Freitag, 30. November 2018

Eine Metropole in der mongolischen Steppe.

aus wissenschaft.de, 29. November 2018                      Die uighurische Bronze-Glocke vor dem Hintergrund der Überrreste des Palastbereichs der einstigen Hauptstadt Karabalgasun

Uighurische Glocke ertönt nach 1200 Jahren
Einst läutete sie im Palast der geheimnisvollen Hauptstadt Karabalgasun in der heutigen Mongolei: In einem verschütteten Brunnen haben Archäologen eine Glocke und weitere Gegenstände aus der Zeit des uighurischen Großreiches entdeckt. Die Funde zeugen von dem hoch entwickelten Kunsthand- werk und den internationalen Beziehungen des Nomadenvolkes, das vor 1200 Jahren ein gewaltiges Gebiet im Norden des heutigen China beherrschte.
 
Einst residierten mächtige Herrscher im Orchon-Tal, im Herzen der Mongolei: Der berühmte Dschingis Khan gründete hier um 1220 Karakorum, die Hauptstadt des mongolischen Reiches. Doch bereits Jahrhunderte zuvor gab es dort eine Metropole: Der uighurische Khan Kutlug Bilge baute im Orchon-Tal 744 n. Chr. seine Haupt- stadt Karabalgasun. Der Herrschaftsbereich des Nomadenvolks der Uighuren erstreckte sich damals vom Baikalsee bis in die Wüsten Ostturkestans. Das Reich spielte in dieser Position eine wichtige Rolle im Seidenhandel zwischen China und den mittelasiatischen Regionen.

Eine geheimnisvolle Metropole in der Stepppe

Die Bedeutung des Reichs spiegelt sich noch heute in den Überresten der einst stark befestigten Stadtanlage von Karabalgasun wider, die ursprünglich über 35 Quadratkilometer bedeckte. Die Ruinen des Palastgeländes überragen die flache Steppenlandschaft noch immer um bis zu zwölf Meter. Leider ist dennoch nicht viel der einstigen Pracht erhalten, denn nur hundert Jahre nach ihrem Bau eroberten Kirgisen Karabalgasun – ein Feuersturm vernichtete die Hauptstadt und mit ihr das Großreich der Uighuren. 

Seit 2007 erforscht das Deutsche Archäologische Institut (DAI) gemeinsam mit den mongolischen Partnerorganisationen die Überreste der geheimnisvollen Metropole. Wie die Archäologen berichten, haben sie im Sommer 2018 in einem Innenhof des Palastbereichs einen über zwölf Meter tiefen und immer noch wasserführenden Brunnen freigelegt. Einige Schöpfgefäße, die während der Nutzungszeit in den Brunnen gefallen waren, gaben dem Forscherteam den Hinweis auf die Entstehungszeit: Auf einem der Gefäße hatte der Töpfer das Siegel von Khan Kutlug Bilge eingeritzt. Damit stammt der Brunnen aus der Bauzeit der Stadt und auch der Herr des Palastes ist erneut bestätigt.

Ein Brunnen wurde zur Zeitkapsel

In der einst verschütteten Konstruktion entdeckten die Forscher allerdings mehr als Schöpfgefäße: Eine knapp 30 Zentimeter große bronzene Glocke mit chinesischer Inschrift, ein vergoldeter Türriegel, zwei marmorne Löwenköpfe sowie schwarz lackierte Holzstangen mit floralen Dekorationen. Besonders die Glocke ist hervorragend erhalten und noch funktionstüchtig, berichten die Archäologen: “Es ist schon ein besonderes Gefühl, wenn man eine Glocke, die 1200 Jahre auf dem Grund eines Brunnens gelegen hat, zum ersten Mal wieder klingen hört,” sagt Projektleiterin Christina Franken vom DAI. 

Wie die Forscher erklären, ermöglichen die Funde Einblicke in die materielle Kultur der geheimnisvollen Uighuren. Sie verdeutlichen, dass die Kunsthandwerker ihres Herrschers viele Anregungen aus anderen Kulturen verarbeiteten. Die Architektur des Palastes erinnert an zentralasiatische Anlagen während viele Objekte hingegen den Einfluss des wichtigsten Verbündeten der Uighuren erkennen lassen: des chinesischen Reichs unter der Tang-Dynastie. 

Der Brunnen war den Forschern zufolge allerdings ein Element, das auf die unruhige Lage des Reiches der Uighuren hindeutet. Durch ihn verfügte der Palast, der gleichzeitig eine Festung war, auch in Zeiten einer Belagerung über ausreichend Wasser. Dennoch konnten die Uighuren dem Ansturm der Kirgisen im Jahr 840 nicht standhalten. Im Rahmen der Zerstörung der Stadt wurde der Brunnen mit Bauschutt und Asche verfüllt und so zu einer Zeitkapsel, die nun Einblicke in die Welt der Uighuren-Herrscher liefern konnte.

Quelle: Deutsches Archäologisches Institut

Mittwoch, 28. November 2018

Der Handel brachte den schwarzen Tod.


aus derStandard.at, 27. November 2018, 15:04

Wie der Schwarze Tod seinen Weg nach Europa fand
Aktuelle Untersuchungen zeigen, wie die katastrophale Pestepidemie des Mittelalters eingeschleppt wurde

Das mittelalterliche Europa musste mit einer ganzen Menge an Krankheiten fertig werden: Während Typhus, Ruhr, Lepra oder Pocken jedoch im Allgemeinen meist nur lokal grassierten, sorgte ein Erreger im 14. Jahrhundert für eine kontinentale Katastrophe: Yersinia pestis, jener bakterielle Erreger, der für den sogenannten Schwarzen Tode verantwortlich war, kostete zwischen 1346 und 1353 etwa einem Drittel der europäischen Bevölkerung das Leben. Woher die Pest damals letztlich kam, ist mittlerweile klar: Sie dürfte aus Asien eingeschleppt worden sein.

Auf welchen Wegen diese Krankheit jedoch unseren Kontinent errecht hat und ob sie hier Nischen fand, aus denen sie immer wieder hervor trat, oder in den folgenden Jahrhunderten mehrmals aufs Neue aus dem Osten hereingetragen worden ist, war bisher dagegen weitgehend umstritten. Ein Team um Amine Namouchi von der Universität Oslo könnte auf Basis von Genuntersuchungen auf diese Fragen nun Antwortern gefunden haben.

Verräterische DNA

Diese lieferten mehrere Pesttote des 14. Jahrhunderts aus Südfrankreich, den Niederlanden, der Toskana und Oslo in Norwegen. Die Wissenschafter analysierten die DNA von Yersinia pestis aus diesen Opfern und verglichen sie mit anderen bereits früher untersuchten Pestfällen aus der Ära sowie mit über hundert bekannten Stämmen des Bakteriums. Darüber hinaus verglichen die Forscher ihre Resultate mit zeitgenössischen Dokumenten.

