foça bei Izmir lebte, schrieb weitgehend ohne Partei zu
ergreifen über die Vorkommnisse des Jahres 1416. »Ein gewöhnlicher
türkischer Bauer«, so Dukas, habe seinerzeit in den Dörfern an der
gebirgigen Westküste Kleinasiens begonnen, umstürzlerische Reden zu
halten. »Er predigte den Türken die freiwillige Armut und lehrte, außer
Frauen müsse alles Gemeingut sein, wie Lebensmittel, Kleider, Zugvieh
und Ackergerät.«
Der »gewöhnliche Bauer« war Bedreddins
Gefolgsmann Börklüce Mustafa, der auf der Halbinsel Karaburun im Osten
von Izmir die Gütergemeinschaft predigte und innerhalb kürzester Zeit
eine Rebellenarmee von bis zu 10 000 Muslimen, Christen und Juden um
sich scharte. Gleichzeitig versammelte Torlak Kemal nahe dem westlich
von Izmir gelegenen Städtchen Manisa ebenfalls tausende Aufständische um
sich. Die Aufrührer propagierten, Bedreddin sei der erwartete Mahdi,
der das Unrecht auf der Welt beseitigen werde, und erhoben sich zum
Sturz der herrschenden Ordnung.
Mehmet I. nahm das alles offenbar
nicht sonderlich ernst. Unbotmäßige Regionalfürsten, die sich der
osmanischen Herrschaft nicht wieder fügen mochten, nahmen bereits genug
Zeit in Anspruch. Nachdem aber zwei Strafexpeditionen gegen die
Aufrührer misslungen waren, schlug das Imperium mit aller Gewalt zurück.
Die Rebellen hatten keine Chance gegen die geballte Militärmacht des
Sultans. Wer von ihnen nicht in der Schlacht fiel, wurde danach
niedergemetzelt, Börklüce Mustafa erst ans Kreuz genagelt, dann
gevierteilt, Torlak Kemal aufgehängt.
Bedreddin selbst war
inzwischen aus Iznik geflohen und über das Schwarze Meer auf den Balkan
entkommen. Dort unternahm der 62-Jährige nun selbst einen letzten
Versuch des Aufbegehrens, wurde aber verraten und an den Sultan
ausgeliefert. Der ließ über ihn in Serres Gericht halten. Kurioserweise
wurde der Scheich nicht wegen seines abweichlerischen Glaubens
verurteilt, sondern ausdrücklich auf Grund des Aufstands gegen den
Herrscher. Für Bedreddin, der am 18. Dezember 1420 nach kurzem Prozess
nackt an einem Baum auf dem Marktplatz des Städtchens aufgeknüpft wurde,
machte dies freilich keinen Unterschied.
Nachdem seine
Gefolgsleute während der Zeit der Verfolgung die sterblichen Überreste
des Scheichs mehrmals umgebettet hatten, wurde er schließlich offiziell
in Serres bestattet.
Bis heute hat sich der Scheich eine Anhängerschaft erhalten
War
Bedreddin auch vergraben, vergessen wurde er nicht. Seine juristischen
Schriften galten noch Jahrhunderte nach der Hinrichtung ihres Verfassers
selbst orthodoxen Richtern als Standardwerke. Die mystischen Lehren des
Scheichs wurden allerdings unterdrückt, das »Varidat« blieb bis ins
20. Jahrhundert verboten. Große Teile von Bedreddins Anhängerschaft
dürften sich dem vom schiitischen Islam beeinflussten Alevitentum
Anatoliens angeschlossen haben und darin aufgegangen sein. Im
Osmanischen Reich wurde diese Glaubensgemeinschaft, die die meisten der
für Sunniten bindenden Gebote und Verbote des Korans ablehnt oder
missachtet, über Jahrhunderte verfolgt und unterdrückt, wogegen sie
ihrerseits immer wieder vergeblich den Aufstand probte. Bis heute wird
die immerhin zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei von der sunnitischen
Mehrheitsgesellschaft diskriminiert. Ihre Gottesdienste gelten im
besten Fall als folkloristische Events, im schlimmsten als ketzerische
Versammlungen. Zudem sind alevitische Personen und Einrichtungen häufig
das Ziel von Angriffen, Anschlägen und sogar Pogromen.
