Montag, 28. Dezember 2020

Der Ursprung der Kultur in Rausch und Fest.

aus welt.de, 28. 12. 2020

Rauschende Feste und Orgien bereiteten der Zivilisation den Weg
Wer baute um 9500 v. Chr. auf dem Göbekli Tepe die ersten Monumentalbauten der Menschheit? Unscheinbare Fundstücke liefern Wissenschaftlern jetzt verblüffende Antworten. Offenbar wurde dort Bier zu einem ganz besonderen Zweck gebraut.

Es ist noch gar nicht lange her, da wurde der mittägliche Gang zur Kantine oder auch ins Restaurant mit dem knappen Gruß „Mahlzeit“ begleitet. Geradezu ruppig war das Wort, und dass die Mahlzeit „gesegnet“ sein sollte, wurde dabei stillschweigend vorausgesetzt. Es eröffnete eine kurze Pause in der Arbeitszeit. Dass „Mahlzeit“ inzwischen vielerorts aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist, erklärt sich nicht zuletzt durch Veränderungen in der Arbeitswelt. Die lassen leicht vergessen, dass über Jahrtausende hinweg das von Arbeit umrahmte gemeinsame Mahl die Grundlage der menschlichen Zivilisation legte.

Wie das geschah, verdeutlichen neueste Forschungen an Funden aus einer der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen der vergangenen Jahrzehnte. Seit der deutsche Ausgräber Klaus Schmidt auf dem Hügel Göbekli Tepe in der Südosttürkei ab 1995 auf riesige Steinbauten stieß, deren Alter auf bis zu 11.500 Jahre datiert werden konnte, eröffnet sich für die Archäologie ein Fenster in die Zeit, in der Homo sapiens daranging, sesshaft zu werden. Das bedeutete zugleich, dass die ersten Monumentalbauten bereits vor der neolithischen Revolution entstanden, zu einer Zeit also, in der sich die Menschen noch vom Jagen und Sammeln ernährten.

Angesichts der spektakulären mehr als fünf Meter hohen Monolithe und Reliefs blieb eine Fundgattung lange unbeachtet, der nur eine geringe Aussagekraft beigemessen wurde, obwohl sie in großer Zahl in Göbekli Tepe ans Licht kam. Es handelt sich um Reibsteine aus Basalt. Rund 7000 Exemplare dieser schlichten Artefakte wurden inzwischen geborgen, ein Mehrfaches der Stückzahlen, die in anderen Grabungsstätten aus der Epoche bekannt sind.

Diese unscheinbaren Geräte haben es Laura Dietrich angetan. Um herauszufinden, was es mit ihnen auf sich hat, startete die Prähistorikerin der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts 2016 ein experimentelles Projekt, dessen erste Ergebnisse sie jetzt zusammen mit Teamkollegen in der Zeitschrift „Antike Welt“ vorstellt: Die Steine dienten offenbar dazu, den Stoff zu gewinnen, der Göbekli Tepe errichten half.

Um herauszufinden, was mit den Reibsteinen zerkleinert wurde, bezog Laura Dietrich mit Studenten und Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung im Berliner Museumsdorf Dahlem eine Werkstatt. Darin baute man die als Läufer bezeichneten Reibsteine und ihre weniger belasteten Unterlieger bis ins kleinste Detail nach. „Reibsteine sind universell einsetzbar“, erklärt Dietrich im Gespräch. „Man kann mit ihnen Fleisch, Obst oder Nüsse zerkleinern, aber auch Tierfelle bearbeiten. Jedes Material hinterlässt spezifische Spuren auf dem Stein.“

Diese Kratzer und andere Deformationen analysierten die Forscher mithilfe von Mikroskopen – und sie verglichen sie mit Fotografien und 3-D-Modellen der Originale. Es zeigte sich, dass die meisten Reibsteine zum Zerkleinern von Getreide benutzt wurden. Doch auf unterschiedliche Weise. Kreisförmige Bewegungen hatten zerquetschte Körner zum Ergebnis, die zu Brei verarbeitet wurden, pendelartige Bewegungen lieferten dagegen feines Mehl, wie es zur Herstellung von Brot verwendet wird. „Fast 80 Prozent der Steine zeigten die markanten Strukturen, die beim groben Zerkleinern von Einkorn oder Gerste entstehen“, sagt Dietrich. „Nur etwa ein Fünftel zeigte Spuren, wie sie beim Erzeugen von Feinmehl auftreten.“