Das Ergebnis zeigte schließlich, dass der Schwarze Tod vermutlich mit dem Pelzhandel aus Russland und Zentralasien nach Europa gelangt war. "Im Verlauf der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts spielten Bolgar und Nowgorod in Russland eine immer bedeutendere Rolle als Handelszentren für Pelze", berichten die Forscher. "Über die Hanse erhielt Nowgorod zu dieser Zeit Zugang zum westeuropäischen Markt. Dies führte dazu, dass große Mengen von Pelzen über die Häfen von Hamburg und Lübeck nach London verschifft wurden."

Neue Pelzhandelswege

Dies dürfte allerdings nicht der alleinige Weg der Pest nach Europa gewesen seine. Auch auf neuen Handelsrouten über Land via Sarai an der südlichen Wolga und der Krim-Hafenstadt Caffa am Schwarzen Meer gelangte der Erreger offenbar nach Europa. Diese neu etablierten Pelzhandelswege passen zumindest zeitlich gut mit dem Beginn der Pestepidemie des Mittelalters zusammen, berichten die Wissenschafter im Fachjournal "Pnas".

Die Genanalysen lieferten auch Hinweise darauf, wie sich die Pest im weiteren Verlauf ausgebreitet hat. Jene Stämme, die zunächst in Südfrankreich sowie in Oslo wüteten, forderten 1348 auch in London und Barcelona enorme Opferzahlen. Die Epidemie, die im niederländischen Bergen op Zoom einige Jahre später ihren Ausgang genommen hatte, dürfte dagegen auf eine spätere Yersinia-pestis-Variante zurückzuführen sein. (tberg,)

Abstract

Montag, 26. November 2018

Jetzt gehts los.

Angela Merkel bei ihrer Ankunft in Brüssel im November 2018
aus FAZ.NET, 26.11.2018-19:57

Veränderung der Kanzlerin:
Merkels neue Freiheit
Ob mit Macron in Frankreich, vor dem EU-Parlament oder tobenden „Wutbürgern“ in Chemnitz gegenüber – Merkel wirkt befreit. Und sie hat eine Entscheidung getroffen. Ein Kommentar. 


Es ist nicht so, als gäbe es eine neue Merkel. Eine, die seit der Ankündigung zum Rückzug plötzlich mit flammenden Reden Herzen erobert. Und doch klingt im gewohnten Merkel-Ton etwas Ungewohntes mit: Leidenschaft, Kampfgeist, sogar ein Hauch von Pathos.

Während die Partei sich von Merkel befreit, befreit Merkel sich von der Partei. Auf den Regionalkonferenzen distanzieren sich die Kandidaten Merz, Spahn und Kramp-Karrenbauer eifrig von der Kanzlerin. Während sie ihre Profile schärfen, schärft auch Merkel das ihre. „Nationalismus und Egoismus dürfen nie wieder eine Chance in Europa haben“, rief sie vergangene Woche einem begeisterten EU-Parlament zu. Und als sie von den 1,5 Millionen Flüchtlingen sprach, die Deutschland „in einer dramatischen Situation“ aufgenommen habe, da legte sie beide Hände aufs Herz: „Glauben Sie eigentlich, dass das etwas ist, was uns in die Handlungsunfähig- keit bringen kann?“ Der tosende Beifall übertönte den Protest der Rechtspopulisten im Parlament. Deren Gezeter zeige übrigens, sagte Merkel dann noch lächelnd, dass sie den Kern getroffen habe.

Im eigenen Parlament erntete Merkel viele Lacher für ihre Spitze gegen Alice Weidel, die zuvor in der General- debatte die eigene Spendenaffäre ausgebreitet hatte. Das Schöne an freiheitlichen Debatten sei, sagte Merkel wie beiläufig, während sie ihr Manuskript ordnete, „dass jeder über das spricht, was er für das Land für wichtig hält“. Was Merkel für wichtig hält, daran bestand nach ihrer Rede kein Zweifel mehr. Es ging ihr um den ganz großen historischen Kontext. Sie sagte, mit Macron in Compiègne, das sei „bewegend“ gewesen. Nun müssten wir zeigen, dass wir aus der Vergangenheit gelernt hätten.

Bild der Vergangenheit

Die Lehre aus dem Jahr 2015 sei, „dass wir uns nicht abkoppeln können vom Leid anderer“. Deutsches Interesse versteht sie so: „Das heißt immer auch, für die anderen mitzudenken!“ Wer Merkel so mit der Faust auf das Pult schlagen sah, merkte: Ihr geht es nicht um links und rechts, liberal und konservativ, sondern ganz grundlegend um richtig und falsch. Oder wie sie es ausdrückte: Entweder man gehöre zu denen, die nur an sich dächten – „das ist Nationalismus in reinster Form“. Oder man gehöre zu den wahren Patrioten, die andere miteinbezögen. „Da gibt es auch keine Kompromisse.“

So hatten die Bundestagsabgeordneten Merkel noch nie erlebt, die bis auf die AfD allesamt begeistert Beifall klatschten, als seien auch sie schon Menschen der Geschichte, die den Nachkommen bezeugen: Damals, als Millionen Flüchtlinge vor Deutschlands Toren um Sicherheit baten, da standen sie auf der richtigen Seite. Es sei das Schöne an der heutigen Zeit, sagte Merkel, „dass es wieder richtige Gegensätze gibt“. Das kleinmütige Gerede davon, was man hätte besser und anders machen können – es gehört für Merkel schon den Alltagsmühen der Vergangenheit an.

Die Kanzlerin baut an dem Bild, das sich die Geschichte von ihr machen soll. Ihre offenen Arme und das Lächeln sollen in Erinnerung bleiben. Merkel muss nicht mehr werben, versöhnen, Reue demonstrieren: Sie hat den Platz geräumt. Die CDU wird ihrer Wege gehen, und das werden andere Wege sein als unter Merkel, egal welcher der drei Kandidaten Vorsitzender wird. So kann sich die Partei einerseits erneuern, andererseits wehmütig von Merkel Abschied nehmen.

Entscheidung getroffen

Zwischen den Reden in Straßburg und Berlin hatte Merkel auch ein Rendezvous mit dem unangenehmen Teil ihres Erbes: den wütenden Bürgern von Chemnitz. Die Ressentiments schossen ihr nur so entgegen beim Bürgerdialog, und das waren bloß die Ressentiments derer, die einigermaßen beherrscht und höflich drinnen saßen. Draußen fegte der Merkel-muss-weg-Sturm durch die Straßen.
„Wir schaffen das nicht!“, „Sie haben Deutschland gespalten!“, „Wann treten Sie zurück!“ – so schallte es ihr entgegen. Stoisch erklärte die Kanzlerin immer wieder, wie sie ihren Satz „Wir schaffen das“ damals meinte: Als Ansporn in einer Zeit der Herausforderung. Ihr einziger Fehler, erklärte Merkel, habe darin bestanden, nicht schon vor 2015 den Flüchtlingen in Jordanien und im Libanon geholfen zu haben. Zwar mit freundlichem Gesicht, aber doch unerbittlich zog sie auch in diesem Fall die Linie zwischen richtig und falsch.