Vor allem in seinen einstigen Wirkungsstätten, in Thrakien und Mazedonien, dürfte sich der Scheich bis ins 20. Jahrhundert eine Anhängerschaft bewahrt haben. »Noch heute zeigt man im Westviertel des Städtchens sein Grab«, schrieb vor fast 100 Jahren der Orientalist Franz Babinger, der 1921 die erste Lebensbeschreibung des Scheichs in deutscher Sprache veröffentlichte. Und auch Nazim Hikmet (1902–1963), der Begründer der modernen türkischen Lyrik, berichtet von einer folgenschweren Begegnung mit Anhängern Bedreddins auf dem Balkan. Sein Kindheitserlebnis mündete Jahre später in das 1936 erschienene »Epos von Scheich Bedreddin«, mit der er der Verehrung des ungewöhnlichen Mystikers neues Leben einhauchte. Für die türkische Linke gilt der Scheich mit dem radikalen Gesellschaftsentwurf bald als eine Art weltlicher Schutzpatron.
Inzwischen haben ihn sogar streng religiöse Autoren für sich entdeckt. Ihre Bemühungen, den abweichlerischen Derwisch für den eigenen orthodoxen Glauben zu vereinnahmen, überzeugen zwar hinten und vorne nicht, stehen aber im Einklang mit dem Bestreben der neoosmanisch ausgerichteten Regierung, Aspekte der türkischen Geschichte im eigenen Sinn umzudeuten.
Den Scheich ficht dies freilich nicht an, gibt es doch keine Auferstehung. 1924 nahmen Anhänger Bedreddins, die im Zuge des Bevölkerungsaustauschs zwischen der Türkei und Griechenland ihre Heimat verlassen mussten, seine Knochen mit und versteckten sie über Jahrzehnte. Schließlich wurde der Scheich 1961 im Mausoleum Sultan Mahmuds II. (1785–1839) zu Istanbul beigesetzt – zur vorerst letzten Ruhe.
Nota. - Es ist nun eben wahr: Der Islam ist, wie schicksalsergeben der individuelle Moslem auch sei, eine politische Religion. Genauer gesagt, 'der' Islam ist immer dasjenige Bekenntnis, das zu dieser oder jener Zeit an diesem oder jenem Ort herrscht. Und darum, zu herrschen, geht es einem jeden - und sei es nur, um nicht unter die Herrschaft eines andern zu fallen.
So hatten und haben die mystischen Strömungen immer einen subversiven und libertären Charakter, doch je mehr sie in Gegensatz zu den jeweils Herrschenden geraten, um so politi-scher werden sie selber. Nicht nur die Sunniten von Qaida und IS errichten ein Terrorregime, sobald sie genügend Macht erringen. Der Aufstand des Mahdi gegen die Briten im Sudan Mitte des 19. Jahrhunderts begann als mystische Erweckungsbewegung und weitete sich im Lauf des Kampfes in eine blutrünstige Verfolgung aller Glaubensunwilligen aus.
JE
aus scinexx, 16. 12. 2020
Chinas Venedig der Steinzeit
Unweit
von Schanghai liegt Liangzhu. Vor rund 5300 Jahren errichteten Menschen
dort eine ummauerte Stadt, die über ein komplexes System aus Dämmen und
Kanälen schiffbar war. Ein Paukenschlag in der weltweiten
Zivilisationsgeschichte.
von David Robson
Vor
rund 5300 Jahren erhob sich aus dem Delta des unteren Jangtse eine
blühende Metropole. Die Menschen konnten die Stadt zu Fuß betreten. Eine
Straße führte durch die hoch aufragenden Mauern. Die meisten Bewohner
fuhren aber wohl eher mit dem Boot. Denn um die Stadt erstreckte sich
ein weit verzweigtes Netz von Kanälen, über das die Bewohner bis ins
Zentrum der Metropole gelangen konnten. Dort ragte bis zu 15 Meter hoch
eine Plattform auf, die auf einer Fläche von 630 mal 450 Metern aus Erde
aufgeschüttet worden war. Obenauf stand ein ausgedehnter palastartiger
Komplex samt großen Kornspeichern. Zwischen Plattform und Stadtmauern
lagen Nekropolen mit reich ausgestatteten Gräbern. Die Wasserwege
jenseits der Umwehrung ließen sich durch eine Reihe gewaltiger Dämme und
Speicherseen regulieren.
