aus nzz.ch, 19.11.2018
Man wird sich schon bald sehnsuchtsvoll der Zeiten erinnern, da eine deutsche Kanzlerin die führende Politikerin Europas war
Ihr
zurückhaltendes Auftreten hat ihre Politik oft schwächer aussehen
lassen, als sie tatsächlich war. Ein vorläufiger Rückblick auf die Ära
Angela Merkel.
von Herfried Münkler
... Angela
Merkel hat der Vorstellung von Politik, die in Deutschland bis dahin
maskulin geprägt war, ein weibliches Gesicht verliehen. Das hat dem Land
gutgetan, und es hat den Aufstieg Deutschlands zur führenden Macht
innerhalb der Europäischen Union reibungsloser erfolgen lassen, als es
angesichts des Unheils, das Deutschland in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts über Europa gebracht hatte, zu erwarten gewesen wäre.
Das war wesentlich die Folge des zurückhaltenden Auftretens der
Kanzlerin, die in der Regel auf Ausgleich bedacht war und das
Herauskehren eines deutschen Führungsanspruchs vermied.
Das hat ihre Politik oft schwächer aussehen lassen, als sie tatsächlich
war. Dass Merkel auf den Gestus des Durchsetzungswillens verzichtete,
heisst nicht, dass sie sich nicht durchgesetzt hätte. Sie hat es nur
ohne demonstratives Gehabe getan, was den Widerstand dagegen von Anfang
an begrenzt hat. Deutsche Führung in Gestalt europäischer
Kompromissbildung – das war nichts grundsätzlich anderes als unter
Merkels Amtsvor- gängern, aber doch geschmeidiger und zugleich die
europäische Politik sehr viel stärker bestimmend.
Zusammenhalt der Union
Vor
allem zwei Entwicklungen sind für die veränderte Position Deutschlands
in der EU ausschlaggebend gewesen und haben die europäische Agenda
geprägt: das Anwachsen der Zentrifugalkräfte innerhalb der Union, was
eine Folge der grösseren Mitgliederzahl und ihrer stärker divergierenden
Interessen war, und der relative Bedeutungsverlust Frankreichs infolge
des Aufstiegs des Front national, was den Spielraum der Präsidenten
Sarkozy und Hollande stark einschränkte und sich erst unter Emmanuel
Macron wieder leicht verändert hat.
Dass Merkel auf den Gestus des Durchsetzungswillens verzichtete, heisst nicht, dass sie sich nicht durchgesetzt hätte.
Die Mühe des Zusammenhaltens der Union wurde mehr und mehr zu einer
deutschen Aufgabe. Dabei ging (und geht) es um die wirtschaftliche Kluft
zwischen Nord und Süd und die sehr unterschiedlichen fiskalischen
Vor- stellungen in beiden Räumen und zugleich um die divergenten
politischen Kulturen in West- und Mitteleuropa in allem, was die
politische Souveränität und die nationale Identität anbetrifft. Die
Divergenz der Interessen, die es immer gegeben hat, wurde von einem
Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Gemeinsamen überlagert, der den
Zusammenhalt der Union zunehmend gefährdete.
Zum
vorläufigen Rückblick auf die Ära Merkel gehört freilich auch, dass die
Kanzlerin durch europa- und weltpolitische Herausforderungen so
beschäftigt war, dass die innerdeutsche Politik ins zweite Glied rückte,
ganz zu schweigen von der Führung der CDU, auf der Merkels Position
letztlich beruhte. Das hat sich auf die Dauer negativ bemerkbar gemacht –
nicht nur, weil die Zeit und die Kraft für die innen- und
parteipolitischen Fragen geringer wurden, sondern auch, weil die hier
anstehenden Entscheidungen durch europapolitische Erfordernisse
vorgegeben waren, die dann auf der deutschen Ebene und in der Partei
umgesetzt werden mussten.
Dabei war natürlich ausgeschlossen, dass man dort zu grundsätzlich
anderen Ergebnissen kam, als das auf der europäischen Ebene der Fall
war. Die unter Angela Merkel erlangte Position Deutschlands innerhalb
der EU erwuchs nicht zuletzt daraus, dass die deutsche Politik aus einem
Guss war, dass alles, was in Berlin galt, auch in Brüssel zur Geltung
gebracht wurde – und umgekehrt.