„Es gibt hier Menschen, die haben Sorgen, dass vielleicht zu viele Flüchtlinge hier sind. Und es gibt Menschen, die haben offene Vorurteile gegen Menschen, die einfach anders aussehen.“ Das gespaltene Land, von dem ein Chemnitzer sprach, an diesem Abend und in dem Saal wurde es greifbar. Aber Merkel hat sich damit abgefun- den. Ja, sagte sie, sie wisse, dass ihr Gesicht „für viele Menschen polarisierend wirkt“. Doch in einer Welt der Gegensätze, wie Merkel sie zeichnet, kann es nicht ein Gesicht für alle geben. Merkel hat sich entschieden. Sie konnte sich entscheiden, weil sie keine Wahlen mehr gewinnen muss. So frei war sie noch nie.


Nota. - Hat sich 'damit abgefunden'? Wolln wirs hoffen: Sie hat sich damit abgefunden, dass sie nicht ewig nur moderieren kann, sondern endlich auch kämpfen muss. Was kann man mehr wollen?
JE

 

Freitag, 23. November 2018

Vielleicht gehts jetzt erst richtig los.

aus nzz.ch, 19.11.2018

Man wird sich schon bald sehnsuchtsvoll der Zeiten erinnern, da eine deutsche Kanzlerin die führende Politikerin Europas war
Ihr zurückhaltendes Auftreten hat ihre Politik oft schwächer aussehen lassen, als sie tatsächlich war. Ein vorläufiger Rückblick auf die Ära Angela Merkel.

von Herfried Münkler

... Angela Merkel hat der Vorstellung von Politik, die in Deutschland bis dahin maskulin geprägt war, ein weibliches Gesicht verliehen. Das hat dem Land gutgetan, und es hat den Aufstieg Deutschlands zur führenden Macht innerhalb der Europäischen Union reibungsloser erfolgen lassen, als es angesichts des Unheils, das Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Europa gebracht hatte, zu erwarten gewesen wäre. Das war wesentlich die Folge des zurückhaltenden Auftretens der Kanzlerin, die in der Regel auf Ausgleich bedacht war und das Herauskehren eines deutschen Führungsanspruchs vermied.

Das hat ihre Politik oft schwächer aussehen lassen, als sie tatsächlich war. Dass Merkel auf den Gestus des Durchsetzungswillens verzichtete, heisst nicht, dass sie sich nicht durchgesetzt hätte. Sie hat es nur ohne demonstratives Gehabe getan, was den Widerstand dagegen von Anfang an begrenzt hat. Deutsche Führung in Gestalt europäischer Kompromissbildung – das war nichts grundsätzlich anderes als unter Merkels Amtsvor- gängern, aber doch geschmeidiger und zugleich die europäische Politik sehr viel stärker bestimmend. 

Zusammenhalt der Union

Vor allem zwei Entwicklungen sind für die veränderte Position Deutschlands in der EU ausschlaggebend gewesen und haben die europäische Agenda geprägt: das Anwachsen der Zentrifugalkräfte innerhalb der Union, was eine Folge der grösseren Mitgliederzahl und ihrer stärker divergierenden Interessen war, und der relative Bedeutungsverlust Frankreichs infolge des Aufstiegs des Front national, was den Spielraum der Präsidenten Sarkozy und Hollande stark einschränkte und sich erst unter Emmanuel Macron wieder leicht verändert hat.

Dass Merkel auf den Gestus des Durchsetzungswillens verzichtete, heisst nicht, dass sie sich nicht durchgesetzt hätte.

Die Mühe des Zusammenhaltens der Union wurde mehr und mehr zu einer deutschen Aufgabe. Dabei ging (und geht) es um die wirtschaftliche Kluft zwischen Nord und Süd und die sehr unterschiedlichen fiskalischen Vor- stellungen in beiden Räumen und zugleich um die divergenten politischen Kulturen in West- und Mitteleuropa in allem, was die politische Souveränität und die nationale Identität anbetrifft. Die Divergenz der Interessen, die es immer gegeben hat, wurde von einem Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Gemeinsamen überlagert, der den Zusammenhalt der Union zunehmend gefährdete.
 
Zum vorläufigen Rückblick auf die Ära Merkel gehört freilich auch, dass die Kanzlerin durch europa- und weltpolitische Herausforderungen so beschäftigt war, dass die innerdeutsche Politik ins zweite Glied rückte, ganz zu schweigen von der Führung der CDU, auf der Merkels Position letztlich beruhte. Das hat sich auf die Dauer negativ bemerkbar gemacht – nicht nur, weil die Zeit und die Kraft für die innen- und parteipolitischen Fragen geringer wurden, sondern auch, weil die hier anstehenden Entscheidungen durch europapolitische Erfordernisse vorgegeben waren, die dann auf der deutschen Ebene und in der Partei umgesetzt werden mussten. 

Dabei war natürlich ausgeschlossen, dass man dort zu grundsätzlich anderen Ergebnissen kam, als das auf der europäischen Ebene der Fall war. Die unter Angela Merkel erlangte Position Deutschlands innerhalb der EU erwuchs nicht zuletzt daraus, dass die deutsche Politik aus einem Guss war, dass alles, was in Berlin galt, auch in Brüssel zur Geltung gebracht wurde – und umgekehrt. 

«Alternativlosigkeit»

Die Nachordnung der nationalen wie der parteipolitischen Belange zeigte sich bei der «Rettung» des überschuldeten Griechenland, bei der Akzeptanz der Niedrigzinspolitik der EZB, die vor allem den Südstaaten der EU zugutekam, und schliesslich beim Offenhalten der Grenzen auf dem Höhepunkt der Migrationskrise.

Die Mühe des Zusammenhaltens der Union wurde mehr und mehr zu einer deutschen Aufgabe.

In allen drei Fällen dürfte Angela Merkel klar gewesen sein, dass sie damit einen Teil ihrer Wählerschaft verprellte. Aber sie vertraute auf die Bindekraft des Europa-Projekts und die Nachvollziehbarkeit der von ihr getroffenen Entscheidungen: Griechenland-Rettung, um die weiche Südflanke der EU nicht in wirtschaftlichem wie politischem Chaos versinken zu lassen; Niedrigzinspolitik, um das Ausscheiden einer Reihe von Ländern aus der Euro-Zone zu verhindern und diese nicht auf das Einflussgebiet der einstigen D-Mark schrumpfen zu lassen; Aufnahme der Flüchtlinge der Balkanroute, um den Zusammenbruch der Länder zu verhindern, in denen sich bei einer Grenzschliessung die Migranten gestaut hätten, womit zugleich verhindert wurde, dass es dort zu einem Wiederaufflammen der jugoslawischen Zerfallskriege kam.