Die Stadt, die heute unter dem Namen
Liangzhu bekannt ist, war fast 1000 Jahre lang bewohnt. Ihre Kultur
bestimmte auch das Leben in der umliegenden Region, die regelmäßig vom
Fluss überschwemmt wurde. Mehr als 100 Kilometer entfernt von der Stadt
entdeckten Forscher noch ähnliche Funde wie in Liangzhu. Die Ausgräber
fanden auch heraus, dass die Stadt um 2300 v. Chr. untergegangen war –
und danach in Vergessenheit geriet. Erst in den letzten zehn Jahren
kamen Archäologen dem wahren Ausmaß der frühen Metropole auf die Spur.
Ihre
Forschungen zeigen: Liangzhu war eine staatlich organisierte
Gesellschaft, offenbar die bislang älteste bekannte ihrer Art in
Ostasien. »Meiner Ansicht nach gibt es weltweit nichts Vergleichbares,
das so früh datiert und hinsichtlich der Wasserbewirtschaftung – oder
überhaupt hinsichtlich irgendeiner Art von Bewirtschaftung – derart
monumental angelegt ist«, sagt Vernon Scarborough von der University of
Cincinnati in Ohio. Frühe Zivilisationen entstanden demnach nicht allein
im alten Ägypten oder Mesopotamien. Auch im fernen Osten blühte um
3300 v. Chr. eine hoch technisierte Kultur auf. Das heißt: Die Idee der
Zivilisation erblickte mehrfach das Licht der Welt.
Die ersten Hinweise auf eine prähistorische Kultur im Jangtse-Delta entdeckte 1936 Shi Xingeng. Der Forscher, der im West Lake Museum von Hangzhou arbeitete, benannte die Stätte nach der nahe gelegenen Stadt Liangzhu. Shi hatte vor allem Überreste einer eher unscheinbaren schwarzen Keramikware gefunden. Erst in den 1970er und 1980er Jahren erregte Liangzhu große Aufmerksamkeit, als die Nekropolen im Umfeld der alten Stadt frei gelegt wurden.
In den meisten Gräbern lagen zwar kaum Beigaben, doch einige wenige Bestattungen enthielten hunderte kunstvolle Gegenstände aus Jade – darunter die frühesten Beispiele der für Chinas alte Kulturen so typischen Cong-Röhren sowie so genannte Bi-Scheiben. Das sind dünne, in der Mitte durchlochte Steindisken. Auf vielen dieser Stücke ist die Figur eines Mannes dargestellt, der einen üppigen, mit Federn verzierten Kopfschmuck trägt. Er reitet auf einem Ungeheuer mit riesigen Kulleraugen und gebleckten Zähnen. Gut möglich, dass die beiden Mythengestalten oder im Kult bedeutsame Figuren waren. Jedenfalls tauchen der Furcht erregende Reiter und sein Tier noch auf weiteren Grabbeigaben auf, wie Ritualäxten, Anhängern und Ziertäfelchen für Kopfbedeckungen.
Cong-Röhre | In einer Nekropole von Liangzhu stießen die Archäologen auf reich ausgestattete Gräber. Elf davon enthielten insgesamt 3000 Objekte aus Jade, darunter diese neun Zentimeter hohe Cong-Röhre. Darauf ist mehrfach ein Reiter mit Federputz abgebildet, der auf einem Ungeheuer mit Kulleraugen und gebleckten Zähnen sitzt.
Bislang hielten Forscher derartige Objekte für Zeugnisse späterer Kulturen.