«Alternativlosigkeit»
Die
Nachordnung der nationalen wie der parteipolitischen Belange zeigte
sich bei der «Rettung» des überschuldeten Griechenland, bei der
Akzeptanz der Niedrigzinspolitik der EZB, die vor allem den Südstaaten
der EU zugutekam, und schliesslich beim Offenhalten der Grenzen auf dem
Höhepunkt der Migrationskrise.
Die Mühe des Zusammenhaltens der Union wurde mehr und mehr zu einer deutschen Aufgabe.
In allen drei Fällen dürfte Angela Merkel klar gewesen sein, dass sie
damit einen Teil ihrer Wählerschaft verprellte. Aber sie vertraute auf
die Bindekraft des Europa-Projekts und die Nachvollziehbarkeit der von
ihr getroffenen Entscheidungen: Griechenland-Rettung, um die weiche
Südflanke der EU nicht in wirtschaftlichem wie politischem Chaos
versinken zu lassen; Niedrigzinspolitik, um das Ausscheiden einer Reihe
von Ländern aus der Euro-Zone zu verhindern und diese nicht auf das
Einflussgebiet der einstigen D-Mark schrumpfen zu lassen; Aufnahme der
Flüchtlinge der Balkanroute, um den Zusammenbruch der Länder zu
verhindern, in denen sich bei einer Grenzschliessung die Migranten
gestaut hätten, womit zugleich verhindert wurde, dass es dort zu einem
Wiederaufflammen der jugoslawischen Zerfallskriege kam.
Bei
all diesen Entscheidungen hat Angela Merkel den Deutschen ein hohes
Mass an politischer Einsicht und kühler Rationalität abverlangt, und
diese Zumutung hat sie in die Formel von der «Alternativlosigkeit»
verpackt. Damit sollte nicht gesagt sein, dass es prinzipiell keine
Alternativen gab, denn die lagen ja auf der Hand. «Alternativlos» war
für Merkel die Kurzfassung dafür, dass sie sämtliche Alternativen
geprüft hatte und bei Abwägung von Kosten und Nutzen zu dem Ergebnis
gekommen war, dass es keine bessere Entscheidung als die von ihr
favorisierte gab.
Diese Art zu denken, war ein Erbe ihrer naturwissenschaftlichen
Ausbildung: Unter Abwägung aller denkbaren Aspekte und bei Wahrung der
europapolitischen Präferenzen Deutschlands, die in Anbetracht der
deutschen Geschichte nicht zur Disposition gestellt werden durften, ging
es um die Optimierung von Massnahmen und Entscheidungen, bis alle
denkbaren Alternativen deutlich schlechter waren. Das war und ist der
Kern des Merkelschen Politikverständnisses.
Debatten gemieden
Neben
der Nachordnung nationaler und parteipolitischer Interessen wurde dies
zur zweiten Achillesferse der Politik Angela Merkels: dass sie
kurzerhand unterstellte, die grosse Mehrheit der Deutschen werde
vernünftige Entscheidungen bei gründlichem Nachdenken schon
nachvollziehen und zu dem Ergebnis kommen, dass es dazu keine belastbare
Alternative gebe. Sonderlich geworben dafür hat Merkel nicht. An
grossen und grundsätzlichen Debatten lag ihr nicht, und sie hat diese
gemieden, wo immer das möglich war.
«Alternativlos»
war für Merkel die Kurzfassung dafür, dass sie sämtliche Alternativen
geprüft hatte, und dass es keine bessere Entscheidung als die von ihr
favorisierte gab.
Diese Einstellung wurde dadurch befördert, dass sie kein grosser
Debattenredner war, wie etwa Helmut Schmidt, niemand, der die
parlamentarische Auseinandersetzung suchte, um in unmittelbarer
Konfrontation mit dem politischen Gegner für die Richtigkeit seiner
Position zu werben. Das ist die andere Seite ihres auf Kompromiss und
lange Verhandlungen angelegten Politikstils: dass sie die konfrontative
Auseinandersetzung um die beste Entscheidung mied. ...