Bei all diesen Entscheidungen hat Angela Merkel den Deutschen ein hohes Mass an politischer Einsicht und kühler Rationalität abverlangt, und diese Zumutung hat sie in die Formel von der «Alternativlosigkeit» verpackt. Damit sollte nicht gesagt sein, dass es prinzipiell keine Alternativen gab, denn die lagen ja auf der Hand. «Alternativlos» war für Merkel die Kurzfassung dafür, dass sie sämtliche Alternativen geprüft hatte und bei Abwägung von Kosten und Nutzen zu dem Ergebnis gekommen war, dass es keine bessere Entscheidung als die von ihr favorisierte gab.
 
Diese Art zu denken, war ein Erbe ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung: Unter Abwägung aller denkbaren Aspekte und bei Wahrung der europapolitischen Präferenzen Deutschlands, die in Anbetracht der deutschen Geschichte nicht zur Disposition gestellt werden durften, ging es um die Optimierung von Massnahmen und Entscheidungen, bis alle denkbaren Alternativen deutlich schlechter waren. Das war und ist der Kern des Merkelschen Politikverständnisses. 

Debatten gemieden

Neben der Nachordnung nationaler und parteipolitischer Interessen wurde dies zur zweiten Achillesferse der Politik Angela Merkels: dass sie kurzerhand unterstellte, die grosse Mehrheit der Deutschen werde vernünftige Entscheidungen bei gründlichem Nachdenken schon nachvollziehen und zu dem Ergebnis kommen, dass es dazu keine belastbare Alternative gebe. Sonderlich geworben dafür hat Merkel nicht. An grossen und grundsätzlichen Debatten lag ihr nicht, und sie hat diese gemieden, wo immer das möglich war.

«Alternativlos» war für Merkel die Kurzfassung dafür, dass sie sämtliche Alternativen geprüft hatte, und dass es keine bessere Entscheidung als die von ihr favorisierte gab.

Diese Einstellung wurde dadurch befördert, dass sie kein grosser Debattenredner war, wie etwa Helmut Schmidt, niemand, der die parlamentarische Auseinandersetzung suchte, um in unmittelbarer Konfrontation mit dem politischen Gegner für die Richtigkeit seiner Position zu werben. Das ist die andere Seite ihres auf Kompromiss und lange Verhandlungen angelegten Politikstils: dass sie die konfrontative Auseinandersetzung um die beste Entscheidung mied. ...

Nicht die Kraft der Rhetorik, die sich gegen andere Sichtweisen und Vorschläge durchsetzt, sondern das Vertrauen in Fach- und Sachkompetenz galt hier, jedenfalls in der posttotalitären Phase unter Honecker, als Königsweg zur richtigen Entscheidung. Nun war die DDR zwar gescheitert, aber nach Auffassung der dort gross Gewordenen nicht an einem Zuviel an Fach- und Sachkompetenz, sondern an dem notorischen Einwirken ideologischer Vorgaben auf die Politik. Expertise ohne Ideologie, aber auch ohne grossen Streit – das war der Königsweg guter Politik. Dem ist Merkel gefolgt.

Der Zeitgeist änderte sich

Lange Zeit passte diese Sicht von Politik gut zum zunehmenden Einfluss von Sachverständigenräten und Expertengremien. Und dem wiederum kam zugute, dass in dem mehrstufigen Verhandlungs- und Kompromiss- system der EU eine konfrontativ geführte Debatte nicht geeignet war, alle Akteure unter ein Dach zu bringen. Das Merkelsche Politikverständnis und der zugehörige Politikstil waren für Brüssel wie geschaffen. Zeitweilig galt Angela Merkel als die weltweit einflussreichste Politikerin.

Aber dann änderte sich der Zeitgeist, und es entstand ein neues Bedürfnis, politische Fragen in konfrontativ geführten Debatten zu klären. Die grossen globalen Herausforderungen, wie der Klimawandel, verloren an Gewicht, und das Kurzfristige, Kleinräumige und Emotionale drängte nach vorn. Damit begann auch Merkels Stern zu sinken. Noch ist er das Gegenteil einer maskulinisierten Politik, wie sie von Trump, Erdogan und anderen betrieben wird. Wir werden uns angesichts der Turbulenzen, die auf Europa zukommen, schon bald sehnsuchtsvoll der Zeiten erinnern, da Angela Merkel die führende Politikerin Europas war.

Herfried Münkler ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin


Nota. -  Der Nachruf kommt ein bisschen früh. "Noch" ist sie Kanzlerin? Es könnte wohl sein, dass sie es jetzt erst richtig wird. Den Parteivorsitz, der sie spätestens seit der letzten Wahl viel mehr behindert als gestärkt hat, überlässt sie einer andern; die kann jetzt zeigen, ob sie auch einmal fürs Kanzleramt in Frage kommt. Sie selber kann nun endlich die Debatte da führen, wo sie in Deutschland zur Zeit hingehört: auf überparteilichem Niveau. Es geht um die gesellschaftspolitische Herausforderung durch die Digitalisierung und um ihre weltpolitischen Folgen: die Globalisierung, die zu einer Verschiebung der Machtzentren führt, die Stellung Europas in der Welt bedroht und Deutschlands außenpolitische Aktivierung erfordert. 

Dass sie sie in diese Richtung nun endlich zu führen gedenkt, hat sie seit der Ankündigung ihres Rückzugs von der Parteispitze gezeigt. Das wird nicht schon immer ihr Plan gewesen sein, aber Griechenland und die Flücht- lingskrise haben sie aufs richtige Gleis gesetzt. Die Stellung als CDU-Vorsitzende war nicht ideal, um in Deutschland die Meinungsführerschaft zu behalten: Außerhalb der Unionsparteien hatte sie seit 2015 mehr Unterstützung als innerhalb. Zum Volkstribun eignet sie sich nicht, doch die Preceptora Germaniae stünde ihr schon zu Gesicht. Wie sollte sie aber richtungweisend zur Nation sprechen, solange es hinter ihrem Rücken zischte und spuckte?

Die Sorge ist sie nun los. Was aus der CDU wird, werden wir sehen. Wenn sie sich einer Konzentration der Mitte in den Weg stellt, wird sie dem Weg der Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit folgen. Um zu ihrem Schrittmacher zu werden, braucht sie einen neuen Anlauf.
JE

Donnerstag, 22. November 2018

Von wegen ausgemerkelt.

Angela Merkel bei der Haushaltsdebatte im Bundestag.
aus Tagesspiegel.de, 22. 11. 2018

Casdorffs Agenda
Von wegen ausgemerkelt
Die AfD unter Normalmaß gestutzt: Im Bundestag läuft die Bundeskanzlerin gegen Alice Weidel zur Höchstform auf. So kann ihr Abschied gelingen. Ein Kommentar.

