Freitag, 23. November 2018

Vielleicht gehts jetzt erst richtig los.

aus nzz.ch, 19.11.2018

Man wird sich schon bald sehnsuchtsvoll der Zeiten erinnern, da eine deutsche Kanzlerin die führende Politikerin Europas war
Ihr zurückhaltendes Auftreten hat ihre Politik oft schwächer aussehen lassen, als sie tatsächlich war. Ein vorläufiger Rückblick auf die Ära Angela Merkel.

von Herfried Münkler

... Angela Merkel hat der Vorstellung von Politik, die in Deutschland bis dahin maskulin geprägt war, ein weibliches Gesicht verliehen. Das hat dem Land gutgetan, und es hat den Aufstieg Deutschlands zur führenden Macht innerhalb der Europäischen Union reibungsloser erfolgen lassen, als es angesichts des Unheils, das Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Europa gebracht hatte, zu erwarten gewesen wäre. Das war wesentlich die Folge des zurückhaltenden Auftretens der Kanzlerin, die in der Regel auf Ausgleich bedacht war und das Herauskehren eines deutschen Führungsanspruchs vermied.

Das hat ihre Politik oft schwächer aussehen lassen, als sie tatsächlich war. Dass Merkel auf den Gestus des Durchsetzungswillens verzichtete, heisst nicht, dass sie sich nicht durchgesetzt hätte. Sie hat es nur ohne demonstratives Gehabe getan, was den Widerstand dagegen von Anfang an begrenzt hat. Deutsche Führung in Gestalt europäischer Kompromissbildung – das war nichts grundsätzlich anderes als unter Merkels Amtsvor- gängern, aber doch geschmeidiger und zugleich die europäische Politik sehr viel stärker bestimmend. 

Zusammenhalt der Union

Vor allem zwei Entwicklungen sind für die veränderte Position Deutschlands in der EU ausschlaggebend gewesen und haben die europäische Agenda geprägt: das Anwachsen der Zentrifugalkräfte innerhalb der Union, was eine Folge der grösseren Mitgliederzahl und ihrer stärker divergierenden Interessen war, und der relative Bedeutungsverlust Frankreichs infolge des Aufstiegs des Front national, was den Spielraum der Präsidenten Sarkozy und Hollande stark einschränkte und sich erst unter Emmanuel Macron wieder leicht verändert hat.

Dass Merkel auf den Gestus des Durchsetzungswillens verzichtete, heisst nicht, dass sie sich nicht durchgesetzt hätte.

Die Mühe des Zusammenhaltens der Union wurde mehr und mehr zu einer deutschen Aufgabe. Dabei ging (und geht) es um die wirtschaftliche Kluft zwischen Nord und Süd und die sehr unterschiedlichen fiskalischen Vor- stellungen in beiden Räumen und zugleich um die divergenten politischen Kulturen in West- und Mitteleuropa in allem, was die politische Souveränität und die nationale Identität anbetrifft. Die Divergenz der Interessen, die es immer gegeben hat, wurde von einem Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Gemeinsamen überlagert, der den Zusammenhalt der Union zunehmend gefährdete.
 
Zum vorläufigen Rückblick auf die Ära Merkel gehört freilich auch, dass die Kanzlerin durch europa- und weltpolitische Herausforderungen so beschäftigt war, dass die innerdeutsche Politik ins zweite Glied rückte, ganz zu schweigen von der Führung der CDU, auf der Merkels Position letztlich beruhte. Das hat sich auf die Dauer negativ bemerkbar gemacht – nicht nur, weil die Zeit und die Kraft für die innen- und parteipolitischen Fragen geringer wurden, sondern auch, weil die hier anstehenden Entscheidungen durch europapolitische Erfordernisse vorgegeben waren, die dann auf der deutschen Ebene und in der Partei umgesetzt werden mussten. 