So hätten frühestens Angehörige der Zhou-Dynastie, ab 1046 v. Chr.,
Kunstwerke aus Jade gefertigt. Doch nun lagen solche Stücke in einer
5000 Jahre alten, neolithischen Nekropole. Es war ein erster Fingerzeig,
dass Liangzhu möglicherweise eine hierarchisch strukturierte
Gesellschaft beherbergt hatte, deren Handwerker kunstvolle Artefakte
fertigten und deren Elite wohlhabend genug war, sich solch kostbare
Stücke zu leisten.
Die
Entdeckungen gaben Anlass für weitere Grabungen. Zwischen 1987 und 1993
fanden die Forscher die künstlich angelegte Erhebung im Herzen der
Stadt. Sie bedeckt eine Fläche von fast 300 000 Quadratmetern. Die
Menschen von Liangzhu hatten darauf aus Holz und Bambus einen großen
Baukomplex errichtet, den die Ausgräber als Mojiaoshan bezeichneten.
Anschließend kamen die Reste von Stadtmauern ans Licht: mehr als
20 Meter breit, noch 4 Meter hoch anstehend und umgeben von
Wassergräben. Ähnlich einem Quadrat mit abgerundeten Ecken umfassten die
Mauern aus Erde eine Fläche von 1900 mal 1700 Metern. Und
offensichtlich hatten die Einwohner Nahrung im Überfluss: Neben der
großen Plattform stießen die Ausgräber auf eine Grube mit ungefähr
13 000 Kilogramm verkohltem Reis. Womöglich, so vermuten die
Archäologen, war das Getreide in einem der Kornspeicher auf Mojiaoshan
verbrannt und dann nahebei in der Grube verscharrt worden.
Zuletzt 2016 und 2017 erschienen jeweils in »Chinese Archaeology« und »PNAS«
wissenschaftliche Studien, die es in sich hatten: Forscher um Liu Bin
vom Zhejiang Provincial Institute of Cultural Relics and Archaeology in
Hangzhou hatten erstmals die monumentalen wasserbaulichen Maßnahmen der
Liangzhu-Kultur kartiert. Sie werteten Satellitenbilder aus, nahmen
Bohrkerne und legten bei weiteren Grabungen westlich der Stadt eine
Reihe niedrig gebauter Dämme frei. Um das Überflutungsgeschehen in der
Ebene zu regulieren, waren dort unterschiedlich lange Sperrbauten auf
dem nassen Untergrund angelegt worden – der mit Abstand größte misst
5 Kilometer in der Länge und 50 Meter in der Breite. Arbeiter hatten
dafür unzählige mit Stroh umwickelte »Sandsäcke« aufgeschichtet, deren
Struktur sich noch heute im Erdreich abzeichnet. Überdies hatten die
Erbauer flussaufwärts fünf höhere Dämme angelegt: Zwischen 50 und
200 Meter lang ragen sie teils noch 10 Meter hoch auf. Hinter den Dämmen
sammelte sich einst das aus dem Gebirge abfließende Wasser in riesigen
Speicherseen. Mit Hilfe der Sperrbauten ließ sich der Wasserhaushalt auf
einer Fläche von mehr als 10 000 Hektar kontrollieren, fast
6,5 Milliarden Kubikmeter Wasser wurden gebändigt. C-14-Datierungen
sowie eine stilistische Analyse von Jadeobjekten, die in der Nähe der
Deiche zu Tage kamen, ergaben: Einige Dämme standen bereits vor
5200 Jahren, also zur Zeit von Liangzhu. Und mancher Deich überdauerte
die Jahrtausende bis heute: Der Qiuwu-Damm etwa ist noch immer in
Betrieb.
Die
Stauseen sicherten die Bewässerung der Reisfelder. Ebenso hielten sie
Überschwemmungen zurück. Sie speisten zudem 51 Wasserwege, die das
Gebiet um Liangzhu vernetzten. Dabei handelte es sich teils um
natürliche Flussläufe, teils um Kanäle, die zusammengenommen eine Länge
von ungefähr 30 Kilometern ergaben. »Der Austausch muss größtenteils per
Boot erfolgt sein – es war eine Stadt der Kanäle ebenso wie der
Straßen«, schreiben Colin Renfrew von der University Cambridge und
Liu Bin 2018 in »Antiquity«.