Wenn sie doch nur vorher so gewesen wäre, so geredet hätte – niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Angela Merkel ihren Zenit überschritten haben könnte. Wie die Kanzlerin im Bundestag in ihrer Regierungs- erklärung gegen Nationalismus zu Felde gezogen ist! Wie sie die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel unter Normalmaß gestutzt hat!

Nun geht Merkel ins Offene, wie es ihr Physikerfreund Michael Schindhelm vor langem schon geraten hat. Aber vielleicht muss es so sein: auf dem Weg aus der großen Politik zu großer Form aufzulaufen.
 
So kann der Abschied gelingen. Klar, prägnant und in einer Weise merkelsch, dass diese Art womöglich von vielen mehr als gedacht vermisst werden wird.
 
 
 

Mittwoch, 21. November 2018

Die befreite Kanzlerin.

Bundestag
aus süddeutsche.de,

Die befreite Kanzlerin
Deutschland erlebt eine verwandelte Angela Merkel: Souverän legt sie dar, was die wirklich wichtigen Aufgaben sind - und schickt Alice Weidel in den Keller der politischen Bedeutungslosigkeit.

von Cerstin Gammelin

 Der Abschiedsschmerz wird noch groß sein. Jedenfalls dann, wenn die Kanzlerin in diesem Stil weitermacht. An diesem Mittwoch sah man im Bundestag eine gelöste, emotional aufgeladene und zugleich nüchtern argumentierende Angela Merkel. Die rechte Hand zur Faust geballt, begründete Merkel ihre politischen Überzeugungen zur Digitalisierung und zum Multilateralismus so zwingend, wie Mathematiker eine komplizierte Gleichung mit zehn Unbekannten lösen. Merkel reihte deutsche Interessen, internationale Probleme und technologische Entwicklungen so sauber aneinander, dass ihr Schlusssatz klang wie: "was zu beweisen war". Es liegt im deutschen Interesse, die Interessen der anderen immer mitzudenken, sagte Merkel am Ende. Klarer kann ein Bekenntnis zum Multilateralismus nicht ausfallen.


Das Bekenntnis ist zugleich ihr Vermächtnis. Auch Angela Merkel wird klar sein, dass ihr Auftritt am Mittwoch ihr letzter als Kanzlerin in einer Generaldebatte zur Politik der Bundesregierung gewesen sein könnte. In zwei Wochen tritt Merkel als CDU-Vorsitzende ab, die CDU wird eine neue Führung bekommen, und es bleibt abzuwarten, ob ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger dann von Merkels Angebot Gebrauch machen wird, bis zum Ende der Legislaturperiode als Kanzlerin zu regieren. Sollte es nicht so sein, dann ist es Merkel in dieser Debatte jedenfalls gelungen, die wirklich wichtigen Aufgaben aufzuzeigen, als da wären: Digitalisierung, Migration und Europa.

In den vergangenen Monaten hatte man Angela Merkel als eine von Sorgen gezeichnete Politikerin erlebt. Seit sie das Ende ihrer politischen Karriere in Aussicht gestellt und sich selbst damit eine große persönliche Freiheit geschaffen hat, erlebt das Land eine verwandelte Kanzlerin. Fast hat man den Eindruck, als gäbe Merkel jetzt auch mal gerne den Schröder, den früheren SPD-Kanzler, so wie sie lässig die politische Konkurrenz abtropfen lässt. So schickte Merkel die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel in den Keller der politischen Bedeutungs- losigkeit. Weidel hatte zuvor ausführlich über ihre Spendenaffäre gesprochen und Merkel vorgeworfen, das Land zu spalten. Die Kanzlerin antwortete souverän: "Das Schöne an freiheitlichen Debatten ist, dass jeder über das spricht, was er für das Land für wichtig hält."


Vor zwei Jahren bat der scheidende US-Präsident Barack Obama die damals noch mächtige Kanzlerin, im Amt weiterzumachen, um die freiheitlichen Werte der westlichen Welt zu verteidigen. Lange Zeit hatte man dann den Eindruck, als würde Merkel an dieser Aufgabe scheitern. Inzwischen sieht es so aus, als habe sie sich erst die persönliche Freiheit schaffen müssen, um sich um die Freiheit der anderen kümmern zu können. Je mehr sie das in souveräner Manier und mit der kühlen Argumentation einer Naturwissenschaftlerin tut, desto mehr wird man sie vermissen.

Sonntag, 18. November 2018

Das finsterste Jahr der Geschichte.

aus derStandard.at, 17. November 2018,                                                  Jan Brueghel Triumph des Todes 1597

War 536 das schlimmste Jahr der Geschichte?
Eine Naturkatastrophe im Frühmittelalter hatte für ein Jahrzehnt dramatische Folgen. Forscher fanden nun womöglich den "Schuldigen"

Für das schrecklichste Jahr unserer Zeitrechnung gibt es etliche Kandidaten: 1914 und 1939, die Jahre am Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs, kommen ebenso infrage wie das Jahr 1349, als die Pest halb Europa auslöschte, oder 1918, als die Spanische Grippe weltweit bis zu 100 Millionen dahinraffte.

Für den US-amerikanischen Mittelalterhistoriker und Archäologen Michael McCormick von der Harvard-Universität ist es ein anderes Jahr, das seiner Meinung nach das schlimmste für die Menschheit in den vergangenen zwei Jahrtausenden war: nämlich 536. Als Mediävist mag McCormick eine besondere Vorliebe für das Mittelalter haben. Aber er liefert in der Online-Ausgabe von "Science" gute Gründe für seine Wahl: Dieses Jahr habe den Auftakt für das dunkelste und kälteste Jahrzehnt zumindest der vergangenen 2.300 Jahre markiert – jedenfalls in weiten Teilen der Nordhalbkugel inklusive China.

Schnee im Sommer

Die Geschichtsschreiber Prokopios, Michael der Syrer oder Flavius Cassiodor berichten für diese Zeit einhellig von niedrigen Temperaturen mit Schnee im Sommer sowie von dramatischen Missernten. In den Worten von Prokopios: "Die Sonne, ohne Strahlkraft, leuchtete das ganze Jahr hindurch nur wie der Mond und machte den Eindruck, als ob sie fast ganz verfinstert sei. Seitdem aber das Zeichen zu sehen war, hörte weder Krieg noch Seuche noch sonst ein Übel auf, das den Menschen den Tod bringt."

Damit war beispielsweise gemeint, dass sich ab dem Jahr 541 die Beulenpest vom römischen Hafen von Pelusium in Ägypten ausbreitete, vermutlich knapp die Hälfte der Bevölkerung des Oströmischen Reiches auslöschte und dessen Zusammenbruch beschleunigte.