Dabei war natürlich ausgeschlossen, dass man dort zu grundsätzlich anderen Ergebnissen kam, als das auf der europäischen Ebene der Fall war. Die unter Angela Merkel erlangte Position Deutschlands innerhalb der EU erwuchs nicht zuletzt daraus, dass die deutsche Politik aus einem Guss war, dass alles, was in Berlin galt, auch in Brüssel zur Geltung gebracht wurde – und umgekehrt. 

«Alternativlosigkeit»

Die Nachordnung der nationalen wie der parteipolitischen Belange zeigte sich bei der «Rettung» des überschuldeten Griechenland, bei der Akzeptanz der Niedrigzinspolitik der EZB, die vor allem den Südstaaten der EU zugutekam, und schliesslich beim Offenhalten der Grenzen auf dem Höhepunkt der Migrationskrise.

Die Mühe des Zusammenhaltens der Union wurde mehr und mehr zu einer deutschen Aufgabe.

In allen drei Fällen dürfte Angela Merkel klar gewesen sein, dass sie damit einen Teil ihrer Wählerschaft verprellte. Aber sie vertraute auf die Bindekraft des Europa-Projekts und die Nachvollziehbarkeit der von ihr getroffenen Entscheidungen: Griechenland-Rettung, um die weiche Südflanke der EU nicht in wirtschaftlichem wie politischem Chaos versinken zu lassen; Niedrigzinspolitik, um das Ausscheiden einer Reihe von Ländern aus der Euro-Zone zu verhindern und diese nicht auf das Einflussgebiet der einstigen D-Mark schrumpfen zu lassen; Aufnahme der Flüchtlinge der Balkanroute, um den Zusammenbruch der Länder zu verhindern, in denen sich bei einer Grenzschliessung die Migranten gestaut hätten, womit zugleich verhindert wurde, dass es dort zu einem Wiederaufflammen der jugoslawischen Zerfallskriege kam.

Bei all diesen Entscheidungen hat Angela Merkel den Deutschen ein hohes Mass an politischer Einsicht und kühler Rationalität abverlangt, und diese Zumutung hat sie in die Formel von der «Alternativlosigkeit» verpackt. Damit sollte nicht gesagt sein, dass es prinzipiell keine Alternativen gab, denn die lagen ja auf der Hand. «Alternativlos» war für Merkel die Kurzfassung dafür, dass sie sämtliche Alternativen geprüft hatte und bei Abwägung von Kosten und Nutzen zu dem Ergebnis gekommen war, dass es keine bessere Entscheidung als die von ihr favorisierte gab.
 
Diese Art zu denken, war ein Erbe ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung: Unter Abwägung aller denkbaren Aspekte und bei Wahrung der europapolitischen Präferenzen Deutschlands, die in Anbetracht der deutschen Geschichte nicht zur Disposition gestellt werden durften, ging es um die Optimierung von Massnahmen und Entscheidungen, bis alle denkbaren Alternativen deutlich schlechter waren. Das war und ist der Kern des Merkelschen Politikverständnisses. 

Debatten gemieden

Neben der Nachordnung nationaler und parteipolitischer Interessen wurde dies zur zweiten Achillesferse der Politik Angela Merkels: dass sie kurzerhand unterstellte, die grosse Mehrheit der Deutschen werde vernünftige Entscheidungen bei gründlichem Nachdenken schon nachvollziehen und zu dem Ergebnis kommen, dass es dazu keine belastbare Alternative gebe. Sonderlich geworben dafür hat Merkel nicht. An grossen und grundsätzlichen Debatten lag ihr nicht, und sie hat diese gemieden, wo immer das möglich war.

«Alternativlos» war für Merkel die Kurzfassung dafür, dass sie sämtliche Alternativen geprüft hatte, und dass es keine bessere Entscheidung als die von ihr favorisierte gab.

Diese Einstellung wurde dadurch befördert, dass sie kein grosser Debattenredner war, wie etwa Helmut Schmidt, niemand, der die parlamentarische Auseinandersetzung suchte, um in unmittelbarer Konfrontation mit dem politischen Gegner für die Richtigkeit seiner Position zu werben. Das ist die andere Seite ihres auf Kompromiss und lange Verhandlungen angelegten Politikstils: dass sie die konfrontative Auseinandersetzung um die beste Entscheidung mied. ...