Vielleicht am ehesten vergleichbar ist Liangzhu mit dem
mittelalterlichen Venedig oder den berühmten »Wasserstädten« in der Nähe
von Schanghai, die jedoch einige tausend Jahre später entstanden sind.
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Über das Kanalsystem schaffte man auch Baumaterialien wie
Holz und Stein in die Stadt. Das belegen petrologische Untersuchungen.
Die Fundamente der Stadtbefestigung fußten nämlich auf Steinmaterial,
das aus dem nördlich gelegenen Gebirge stammte. Per Boot brachte man die
unbehauenen Bruchsteine nach Liangzhu. Im Mauerring der Stadt gab es
acht Wasserpforten, durch die Boote einfahren konnten.
Während die Forschungen in Liangzhu weitergehen, deuten Entdeckungen anderswo in China darauf hin, dass das »Venedig« im Jangtse-Delta das Phänomen einer sozialen und kulturellen Umbruchzeit war. Erst im Jahr 2019 legten chinesische Archäologen dar, dass vor mehr als 5000 Jahren ein Wandel einsetzte: Im Gebiet des unteren und mittleren Jangtse – in der heutigen Provinz Sichuan – sowie entlang des unteren Gelben Flusses entstanden zahlreiche Siedlungen. Einige, darunter Shijiahe im mittleren Jangtse, waren so groß, dass nur gut organisierte Arbeiterschaften in der Lage gewesen sein können, die Gräben und Mauern anzulegen. »Liangzhu ist mit Abstand das größte Beispiel, aber es gibt noch andere umwehrte Stadtzentren«, sagt die Sinologin und Archäologin Jessica Rawson von der University of Oxford. »Die Handwerkskunst war in mehreren Regionen Chinas bereits sehr fortgeschritten, nicht nur für das Material Jade, sondern auch bei verschiedenen Keramiken.« Einige dieser Stätten standen miteinander in Kontakt, wobei die größeren Siedlungen vermutlich als lokale Machtzentren fungierten. Zeugnisse von Liangzhus Kultur etwa fanden sich in Gegenden mehr als 100 Kilometer von der Stadt entfernt.
All diese Funde liefern ein völlig anderes Bild, als es Forscher bisher von Chinas Geschichte gezeichnet haben. Einigermaßen sicher ist: Erstmals vor etwa 10 000 Jahren tauchten kleine Gemeinschaften von Reisbauern auf. Doch bis vor Kurzem ging man davon aus, dass die erste frühstaatliche Gesellschaft in China, die auf einer hierarchisierten Gesellschaft beruhte, erst vor 3600 Jahren mit dem Aufstieg der Shang-Dynastie in der Zentralchinesischen Ebene entstand. Das weit im Südosten gelegene Liangzhu weist aber bereits viele Merkmale einer staatlich organisierten Gesellschaft auf, die sich dann etwa 1700 Jahre früher formiert hätte als bislang angenommen. Nach Ansicht von Colin Renfrew und Liu Bin ist genau das der Fall gewesen.
The emergence of complex society in China: the case of Liangzhu
Venedig des Fernen Ostens | Liangzhu liegt ungefähr 160 Kilometer westlich von Schanghai. Die Metropole war zirka 300 Hektar groß. Im Umfeld der Stadt, die über acht Wasserpforten befahren werden konnte, entdeckten Archäologen zwei Cluster von Dämmen – niedrig und hoch gebaute Deiche.