Nicht die Kraft der Rhetorik, die sich gegen andere Sichtweisen und
Vorschläge durchsetzt, sondern das Vertrauen in Fach- und Sachkompetenz
galt hier, jedenfalls in der posttotalitären Phase unter Honecker, als
Königsweg zur richtigen Entscheidung. Nun war die DDR zwar gescheitert,
aber nach Auffassung der dort gross Gewordenen nicht an einem Zuviel an
Fach- und Sachkompetenz, sondern an dem notorischen Einwirken
ideologischer Vorgaben auf die Politik. Expertise ohne Ideologie, aber
auch ohne grossen Streit – das war der Königsweg guter Politik. Dem ist
Merkel gefolgt.
Der Zeitgeist änderte sich
Lange
Zeit passte diese Sicht von Politik gut zum zunehmenden Einfluss von
Sachverständigenräten und Expertengremien. Und dem wiederum kam zugute,
dass in dem mehrstufigen Verhandlungs- und Kompromiss- system der EU eine
konfrontativ geführte Debatte nicht geeignet war, alle Akteure unter ein
Dach zu bringen. Das Merkelsche Politikverständnis und der zugehörige
Politikstil waren für Brüssel wie geschaffen. Zeitweilig galt Angela
Merkel als die weltweit einflussreichste Politikerin.
Aber
dann änderte sich der Zeitgeist, und es entstand ein neues Bedürfnis,
politische Fragen in konfrontativ geführten Debatten zu klären. Die
grossen globalen Herausforderungen, wie der Klimawandel, verloren an
Gewicht, und das Kurzfristige, Kleinräumige und Emotionale drängte nach
vorn. Damit begann auch Merkels Stern zu sinken. Noch ist er das
Gegenteil einer maskulinisierten Politik, wie sie von Trump, Erdogan und
anderen betrieben wird. Wir werden uns angesichts der Turbulenzen, die
auf Europa zukommen, schon bald sehnsuchtsvoll der Zeiten erinnern, da
Angela Merkel die führende Politikerin Europas war.
Herfried Münkler ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin
Nota. - Der Nachruf kommt ein bisschen früh. "Noch" ist sie Kanzlerin? Es könnte wohl sein, dass sie es jetzt erst richtig wird. Den Parteivorsitz, der sie spätestens seit der letzten Wahl viel mehr behindert als gestärkt hat, überlässt sie einer andern; die kann jetzt zeigen, ob sie auch einmal fürs Kanzleramt in Frage kommt. Sie selber kann nun endlich die Debatte da führen, wo sie in Deutschland zur Zeit hingehört: auf überparteilichem Niveau. Es geht um die gesellschaftspolitische Herausforderung durch die Digitalisierung und um ihre weltpolitischen Folgen: die Globalisierung, die zu einer Verschiebung der Machtzentren führt, die Stellung Europas in der Welt bedroht und Deutschlands außenpolitische Aktivierung erfordert.
Dass sie sie in diese Richtung nun endlich zu führen gedenkt, hat sie seit der Ankündigung ihres Rückzugs von der Parteispitze gezeigt. Das wird nicht schon immer ihr Plan gewesen sein, aber Griechenland und die Flücht- lingskrise haben sie aufs richtige Gleis gesetzt. Die Stellung als CDU-Vorsitzende war nicht ideal, um in Deutschland die Meinungsführerschaft zu behalten: Außerhalb der Unionsparteien hatte sie seit 2015 mehr Unterstützung als innerhalb. Zum Volkstribun eignet sie sich nicht, doch die Preceptora Germaniae stünde ihr schon zu Gesicht. Wie sollte sie aber richtungweisend zur Nation sprechen, solange es hinter ihrem Rücken zischte und spuckte?
Die Sorge ist sie nun los. Was aus der CDU wird, werden wir sehen. Wenn sie sich einer Konzentration der Mitte in den Weg stellt, wird sie dem Weg der Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit folgen. Um zu ihrem Schrittmacher zu werden, braucht sie einen neuen Anlauf.
JE