"Wetteranomalie von 535/536"

In der Fachliteratur ist der Beginn dieser Katastrophe als die "Wetteranomalie von 535/536" bekannt. Wie Klimahistoriker in den 1990er-Jahren anhand von Baumringen rekonstruierten, fielen die Temperaturen im Sommer 536 und in den Jahren danach durchschnittlich um rund 2,5 Grad Celsius.

Was die anhaltende Verfinsterung des Himmels und die nachfolgende Kälteperiode auslöste, ist indes unklar: Einmal wurden Asteroideneinschläge in Australien dafür verantwortlich gemacht, dann wieder Vulkanausbrüche. Unklar blieb jedenfalls, wo die verheerenden Eruptionen stattgefunden haben könnten.

Suche nach dem "Verursacher"

Nun aber könnte ein Team um McCormick und dem Glaziologen Paul Mayewski (University of Maine) den "Schuldigen" gefunden haben. Bei einem Workshop in Harvard, der diese Woche stattfand, berichteten die Forscher, dass vermutlich ein katastrophaler Vulkanausbruch in Island Anfang 536 Asche großräumig über die nördliche Hemisphäre verteilt haben dürfte. Zwei weitere massive Ausbrüche folgten dann anscheinend im Jahr 540 und 547.

Erste Hinweise hatten bereits polare Eiskerne aus Grönland und der Antarktis geliefert. Wie Michael Sigl (Uni Bern) und andere seiner Kollegen zeigten, wiesen Spuren von Schwefel und anderen Substanzen im Eis in Abgleich mit den Baumringen darauf hin, dass fast jeder ungewöhnlich kalte Sommer der letzten 2.500 Jahre von einem Vulkanausbruch begleitet wurde.

72 Meter langer Eiskern vom Gletscher

Mayewski und sein interdisziplinäres Tam suchten für ihre neue Untersuchung am Gletscher des 4453 Meter hohen Colle Gnifetti in den Schweizer Alpen nach diesen Eruptionsspuren. In einem 72 Meter langen Eiskern, der dort 2013 zutage gefördert wurde, finden sich wertvolle klimatologische Informationen über die letzten gut 2.000 Jahre – egal, ob es sich nun um die Spuren von Vulkaneruptionen, Staubstürmen aus der Sahara oder menschliche Aktivitäten im Zentrum Europas handelt.

Eine neue, extrem hochauflösende Methode ermöglichte es dem Team zum einen, zwei mikroskopische Partikel aus vulkanischem Glas zu identifizieren, die aus dem Jahr 536 stammen. Deren chemischer Fingerabdruck legte zum anderen nahe, dass die Teilchen vermutlich aus einem isländischen Vulkan nach Mitteleuropa gelangt waren, wie die Wissenschafter in Harvard berichteten.

Um das mit letzter Sicherheit sagen zu können, seien aber noch weitere Vergleichsuntersuchungen nötig.

Bestätigung der Methode

Wie gut diese Methode mittlerweile funktioniert, zeigt eine neue Studie von Forschern um Christopher Loveluck (Uni Nottingham) im Fachblatt "Antiquity": Sie fanden heraus, dass sich etwa ab dem Jahr 640 besonders viel Bleipartikel im Eis des Colle Gnifetti fanden. Das wiederum weist darauf hin, dass viel Silber aus Bleierz geschmolzen wurde.

Die Interpretationen der Spuren aus dem Ewigen Eis gehen aber noch weiter: Die Forscher vermuten erstens, dass die Spuren des Silberbergbaus aus Melle in Frankreich stammen und werten sie zweitens als Beleg dafür, dass sich in dieser Zeit die Geldwirtschaft von Gold auf Silber umstellte. Ziemlich genau ein Jahrhundert nach dem vielleicht schlimmsten Jahr der Geschichte.

Quellen Bericht in "Science": Why 536 was ‘the worst year to be alive’
Antiquity: "Alpine ice-core evidence for the transformation of the European monetary system, AD 640–670"


Nota. - Das wäre ein donnernder Abschluss der sogenannten Völkerwanderung, den die Historiker bisher mit dem Einfall der Langobaarden in Norditalien um das Jahr 580 ansetzten. 
JE 

Freitag, 16. November 2018

Die technologische Voraussetzung für den Erfolg der Wikinger.

Wikinger-Festival auf den Shetland-Inseln
aus Spiegel.de, 6. 11. 2018

Was die Wikinger zu gefürchteten Seefahrern machte 
Um 700 nach Christus begann die Hochzeit der Wikinger. Möglich war das wahrscheinlich nur durch die Großproduktion eines klebrigen Stoffes.

Ohne ihre Schiffe wären die Wikinger wohl nicht weit gekommen. Im achten Jahrhundert war die Zeit, in der die nordischen Völker begannen, weite Teile Europas zu plündern und später auch den Atlantik zu überqueren. Möglich war das wahrscheinlich nur aufgrund einer technologischen Innovation: Durch die Produktion von Teer waren die Wikinger in der Lage, ganze Schiffsflotten abzudichten und so vor Wasser zu schützen.

In Schweden hat ein Forscher nun trichterförmige Gruben untersucht, die genutzt wurden, um diesen Teer zu produzieren. Darin wurde Kiefernholz mit Torf bedeckt und unter Luftabschluss angezündet. So entstand Holzteer. Allerdings geschah das über die Wikingerzeit in unterschiedlich großem Ausmaß, berichtet Andreas Hennius von der Uppsala University im Fachmagazin Antiquity. 

300 Liter Teer in einem Produktionszyklus

Hennius verglich die Teeröfen an unterschiedlich alten Grabungsstätten:
  • Im Südosten von Schweden hatten Forscher Anfang der Zweitausender Teeröfen aus den Jahren 100 bis 400 nach Christus entdeckt. Sie waren recht klein und in Siedlungen untergebracht, berichtet der Archäologe.
  • 2005 fanden Forscher dann weiter nördlich größere Teeröfen, die allerdings aus der Zeit zwischen 680 und 900 stammen. Sie befanden sich in der Regel außerhalb der Siedlungen in der Nähe von Kiefernwäldern, sodass Holz direkt verfügbar war.
Forscher waren zunächst davon ausgegangen, dass sie zur Produktion von Holzkohle genutzt wurden. Doch Hennius ist sich sicher, dass hier Teer entstand - und zwar in größeren Mengen. Bis zu 300 Liter von dem zähflüssigen Dichtmittel konnten in den großen Gruben in einem Produktionszyklus hergestellt werden.

Die Massenproduktion würde auch zeitlich passen. Denn mit dem Ende des siebten Jahrhunderts begann die Hochzeit der Wikinger. Zwar kann die Teerproduktion allein ihre Ausbreitung nicht erklären, sie leistete aber wahrscheinlich einen wichtigen Beitrag.

Im 11. Jahrhundert Ausdehnung bis nach Amerika 

Bei den Öfen habe es sich um Industriestätten gehandelt, die ausschließlich der Massenproduktion von Teer dienten, glaubt Hennius. Das habe es den Wikingern ermöglicht, mit ihren Langschiffen auf Plünderfahrt zu gehen. Zudem könne der Teer dazu gedient haben, Segel zu imprägnieren und mit den Waren zu handeln.