Dass Liangzhu eine Hochkultur beherbergte, schließen sie aus drei Erkenntnissen:Dabei sei besonders beeindruckend, dass die Menschen von Liangzhu all das ohne Lasttiere wie Pferde, Esel oder Ochsen errichteten, betont Jessica Rawson. »Alles war von menschlicher Arbeit abhängig«, sagt sie. »Und entscheidend dabei war, diese Arbeitskräfte zu organisieren.« Denn für die Baumaßnahmen mussten Bauern von der Feldarbeit freigestellt werden können. Das Team um Liu hat berechnet, dass allein für die Dämme von Liangzhu rund 2,9 Millionen Kubikmeter Erde bewegt wurden. 3000 Arbeiter hätten dafür schätzungsweise acht Jahre gebraucht. »Ohne Planung wäre so ein Wasserbauprojekt nicht realisierbar gewesen«, ist Rawson überzeugt. Außerdem: »Eine kleine Gruppe von Menschen wäre dazu nicht in der Lage gewesen – das war Management im großen Stil.«
Weltweit kennen Archäologen kaum eine Hochkultur, die im 4. Jahrtausend v. Chr. vergleichbare Wasserbauwerke wie in Liangzhu verwirklicht hat. Wer aber die Wiege der Zivilisation sucht, blickt meist in den Vorderen Orient. Dort hatten sich zur selben Zeit einige städtische Gesellschaften herausgebildet, etwa Tell Brak in Syrien oder Uruk am Euphrat im heutigen Irak. Auch diese Städte florierten dank eines fortschrittlichen Wassermanagements. Doch in Größe und Komplexität haben die Menschen von Liangzhu deutlich mehr Aufwand getrieben. Liu und Renfrew sind überzeugt davon, dass die Staudämme von Liangzhu »womöglich weltweit die frühesten gemeinschaftlich errichteten Bauwerke in dieser Größenordnung sind«. Vernon Scarborough stimmt zu. Der Archäologe von der University of Cincinnati besuchte die Stätte 2017 und war überrascht, wie stark die Bewohner von Liangzhu in ihre Umwelt eingegriffen hatten. »Es gibt keine andere derart wasserbaulich veränderte Landschaft, die ebenso alt ist.«
Eine Sache allerdings fehlt bisher in Liangzhu: Die Archäologen haben noch keine eindeutigen Belege für eine Schrift gefunden. Und ohne Schrift, so die verbreitete Forschungsmeinung, könne sich kein Staat herausbilden. Möglicherweise sind aber einige Bilder, die Keramik- und Jadeobjekte zieren, nicht als reiner Dekor zu verstehen. Zhang Chunfeng von der Pädagogischen Universität Ostchina in Schanghai ist sich sicher, dass ein Teil der Symbole Schriftzeichen waren. Bisher sind 656 Symbole bekannt, von denen einige immer gleich arrangiert sind. Sie prangen etwa auf Gefäßen und dabei stets an derselben Stelle, etwa auf dem Fuß oder an der Mündung. Zhang folgert nun daraus, dass sie vielleicht wie ein Etikett Auskunft über den Inhalt gaben. Die Sprachforscherin fand auch heraus, dass einige Zeichen nach bestimmten Regeln verändert wurden, um ihnen womöglich eine neue Bedeutung zu verleihen. Beispielsweise wurden Striche hinzugefügt oder Motive anders miteinander kombiniert – aber eben nicht willkürlich, sondern regelhaft. War in Liangzhu also ein Schriftsystem im Entstehen gewesen? »Einige Symbole waren vermutlich nur dekorativ, manche besaßen eine bestimmte Bedeutung, und für den Rest ist es schwierig, ihre genaue Funktion zu bestimmen«, sagt die Forscherin. Sicher sein könne man nur, meint Zhang, wenn eine Art Rosetta-Stein für die Symbole von Liangzhu vorliegen würde.
Bi-Scheibe aus Jade | Typisch für die alten Kulturen Chinas sind Bi-Scheiben. Dabei handelt es sich um dünne Steindisken, die in der Mitte durchlocht sind. Dieses Stück stammt aus Liangzhu.
Laut Vernon Scarborough befeuerte ein Umstand die Entstehung der Stadtgesellschaft von Liangzhu: die Unwägbarkeiten der Natur. So bestand gerade in der Regenzeit das Risiko, dass Nutzflächen überschwemmt wurden. Im Sommer hingegen verdorrten die Reisfelder womöglich unter lang andauernder Trockenheit. Und damit war die Ernte gefährdet. Zu Anfang haben die Bauern wahrscheinlich nicht gleich ihre Energien in wasserbauliche Anlagen investiert. Eher haben sie zunächst versucht, die launische Natur mit Ritualen und Kulten günstig zu stimmen. Zu solchen Anlässen waren dann auch die verstreut lebenden Gruppen regelmäßig zusammengekommen. Durch die gemeinschaftlich begangenen Kulte könnten sich soziale Normen etabliert und sich Einzelne als Anführer hervorgetan haben, etwa weil sie das Wetter vorhersagen konnten und so das Wohl der Gemeinschaft förderten.