Die meisten Reib-steine dienten dem groben Zerkleinern von Einkorn oder Gerste

Das Erstaunliche an dem Befund ist seine zeitliche Datierung. Im 10. und 9. Jahrtausend v. Chr., als die verschiedenen Steinbauten auf dem Göbekli Tepe entstanden, hatten die Menschen die Wirtschaftsstufe des Jägers und Sammlers noch gar nicht verlassen. Zwar versuchten die neolithischen Jäger bereits, sich ihren Lebensunterhalt von zumindest saisonal festen Unterkünften aus zu verschaffen. Aber die systematische Erschließung der natürlichen Ressourcen durch Ackerbau oder Viehzucht gelang ihnen noch nicht.

Immerhin lebten sie in der Region zwischen Taurusgebirge und den Oberläufen von Euphrat und Tigris, in denen die Wildformen der Getreidesorten heimisch waren, mit denen im Zuge der neolithischen Revolution ab etwa 9000 v. Chr. der Übergang zur sesshaften Lebensweise gelang. Bis es dazu kam, mussten allerdings Jahrhunderte ins Land gehen, bis die Menschen durch Beobachtung sowie ständiges Ausprobieren erkannten, welches Potenzial in diesen kleinen Körnern verborgen war. Die Herstellung von nahrhaftem Brei war offensichtlich ein Ergebnis.

Nachdem Laura Dietrich und ihr Team das Reibgut entschlüsselt hatten, widmeten sie sich einer anderen Hinterlassenschaft aus Göbekli Tepe, die bislang ebenfalls wenig Beachtung gefunden hatte. Es handelt sich um mehrere große Gefäße aus Kalkstein mit bis zu 13 Zentimeter dicken Wänden, von denen sechs noch an Ort und Stelle erhalten sind. Zahlreiche Scherben belegen aber, dass Dutzende davon in Gebrauch waren.

Bislang wurden sie als Vorratsbehältnisse gedeutet. Doch mit einem Fassungsvermögen bis zu 165 Litern sind sie im Grunde zu groß, um den Vorrat für eine Familie aufzunehmen, erklärt Dietrich den Ansatz ihres zweiten Experiments. Dafür tat sie grobkörniges Getreide in den Nachbau eines 30 Liter fassenden Kalksteintrogs und gab Wasser hinzu.

Dann kam eine dritte Fundgruppe aus Göbekli Tepe zum Einsatz: Steinkugeln aus Basalt. Noch heute werden solche von indigenen Völkern in offenem Feuer erhitzt, um anschließend die gespeicherte Wärme an Flüssigkeiten abzugeben. Im Experiment zeigte sich, dass sie auch in den Nachbauten der steinzeitlichen Gefäße aus Göbekli Tepe ihre Wirkung taten.

Doch damit wurde nicht nur Brei erwärmt. Funde an anderen Orten der Levante, zuletzt in der Höhle Rakefet bei Haifa, erhärten die These, dass bereits im Epipaläolithikum, also im 12. Jahrtausend v. Chr., Menschen darangingen, aus dem Samen wild wachsender Getreidearten ein alkoholhaltiges Getränk zu brauen. Reste bestätigen, dass den Betreibern dieser urtümlichen Brauerei die Technik der Malzherstellung bekannt war.

Um dies auch für Göbekli Tepe nachzuweisen, vermischten die Wissenschaftler gemälztes Getreide mit Wasser, kochten das Gebräu einige Stunden und gaben dann natürliche Hefe (wie sie etwa auf der Haut vorkommt) hinzu. Dann wurde der Sud gefiltert und der Trog mit einer Tierhaut und Lehm oder Wachs verschlossen.

Das Zerkleinern, Kochen, Maischen und Läutern von vier Kilogramm Getreide in 20 Liter Wasser dauerte acht Stunden, beschreibt das Team in seiner Studie den Vorgang: „Nach fünf Tagen war die verbliebene Flüssigkeit zu einem bierähnlichen, fruchtig-säuerlich schmeckenden Getränk mit etwa zwei Prozent Alkoholgehalt vergoren.“ Dabei zeigte sich übrigens auch, dass der Kochvorgang mit den Steinen erstaunlich einfach zu kontrollieren war.