"Die zwischenzeitliche Größe der Wikingerflotte legt nahe, dass es eine große, beständige Nachfrage nach dem Produkt gab", schreibt der Forscher. In einigen Quellen sei die Rede von Hunderten Schiffen. Die Konstruktion von Wikingerlangbooten ist inzwischen archäologisch gut dokumentiert - auch die Nutzung von Teer war bekannt.

Bis zum 11. Jahrhundert beherrschten die Wikinger weite Teile Großbritanniens und hatten sich in Island, Grönland und Amerika niedergelassen. Von dort aus überfielen sie unter anderem spanische Häfen. Erst mit der Christianisierung um 1000 nach Christus endete allmählich die große Zeit der Wikinger. Sie wurden zunehmend sesshaft.
jme

Samstag, 10. November 2018

Ist die Vertreibung der Hyksos nur eine Legende?

2: Spätbronzezeitlicher Krug während der Ausgrabung
aus Die Presse, Wien,                                      Spätbronzezeitlicher Krug während der Ausgrabung
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Neue Befunde bringen der Archäologie neue Rätsel
Laut ihrer Geschichtsschreibung haben die Ägypter die Fremdherrschaft in ihrem Land mit Gewalt beendet. Doch ein Archäologe der Universität Wien schließt nun aus 14C-Daten, dass das ganz anders war.

Rund 40 Kilometer südwestlich von Jerusalem liegt Tel Lachisch, einer der bedeutendsten bronze- und eisenzeitlichen Fundorte des heutigen Israel. Dort findet nach über hundert Jahren wieder eine österreichisch-israelische Grabung statt, geleitet von Felix Höflmayer von der Uni Wien und Katharina Streit von der Universität Jerusalem.

„Wir sind sehr froh, dass wir gerade hier graben dürfen“, erklärt Höflmayer: „Schließlich war Lachisch eine der wichtigsten Städte der Bronze- und Eisenzeit, und gerade die Siedlungsschichten der späten Mittel- und frühen Bronzezeit, also der Zeit von rund 1600 bis 1500 v. Chr., wurden hier noch kaum erforscht. Uns hat genau diese Zeit besonders interessiert, da es damals zu größeren politischen Umwälzungen gekommen ist und diese Epoche als Grundlage für die folgende sogenannte erste Globalisierung gilt.“ Ägypten wurde rund 100 Jahre lang (von rund 1650 bis 1550 v. Chr.) von den Hyksos regiert, deren Namen darauf schließen lassen, dass sie aus dem westsemitischen Sprachraum stammten, wahrscheinlich Kanaaniter aus Palästina waren.

Zerstörungen waren früher

Der erste Hyksos-König soll Salitis gewesen sein, den die altägyptische Chronologie zur 15. Dynastie zählte. Hyksos heißt auf Altägyptisch „Herrscher der Fremdländer“: Die Ägypter sollen sich um 1550 v. Chr., zur Zeit der 17. Dynastie, dieser Fremdherrschaft mit Gewalt entledigt haben; darauf deuten auch die vielen Zerstörungs- horizonte in dieser Gegend. „Bisher ist man davon ausgegangen, dass die vielen Zerstörungen auf die Vertrei- bung der Hyksos durch die Ägypter zurückzuführen sind“, erläutert Höflmayer: „Das würde auch auf der Hand liegen, hat man doch auch schriftliche Quellen, die darauf hindeuten.“

Die große Überraschung erbrachte jedoch die Datierung mit der 14C-Methode (Radiokohlenstoffdatierung), die auf dem Zerfall des Kohlenstoff-Isotops 14C beruht und eine recht genaue zeitliche Einordnung ermöglicht. „Nach diesen Befunden“, erklärt Höflmayer, der Archäologie und Ägyptologie studiert hat, „erfolgten die Zerstörungsereignisse viel früher, bis zu 100 Jahre früher, und sie zogen sich bis zu einem halben Jahrhundert hin. Das bedeutet, dass man diese Ereignisse nicht gleichsetzen kann mit der Vertreibung der Hyksos durch die Ägypter. Und das heißt natürlich auch, dass man die Geschichte dieser Zeit neu schreiben, sie neu und anders mit der Geschichte der Ägypter verlinken muss.“ Mit diesem unorthodoxen Befund hat sich Höflmayer allerdings nicht nur Freunde gemacht. Sein ehemaliger Doktorvater, der Ägyptologe Manfred Bietak, der sich lange Jahre mit der Erforschung der Hyksos in Ägypten beschäftigt hat, lehnt die neue Datierung vehement ab. Denn damit tut sich noch eine Frage auf: Haben die Ägypter die Hyksos überhaupt wirklich vertrieben, wie sie selbst stolz behauptet haben? Oder haben sie sich die neuerliche Herrschaft in der Levante einfach sichern können, weil sie in ein Machtvakuum vorstoßen konnten?

Höflmayer meint, man müsse die schriftlichen Quellen eben kritischer hinterfragen. „Lang war man darauf angewiesen, sich schriftlicher Quellen zu bedienen oder anhand von Funden Datierungen vorzunehmen. Da kam es letztlich immer auf die Interpretation an. Heute kann man auf die 14C-Methode zurückgreifen, mit der eine genauere Datierung möglich ist.“

Freitag, 9. November 2018

Verschlechtbessert.

 
Heut jährt sich so manches Ereignis. Eines jeden wird gedacht werden. Alle haben ihren guten oder schlechten Na- men. Nur das uns Deutschen peinlichste nicht. Reichskristallnacht war eine höhnische Verniedlichung, und die sie erlebt hatten, wussten das. So blieb das Wort in Gebrauch, doch die nachwachsenden Generationen verstanden es so, als sei damals eigentlich nur Glas zu Bruch gegangen. Die vielen Todesopfer gerieten in Vergessenheit.

Daher die neue Sprachregelung Reichspogromnacht. Aber die macht alles schlimmer. Das Wort Pogrom haben wir aus Russland, so wie die Russen das Wort lager von uns haben. Es gehörte zu den abgefeimten Herrschaftsmitteln der Zaren: Staute sich irgendwo zu starker Unmut auf, sandte die Ochrana ihre Lockspitzel aus, die gegen Juden hetzten und auch selber tätlich wurden. Da entlud sich der Volkszorn gegen die Ghettos, die Blutlust des Pöbels war befrie- digt und Ruhe kehrte ein im Reich des Selbstherrschers aller Reußen.

Denn der Antisemitismus war in Osteuropa endemisch, und nicht immer brauchte es Provokateure des Zaren, um ein Pogrom auszulösen.

