Veränderung der Kanzlerin:
Merkels neue Freiheit
Ob mit Macron in Frankreich, vor dem EU-Parlament oder tobenden
„Wutbürgern“ in Chemnitz gegenüber – Merkel wirkt befreit. Und sie hat
eine Entscheidung getroffen. Ein Kommentar.
Von
Livia Gerster
Es ist nicht so, als gäbe es eine neue Merkel.
Eine, die seit der Ankündigung zum Rückzug plötzlich mit flammenden
Reden Herzen erobert. Und doch klingt im gewohnten Merkel-Ton etwas
Ungewohntes mit: Leidenschaft, Kampfgeist, sogar ein Hauch von Pathos.
Während die
Partei sich von Merkel befreit, befreit Merkel sich von der Partei. Auf
den Regionalkonferenzen distanzieren sich die Kandidaten Merz, Spahn und
Kramp-Karrenbauer eifrig von der Kanzlerin. Während sie ihre Profile
schärfen, schärft auch Merkel das ihre. „Nationalismus und Egoismus
dürfen nie wieder eine Chance in Europa haben“, rief sie vergangene
Woche einem begeisterten EU-Parlament
zu. Und als sie von den 1,5 Millionen Flüchtlingen sprach, die
Deutschland „in einer dramatischen Situation“ aufgenommen habe, da legte
sie beide Hände aufs Herz: „Glauben Sie eigentlich, dass das etwas ist,
was uns in die Handlungsunfähig- keit bringen kann?“ Der tosende Beifall
übertönte den Protest der Rechtspopulisten im Parlament. Deren Gezeter
zeige übrigens, sagte Merkel dann noch lächelnd, dass sie den Kern
getroffen habe.
Im eigenen Parlament erntete Merkel viele Lacher für ihre Spitze gegen Alice Weidel,
die zuvor in der General- debatte die eigene Spendenaffäre ausgebreitet
hatte. Das Schöne an freiheitlichen Debatten sei, sagte Merkel wie
beiläufig, während sie ihr Manuskript ordnete, „dass jeder über das
spricht, was er für das Land für wichtig hält“. Was Merkel für wichtig
hält, daran bestand nach ihrer Rede kein Zweifel mehr. Es ging ihr um
den ganz großen historischen Kontext. Sie sagte, mit Macron in
Compiègne, das sei „bewegend“ gewesen. Nun müssten wir zeigen, dass wir
aus der Vergangenheit gelernt hätten.
Bild der Vergangenheit
Die Lehre aus dem Jahr 2015 sei, „dass wir
uns nicht abkoppeln können vom Leid anderer“. Deutsches Interesse
versteht sie so: „Das heißt immer auch, für die anderen mitzudenken!“
Wer Merkel so mit der Faust auf das Pult schlagen sah, merkte: Ihr geht
es nicht um links und rechts, liberal und konservativ, sondern ganz
grundlegend um richtig und falsch. Oder wie sie es ausdrückte: Entweder
man gehöre zu denen, die nur an sich dächten – „das ist Nationalismus in
reinster Form“. Oder man gehöre zu den wahren Patrioten, die andere
miteinbezögen. „Da gibt es auch keine Kompromisse.“
So hatten die
Bundestagsabgeordneten Merkel noch nie erlebt, die bis auf die AfD
allesamt begeistert Beifall klatschten, als seien auch sie schon
Menschen der Geschichte, die den Nachkommen bezeugen: Damals, als
Millionen Flüchtlinge
vor Deutschlands Toren um Sicherheit baten, da standen sie auf der
richtigen Seite. Es sei das Schöne an der heutigen Zeit, sagte Merkel,
„dass es wieder richtige Gegensätze gibt“. Das kleinmütige Gerede davon,
was man hätte besser und anders machen können – es gehört für Merkel
schon den Alltagsmühen der Vergangenheit an.
Die Kanzlerin
baut an dem Bild, das sich die Geschichte von ihr machen soll. Ihre
offenen Arme und das Lächeln sollen in Erinnerung bleiben. Merkel muss
nicht mehr werben, versöhnen, Reue demonstrieren: Sie hat den Platz
geräumt. Die CDU wird ihrer Wege gehen, und das werden andere Wege sein
als unter Merkel, egal welcher der drei Kandidaten Vorsitzender wird. So
kann sich die Partei einerseits erneuern, andererseits wehmütig von
Merkel Abschied nehmen.
Entscheidung getroffen
Zwischen den Reden in Straßburg und Berlin
hatte Merkel auch ein Rendezvous mit dem unangenehmen Teil ihres Erbes:
den wütenden Bürgern von Chemnitz. Die Ressentiments schossen ihr nur so
entgegen beim Bürgerdialog, und das waren bloß die Ressentiments derer,
die einigermaßen beherrscht und höflich drinnen saßen. Draußen fegte
der Merkel-muss-weg-Sturm durch die Straßen.
„Wir schaffen
das nicht!“, „Sie haben Deutschland gespalten!“, „Wann treten Sie
zurück!“ – so schallte es ihr entgegen. Stoisch erklärte die Kanzlerin
immer wieder, wie sie ihren Satz „Wir schaffen das“ damals meinte: Als
Ansporn in einer Zeit der Herausforderung. Ihr einziger Fehler, erklärte
Merkel, habe darin bestanden, nicht schon vor 2015 den Flüchtlingen in
Jordanien und im Libanon geholfen zu haben. Zwar mit freundlichem
Gesicht, aber doch unerbittlich zog sie auch in diesem Fall die Linie
zwischen richtig und falsch.
„Es gibt hier
Menschen, die haben Sorgen, dass vielleicht zu viele Flüchtlinge hier
sind. Und es gibt Menschen, die haben offene Vorurteile gegen Menschen,
die einfach anders aussehen.“ Das gespaltene Land, von dem ein
Chemnitzer sprach, an diesem Abend und in dem Saal wurde es greifbar.
Aber Merkel hat sich damit abgefun- den. Ja, sagte sie, sie wisse, dass
ihr Gesicht „für viele Menschen polarisierend wirkt“. Doch in einer Welt
der Gegensätze, wie Merkel sie zeichnet, kann es nicht ein Gesicht für
alle geben. Merkel hat sich entschieden. Sie konnte sich entscheiden,
weil sie keine Wahlen mehr gewinnen muss. So frei war sie noch nie.
Nota. - Hat sich 'damit abgefunden'? Wolln wirs hoffen: Sie hat sich damit abgefunden, dass sie nicht ewig nur moderieren kann, sondern endlich auch kämpfen muss. Was kann man mehr wollen?
JE
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