Nicht die Kraft der Rhetorik, die sich gegen andere Sichtweisen und Vorschläge durchsetzt, sondern das Vertrauen in Fach- und Sachkompetenz galt hier, jedenfalls in der posttotalitären Phase unter Honecker, als Königsweg zur richtigen Entscheidung. Nun war die DDR zwar gescheitert, aber nach Auffassung der dort gross Gewordenen nicht an einem Zuviel an Fach- und Sachkompetenz, sondern an dem notorischen Einwirken ideologischer Vorgaben auf die Politik. Expertise ohne Ideologie, aber auch ohne grossen Streit – das war der Königsweg guter Politik. Dem ist Merkel gefolgt.

Der Zeitgeist änderte sich

Lange Zeit passte diese Sicht von Politik gut zum zunehmenden Einfluss von Sachverständigenräten und Expertengremien. Und dem wiederum kam zugute, dass in dem mehrstufigen Verhandlungs- und Kompromiss- system der EU eine konfrontativ geführte Debatte nicht geeignet war, alle Akteure unter ein Dach zu bringen. Das Merkelsche Politikverständnis und der zugehörige Politikstil waren für Brüssel wie geschaffen. Zeitweilig galt Angela Merkel als die weltweit einflussreichste Politikerin.

Aber dann änderte sich der Zeitgeist, und es entstand ein neues Bedürfnis, politische Fragen in konfrontativ geführten Debatten zu klären. Die grossen globalen Herausforderungen, wie der Klimawandel, verloren an Gewicht, und das Kurzfristige, Kleinräumige und Emotionale drängte nach vorn. Damit begann auch Merkels Stern zu sinken. Noch ist er das Gegenteil einer maskulinisierten Politik, wie sie von Trump, Erdogan und anderen betrieben wird. Wir werden uns angesichts der Turbulenzen, die auf Europa zukommen, schon bald sehnsuchtsvoll der Zeiten erinnern, da Angela Merkel die führende Politikerin Europas war.

Herfried Münkler ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin


Nota. -  Der Nachruf kommt ein bisschen früh. "Noch" ist sie Kanzlerin? Es könnte wohl sein, dass sie es jetzt erst richtig wird. Den Parteivorsitz, der sie spätestens seit der letzten Wahl viel mehr behindert als gestärkt hat, überlässt sie einer andern; die kann jetzt zeigen, ob sie auch einmal fürs Kanzleramt in Frage kommt. Sie selber kann nun endlich die Debatte da führen, wo sie in Deutschland zur Zeit hingehört: auf überparteilichem Niveau. Es geht um die gesellschaftspolitische Herausforderung durch die Digitalisierung und um ihre weltpolitischen Folgen: die Globalisierung, die zu einer Verschiebung der Machtzentren führt, die Stellung Europas in der Welt bedroht und Deutschlands außenpolitische Aktivierung erfordert. 

Dass sie sie in diese Richtung nun endlich zu führen gedenkt, hat sie seit der Ankündigung ihres Rückzugs von der Parteispitze gezeigt. Das wird nicht schon immer ihr Plan gewesen sein, aber Griechenland und die Flücht- lingskrise haben sie aufs richtige Gleis gesetzt. Die Stellung als CDU-Vorsitzende war nicht ideal, um in Deutschland die Meinungsführerschaft zu behalten: Außerhalb der Unionsparteien hatte sie seit 2015 mehr Unterstützung als innerhalb. Zum Volkstribun eignet sie sich nicht, doch die Preceptora Germaniae stünde ihr schon zu Gesicht. Wie sollte sie aber richtungweisend zur Nation sprechen, solange es hinter ihrem Rücken zischte und spuckte?

Die Sorge ist sie nun los. Was aus der CDU wird, werden wir sehen. Wenn sie sich einer Konzentration der Mitte in den Weg stellt, wird sie dem Weg der Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit folgen. Um zu ihrem Schrittmacher zu werden, braucht sie einen neuen Anlauf.
JE

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