Ganz anders aber die antijüdische Gewaltorgie vom 9. November 1938. Sie war eine geplante und organisierte Ver- anstaltung der SA. Auffällig war gerade - und alle Zeugnisse stimmen darin überein -, dass die angeblich empörte Volksseele sich nicht daran beteiligte, wie die Nationalsozialisten erwartet hatten. Die Menschen standen dabei und sahen scheigend zu.

In Deutschland war der Antisemitismus nämlich nicht endemisch, in Deutschland gab es keinen alteingewurzelten Judenhass, und die wiederholten Versuche, aus rassistischem Ressentiment politisches Kapital zu schlagen, sind im Kaiserreich immer wieder misslungen. Der deutsch-israelisch-amerikanische Historiker George Mosse sagte einst, wenn zur vorigen Jahrhundertwende jemand prophezeit hätte, dass im Verlaufe des neuen Jahrhunderts in Europa sechs Millionen Juden umgebracht würden, hätte jeder Gebildete gesagt: "Den Franzosen ist alles zuzutrauen." An Deutschland hätte keiner gedacht.

Bevor ich Beifall oder Pfiffe von der jeweils falschen Seite beziehe, sei dies gesagt: Das macht die Sache nur noch schlimmer. Böse Leidenschaften werden dadurch nicht besser, dass sie Leidenschaften sind. Doch wo Vernunft ohnehin nie recht heimisch ist, kann sie jene nicht zügeln. Das mildert die Dinge nicht, macht sie aber begreiflicher.


Ewig unbegreiflich wird bleiben, dass das im Land der Dichter und Denker geschah, das sich seither schämt, so genannt zu werden.









Dienstag, 6. November 2018

Die hat noch was vor.


In der Union gebe stets der Parteivorsitzende den Ton an, der Kanzler spiele nur die zweite Geige, las ich in einem deutschen Qualitätsblatt. Als ob die das schon ausprobiert hätten! Als Erhard Kanzler wurde und Adenauer Partei- vorsitzender blieb, konnte es nicht anders sein. Das lag aber erstens an den Personen und zweitens an der weltpoliti- schen Lage. Nach außen war die Bundesrepublik ein Zwerg, sie lebte nur nach innen, es ging nur darum, wer dort der starke Mann war; und das war nicht Erhard. 

Heute ist das umgekehrt. Weltpolitisch ist Deutschland jetzt der Anchorman des Westens, seit es Amerika nicht mehr sein mag. Und war die deutsche Kanzlerin die Anchorwoman. Die Innenpolitik war ihr stattdessen, o ja, ein Klotz am Bein. Als Kanzlerin einer Koalition steht sie fast ein bisschen über den Parteien, und dass sie neben kanzlern nun nicht mehr parteivorsitzen muss, verschafft ihr neue Handlungsfreiheit.

Ich könnte mir vorstellen, dass die uns noch nicht zum letzten Mal überrascht hat.


PS. An ihrem Denkmal bauen können die Hinterbliebenen nun unbefangener als zuvor. Und das bedeutet: heraus- heben, was ihr politisches Vermächtnis ist, das auch nach 2021 fortbesteht. Das wird ein ganz eigner Beitrag zur Programmdebatte.



Montag, 5. November 2018

Lebhafter Levantehandel in der Bronzezeit.

aus derStandard.at, 5. November 2018                                            Schale der frühdynastischen Zeit (um 2800 vor unserer Zeitrechnung)

6.000 Jahre alte Metallgefäße belegen Handel zwischen Ägypten und Anatolien
Ungewöhnliche Zusammensetzung von Kupferobjekten weist auf Fernhandelsrouten vor Beginn der Bronzezeit hin

Historische Museumsobjekte besitzen nicht nur Schauwert für ein interessiertes Publikum, in solchen Funden stecken noch immer zahlreiche Informationen, die bei frühere Untersuchungen übersehen wurden oder noch gar nicht gesammelt werden konnten. Einem Team aus tschechischen und deutschen Wissenschaftern ist es nun gelungen, aufgrund aus Metallobjekten aus der Sammlung des Ägyptischen Museums der Universität Leipzig auf weitreichende Handelsbeziehungen des Alten Ägyptens bis nach Anatolien zu schließen. Die nun im "Journal of Archaeological Science" veröffentlichten Erkenntnisse weisen auf einen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch hin, der vermutlich schon seit dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bestand.

Herkunft, Verarbeitung und Zusammensetzung

Die Untersuchungen umfassten etwa 20 Fundstücke, darunter vor allem Kupfergefäße und -werkzeuge. Die Kernzentren des Kupferabbaus befanden sich auf der Sinai-Halbinsel und in der ägyptischen Ostwüste. Der früheste Hinweis für Erzabbau in diesen Regionen findet sich weit vor 3000 vor unserer Zeitrechnung. Bei den Analyse der Objekten mit archäometallurgischen Methoden war es den Wissenschaftern um Martin Odler von der Karls-Universität in Prag möglich, ihre Herkunft und Verarbeitung weitgehend zu bestimmen. Trotz stark fortgeschrittener Korrosion an einigen der Objekte konnte zusätzlich die chemische Zusammensetzung an den meisten Fundstücken festgestellt werden.

Seit etwa 3500 vor unserer Zeitrechnung werden Objekten aus Kupfer, Arsen und andere Fremdstoffe beigemischt und so ein Arsenkupfer mit verbesserten Materialeigenschaften bewusst hergestellt. Bei einem Gefäß aus einem Grab der Zeit um 2800 vor unserer Zeit in Abusir (15 Kilometer südlich von Kairo) ließ sich allerdings eine Besonderheit feststellen: Die Zusammensetzung des Gefäßes, das aus beträchtlichen Mengen an Arsen und Nickel bestand, ergab Parallelen zu Kupfererzen und anderen kupfernen Objekten aus der Zeit des Chalkolithikums und der Frühbronzezeit in Anatolien.

Frühe Beziehungen zu Vorderasien

"Das ist der erste Beweis für eine mögliche, wenn auch indirekte Verbindung zwischen dem frühbronzezeitlichen Anatolien und dem frühdynastischen Ägypten", berichtet Odler. Er und sein Kollege Jiří Kmošek von der Pardubice Universität gehen davon aus, dass das Aufkommen von Kupferobjekten mit Spuren von Arsen und Nickel in Anatolien, der Levante und in Ägypten der Beleg für die Existenz einer Handels- und Austauschroute zwischen diesen Orten im 4. und 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung war. Diese Routen waren vermutlich nur ein geringer, jedoch trotzdem wichtiger Teil des Handels und damit auch des kulturellen Austauschs im östlichen Mittelmeer und nach Vorderasien. (red, 5.11.2018)  

Abstract
Journal of Archaeological Science: "Invisible connections. Early Dynastic and Old Kingdom Egyptian metalwork in the Egyptian Museum of Leipzig University."



Nota. - Man muss sich das östliche Mittelmeer viel unmittelbarer als den Ursprung unserer Zivilisation vorstellen, als wir es gewöhnt sind.
JE