Sobald eine soziale Hierarchie existierte, gab es eine Elite, die genügend Arbeiter für Bauprojekte mobilisieren konnte. Weil das Wassermanagement der gesamten Gemeinschaft zugutekam, verfestigte sich wohl auch die bestehende Gesellschaftsordnung. Der herrschenden Schicht fielen folglich mehr Macht und Reichtum zu. Und beides ermöglichte es der Elite wiederum, weitere kunstvolle Objekte fertigen und monumentale Bauten errichten zu lassen.
Dieselben
Umstände, die in Liangzhu zur Herausbildung einer frühstaatlichen
Gemeinschaft führten, herrschten nach Ansicht von Scarborough auch im
Vorderen Orient – nur dass sich die Menschen dort vor allem gegen
Dürreperioden wappnen mussten. »Es ging darum, Wasser, das ja nur
begrenzt zur Verfügung stand, aus dem Tigris oder Euphrat abzuleiten, um
so die wachsenden Städte zu versorgen.« Wie in Liangzhu hatten die
Einwohner erkannt, dass ihr Dasein sicherer wäre, wenn sie die
Umweltbedingungen beeinflussen könnten. Auch diese Entwicklung hat
vermutlich zum Gesellschaftswandel beigetragen. Die Gruppen kooperierten
enger, Einzelne taten sich dabei hervor, und allmählich bildeten sich
Eliten heraus. »Wasser ist sicher nicht die einzige Ursache für die
Entstehung komplexer Gesellschaften, aber es ist eine der wichtigsten«,
sagt Scarborough.
Fluten brachten das Ende
Liangzhu
entstand, weil das Land von Überschwemmungen heimgesucht wurde. Doch
genau das führte wohl zu ihrem Untergang. Wang Zhanghua und ihr Team von
der Pädagogischen Universität Ostchina untersuchten Sedimentschichten
in der Region. Offenbar, so fanden die Forscher heraus, brachen immer wieder Flutwellen aus dem Ostchinesischen Meer über das Gebiet herein –
erstmals vor etwa 4500 Jahren. Dadurch lagerten sich Algen und kleinen
Meeresfossilien ab. Die Forscher um Wang dokumentierten die Schichten
direkt über den Hinterlassenschaften der Liangzhu-Kultur. Die Fluten
verwüsteten das Gebiet nicht nur, sie versalzten auch allmählich den
Boden – bis kaum noch Reis angebaut werden konnte. »Die wichtigste
wirtschaftliche und soziale Grundlage der Menschen von Liangzhu brach
weg«, fasst Wang zusammen.
Die Stadt wurde verlassen. Die Menschen wanderten in andere Regionen ab – samt ihren Kenntnissen. Liu Bin und seine Kollegen gehen davon aus, dass spätere Kulturgruppen Elemente aus Liangzhu wie die Jade-Congs aufgegriffen haben. Doch schon die Liangzhu-Zivilisation selbst hatte die Landschaft um ihre Kanalmetropole nachhaltig verändert – und das bis heute.
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Nota. - Pionier bei der Erforschung der chinesischen Gesellschaft war der Marxist Karl August Wittfogel. Er hat das Marx'sche Wort von der Asiatischen Produktionsweise zu einem Begriff ausgeprägt - der sich in der stalinistischen Geschichtsschreibung aber nicht durchset-zen konnte, weil sie in den asiatischen Herrschaftsformen lieber Varianten des europäischen Feudalismus erkennen wollte.
Während des Kalten Kriegs brach Wittfogel mit dem Stalinismus und fasste die Ergebnisse seiner Forschung unter dem Titel Die orientalische Despotie zusammen. Sie spielten in den fünfziger, sechziger Jahren in der politischen Diskussion über Bürokratischen Kollektivismus und Totalitarismus eine Rolle. Der heute übliche Ausdruck hydraulische Gesellschaft bedeutet nichts anderes als die ursprüngliche 'Asiatische Produktionsweise'.
JE