Heut jährt sich so manches Ereignis. Eines jeden wird gedacht werden. Alle haben ihren guten oder schlechten Na- men. Nur das uns Deutschen peinlichste nicht. Reichskristallnacht war eine höhnische Verniedlichung, und die sie erlebt hatten, wussten das. So blieb das Wort in Gebrauch, doch die nachwachsenden Generationen verstanden es so, als sei damals eigentlich nur Glas zu Bruch gegangen. Die vielen Todesopfer gerieten in Vergessenheit.
Daher die neue Sprachregelung Reichspogromnacht. Aber die macht alles schlimmer. Das Wort Pogrom haben wir aus Russland, so wie die Russen das Wort lager von uns haben. Es gehörte zu den abgefeimten Herrschaftsmitteln der Zaren: Staute sich irgendwo zu starker Unmut auf, sandte die Ochrana ihre Lockspitzel aus, die gegen Juden hetzten und auch selber tätlich wurden. Da entlud sich der Volkszorn gegen die Ghettos, die Blutlust des Pöbels war befrie- digt und Ruhe kehrte ein im Reich des Selbstherrschers aller Reußen.
Denn der Antisemitismus war in Osteuropa endemisch, und nicht immer brauchte es Provokateure des Zaren, um ein Pogrom auszulösen.
Ganz anders aber die antijüdische Gewaltorgie vom 9. November 1938. Sie war eine geplante und organisierte Ver- anstaltung der SA. Auffällig war gerade - und alle Zeugnisse stimmen darin überein -, dass die angeblich empörte Volksseele sich nicht daran beteiligte, wie die Nationalsozialisten erwartet hatten. Die Menschen standen dabei und sahen scheigend zu.
In Deutschland war der Antisemitismus nämlich nicht endemisch, in Deutschland gab es keinen alteingewurzelten Judenhass, und die wiederholten Versuche, aus rassistischem Ressentiment politisches Kapital zu schlagen, sind im Kaiserreich immer wieder misslungen. Der deutsch-israelisch-amerikanische Historiker George Mosse sagte einst, wenn zur vorigen Jahrhundertwende jemand prophezeit hätte, dass im Verlaufe des neuen Jahrhunderts in Europa sechs Millionen Juden umgebracht würden, hätte jeder Gebildete gesagt: "Den Franzosen ist alles zuzutrauen." An Deutschland hätte keiner gedacht.
Bevor ich Beifall oder Pfiffe von der jeweils falschen Seite beziehe, sei dies gesagt: Das macht die Sache nur noch schlimmer. Böse Leidenschaften werden dadurch nicht besser, dass sie Leidenschaften sind. Doch wo Vernunft ohnehin nie recht heimisch ist, kann sie jene nicht zügeln. Das mildert die Dinge nicht, macht sie aber begreiflicher.
Ewig unbegreiflich wird bleiben, dass das im Land der Dichter und Denker geschah, das sich seither schämt, so genannt zu werden.
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