Im verschlossenen Braugefäß geriet die Flüssigkeit in Gärung

Was sagen diese Experimente für Göbekli Tepe aus? Laura Dietrich ist vorsichtig: „Bei der Herstellung von Bier sind wir auf Analogieschlüsse angewiesen.“ Zwar wurden in der Höhle bei Haifa Spuren von Getreidemalz gefunden, aber ob diese Technik auch im Südosten Kleinasiens bekannt war, ist zunächst eine Annahme. Allerdings eine ziemlich plausible. Denn sie fügt sich gut in das bisherige Deutungsmuster der monumentalen Anlage ein.

Schon ihr Ausgräber Klaus Schmidt erkannte in den sieben kreisförmige Steinanlagen und den bis zu 20 Tonnen schweren Monolithen mit den Darstellungen furchterregender Tiere einen Kultort, an dem sich Leute aus weit entfernten Gegenden versammelten und unbekannte Rituale abhielten. Rechteckige Räume, in denen auch Reibsteine und fest eingebaute Steingefäße gefunden wurden, zeugen von einer gut ausgebauten Infrastruktur, die die Bewirtung einer Menschenmenge ermöglichte, die wesentlich größer war als die der zwischen 25 und 50 Personen zählenden Sammlergruppen. Auch für die Siedlungen, die inzwischen in der Nachbarschaft entdeckt wurden, dürfte die weithin sichtbare Anlage auf dem Hügel überdimensioniert gewesen sein.

Es könnten daher rauschende „Arbeitsfeste“ gewesen sein, zu denen die Menschen auf dem Göbekli Tepe zusammenkamen, sagt Dietrich und verweist auf Totenrituale indigener Gruppen in Indonesien. Indem sie ihren unbekannten Göttern monumentale Standbilder errichteten, legten sie zugleich die Grundlage für soziale Kontakte über größere Entfernungen hinweg.

Als Lohn und Ansporn für diese Arbeit, die ja erhebliche Ressourcen verschlang, gab es „Mahlzeiten“, die wahrscheinlich zuweilen in große Gelage oder womöglich gar Orgien ausarteten. Da diese Feste zugleich auch der Repräsentation und dem Austausch von Erfahrungen dienten, wirkten sie zugleich am Fortschritt der Zivilisation mit. „Die Annäherung der Sammler an die Naturausbeutung durch Ackerbau und Domestikation wilder Tiere wurde beschleunigt“, folgert Laura Dietrich.

Dieses Modell könnte auch die monumentalen Bauwerke erklären, mit denen die frühen Hochkulturen ins Licht der Geschichte traten. Die Pyramiden des Alten Reiches Ägyptens, die großen Tempel Mesopotamiens oder auch die Großbauten in Südamerika waren nicht einfach Beispiele grandioser Ressourcenverschwendung, sondern sie waren Projekte, mit denen Gesellschaften durch gemeinschaftliche Arbeit zusammenfanden – und eingebetteten Mahlzeiten.

Brachte also der Alkohol den Menschen dazu, sesshaft zu werden? So weit will der Prähistoriker und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, in seiner „Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ nicht unbedingt gehen: Aber „es ist sicher nicht übertrieben, zu sagen, dass es für den Menschen stets eine große Rolle spielte, sich zu bestimmten Anlässen zu berauschen“.

 

Nota. - Als Altphilologe hat Friedrich Nietzsche sich keinen Namen machen können, doch er war ein scharfer Denker, und so zählt er heute zu den tonangebenden Philosophen unserer Zeit. Ein disziplinierter Denker war er aber nicht. Er hat das Dionysische mehr unter den Kulturphilosophen als unter den Historikern zu einem akkreditierten Begriff gemacht. (Das Apollinische hatten schon Winckelmann und der ganze Rattenschwanz von Gelehrten im abendländischen Vorurteil festgetreten). Es mag ja biographischen Zufällen geschuldet sein - aber da hat ihn seine Phantasie wohl auch historisch ins Schwarze treffen lassen.

JE

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen