Die Neue Zürcher kommentiert heute die deutsche Regierungskrise, die eine Existenzkrise der deutschen Parteien ist.
... Würde Deutschland
beginnen, wäre Österreich als Erstes betroffen. Es müsste dann ebenfalls
Asylsuchende zurückweisen, was wiederum die Nachbarn Österreichs
ebenfalls täten. Keines der inzwischen 26 Schengen-Länder ... könne sich dem entziehen, denn auch Ausweichrouten
müssten unterbunden werden.
Die
Asylsuchenden würden schliesslich reihum gereicht. Man wüsste nicht,
wo die Leute am Ende landen: auf irgendeiner griechischen Insel,
irgendwo auf dem Balkan oder auf der Strasse in Italien.
Das
wäre ein Szenario, das die Kanzlerin zutiefst ablehnt. Sie hat es gerne
ordentlich und organisiert. Dazu gehört auch ein Deutschland, das sich
an die Regeln der EU hält. Darauf kann sie jetzt umso mehr pochen, als
sie in ihrer letzten Amtszeit ist. Umfragewerte können ihr egal sein.
Nicht aber ihr historisches Vermächtnis. Als die Kanzlerin, die das Ende
der offenen Grenzen in Europa eingeleitet hat, möchte sie nicht gelten.
Es gibt Indizien,
dass es vielleicht doch nicht ganz so schlimm kommt, sollte sich
Seehofer durchsetzen. Bis zu 15 000 Flüchtlinge erreichen jeden Monat
Deutschland. Praktisch alle haben vorher ein anderes Schengen-Land
durchquert. Wollte man sie aber alle zurückweisen, hätte das einen
Kontroll- und Polizeiaufwand zur Folge, der auch im konservativen Bayern
schnell auf Widerstand stiesse. Seehofers Vorschläge sind also
Symbolpolitik.
Praktisch wären die Folgen gering. Doch...
...geht es in dem Konflikt nicht nur um Flüchtlinge,
sondern um die Frage, wie Europas Staaten miteinander umgehen. Und darin
liegt die eigentliche Sprengkraft des Vorschlags Seehofers. Denn er
propagiert einen nationalen Alleingang, ohne Rücksicht auf europäische
Verträge, in diesem Fall das Abkommen von Dublin.
Dieses
sieht eine geordnete Rückführung des Antragsstellers in das
Erstaufnahmeland vor, nicht aber, den Flüchtling kurzerhand im
Nachbarland abzuladen. Sollte Deutschland eine solche Politik umsetzen,
wäre die Botschaft ...: «Uns ist egal, was die Regeln
sind. Wir machen einfach.» Ein solcher Kulturwandel sei die eigentliche
Gefahr. «Das ist das politische Gift. Langfristig kann das zum Zerfall
der EU führen», warnt der Politologe. Denn es bedeutet: «Jeder Staat
entscheidet nach eigenem Gutdünken.» Die multilaterale EU wäre am Ende.
Nach
Gutdünken haben seit 2015 bereits die populistischen Regierungen in
Osteuropa Politik gemacht. Nach Gutdünken hat jetzt auch Italien
entschieden und dem mit 629 Flüchtlingen beladenen Schiff «Aquarius» das
Einlaufen verweigert. Der Bruch des internationalen Seerechts soll sich
fortsetzen: Gestern Samstag kündigte Innenminister Matteo Salvini an,
zwei weiteren Rettungsschiffen die Einfahrt zu untersagen.
Die
Ähnlichkeit im Stil kommt nicht von ungefähr: Salvini und Seehofer sind
seit dieser Woche Teil der vom österreichischen Kanzler Sebastian Kurz
ausgerufenen «Achse der Willigen». Sie nehmen sich heraus, zur Lösung
der Flüchtlingskrise internationales Recht zu brechen, und verweisen auf
die handlungsunfähige EU. Seit drei Jahren scheitert der Versuch,
besser funktionierende Regeln im Umgang mit Flüchtlingen zu verein- baren.
Ein Ende Juni angesetzter Migrationsgipfel wird wohl keine Lösung
bringen. Zu gross sind die Gegen- sätze.
Und
so wird die Debatte in Berlin mit aller Härte weitergeführt. Morgen
Montag will Seehofer die nächste Eskalationsstufe zünden und die
Rückweisungen anordnen.
Wenn er morgen zündelt, muss sie ihn auf der Stelle rausschmeißen. Sonst war ihre Regierungszeit nur ein Vogelschiss in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
JE