aus welt.de, 15. 8. 2021
Den Auslöser der sogenannten Völkerwanderung der Spätantike hat ein Zeitgenosse ebenso detailreich wie schockiert beschrieben: „Das Hunnenvolk wohnt jenseits der Mäotischen Sümpfe zum Eismeer zu und ist über alle Maßen wild.“ Man könnte sie „für zweibeinige Bestien halten“. Sie „streifen ohne feste Wohnsitze, ohne Behausung, Gesetz oder feste Lebensordnung in ihren Wohnwagen umher ... Plötzlich zum allgemeinen Verderben auftauchend ... richten sie ein entsetzliches Blutbad an, und bei ihrer blitzartigen Geschwindigkeit bekommt man sie kaum zu Gesicht.“
So erklärte der hohe Offizier Ammianus Marcellinus (ca. 330–395) „den Ursprung verschiedener Katastrophen“, die ab den 370er-Jahren „die ganze Welt in einem beispiellosen Flammenmeer vergehen ließ“. Der „Hunnen-Exkurs“ in seinem Werk „Res gestae“ (Tatenbericht) gilt als die wichtigste Quelle für die Geschichte einer Kriegergruppe, die im 4. Jahrhundert urplötzlich in der Steppe im Norden des Römischen Reiches auftauchte und für einige Generationen die politische und soziale Situation der Mittelmeerwelt und auch des Iran nachhaltig veränderte.
Was aber war dieses „Volk“, das sich als Schreckensbild tief in die Erinnerungskultur des Okzidents eingeprägt hat, sei es im mittelalterlichen Nibelungenlied oder in der Propaganda des 20. Jahrhunderts, in die deutsche Soldaten als „Hunnen“ eingegangen sind? Für Ammianus waren sie die Antithese der zivilisierten Welt, wobei er sich bei seiner Darstellung auch von den Klischees leiten ließ, die sich vorangegangene Generationen von Skythen, Sarmaten oder Alanen gemacht hatten, nomadisierende Verbände also, die zwei Dinge gemein hatten: die zentrale Bedeutung des Pferdes und ein Leben in der eurasischen Steppe, dessen Grundlage domestizierte Herdentiere bildeten.
Für die Forschung ragten die Hunnen aus der langen Reihe von Reiternomaden aus zwei Gründen hervor: Zum einen spielten sie eine wichtige Rolle beim Untergang des Weströmischen Reiches, zum anderen konnte man sie mit einer Gruppe in Verbindung bringen, die zuvor in chinesischen Zeugnissen fassbar wird. Die Hoffnung war, damit die Geschichte dieser schriftlose Nomadenkultur rekonstruieren zu können, deren Sprache nur in einigen Dutzend Namen überliefert ist.
Um Christi Geburt existierte an der Grenze Chinas ein nomadisches Hirtenvolk, das als „Xiongnu“ bezeichnet wurde. Unter einem Herrscher namens Maodun errichtete es Anfang des 2. Jahrhundert n. Chr. sogar ein Reich, das dem Imperium der Han-Dynastie gefährlich wurde. Dann verschwanden Teile der Xiongnu aus dem Gesichtsfeld des Kulturlandes.
Als zwei Generationen später in lateinischen Quellen die „Chunoi“, in griechischen die „Ounnoi“ auftauchten, schloss man aufgrund des ähnlich klingenden Namens und der nomadisierenden Lebensweise, dass es sich um das gleiche Volk handeln müsste, das, vermutlich von anhaltender Dürre in Zentralasien getrieben, nun die Reiche Roms und Irans bedrohte.
Inzwischen liegt diese Deutung bei den Akten. Nicht die Xiongnu wanderten über 10.000 Kilometer hinweg von China über den eurasischen „Steppen-Highway“ bis in die nordpontischen Steppen, sondern ihr Name, der von anderen nomadisierenden Gruppen übernommen wurde. „Ebenso wie die Reiternomaden durch ihre Namensgebung das Renommee ihrer Gruppe steigern und den Mut ihrer Feinde erschüttern wollten, so vermochten die Ackerbauern der Kulturzone durch das Etikett ,Xiongnu‘ bzw. ,Hunnen‘, den Schrecken, der ihnen widerfuhr, zu benennen und damit gleichsam zu bannen, auch wenn es sich bei den Kriegern, die ihre Siedlungen plünderten ... gar nicht um ,echte‘ Xiongnu handelte“, schreibt der Althistoriker Timo Stickler.
Dass sich antike Autoren kaum die Mühe machten, die Namensträger zu unterscheiden, hing mit ihrem Auftreten zusammen. „Sie haben niemals ein Hausdach über dem Kopf“, schreibt Ammianus. „Bei ihrem abstoßenden Äußeren pflegen sie auch eine derart raue Lebensweise, dass sie weder Feuer noch wohlschmeckende Speisen benötigen, sich vielmehr von Wurzeln und dem halb rohen Fleisch irgendeines Tieres ernähren, das sie zwischen ihre Schenkel und den Pferderücken legen und ein wenig warmreiten.“
Dass man diesem wilden Volk überhaupt besondere Aufmerksamkeit schenkte, hing mit ihrer außerordentlichen Kampfkraft und dem Zustand des Römischen Imperiums am Ende des 4. Jahrhunderts zusammen. Kriege, Aufstände, Usurpationen, dazu Seuchen, soziale Umbrüche und Wirtschaftskrisen hatten dessen Verteidigungsfähigkeit zunehmend eingeschränkt. Hinzu kamen die ständigen Beutezeuge germanischer Gruppen, für die Rom immer noch das Schlaraffenland war, wo es alles gab, was sie begehrten: Schätze, hoch dotierte Ämter für die Anführer und Anstellungen als Soldaten für ihre Männer und bestenfalls neue Siedlungsplätze für ihre Familien dazu.
Das galt auch für die gotischen Gruppen, die in der ukrainischen und nordpontischen Steppe Herrschaften errichtet hatten. Dass sie von den Hunnen überrannt wurden, hing mit deren überlegener Taktik und Bewaffnung zusammen, die diese im Kampf um Weideland und um die Erträge ackerbauender Gesellschaften entwickelt hatten: Geschlossene feindliche Formationen wurden mit einem Pfeilregen überschüttet, scheinbare Rückzüge ihrer hochmobilen Verbände verleiteten Gegner zum Nachsetzen, sodass deren Linien auseinanderbrachen. In die entstehenden Lücken brachen die Hunnen ein und veranstalteten mit Schwertern und Lassos regelrechte Massaker.
Ihre wichtigste Waffen waren dabei Bogen und Pfeile, „die statt der herkömmlichen Spitzen höchst kunstvoll mit scharfen Knochenstücken versehen sind“ (Ammianus). Diese Fernwaffe konnte noch „auf einer Distanz von 400 Metern mit akzeptabler Treffsicherheit eingesetzt werden“, schreibt der Althistoriker Mischa Meier, ungepanzerte Gegner konnten auf bis zu 200 Meter, römische oder iranische Panzerreiter auf bis zu 100 Meter effektiv bekämpft werden.
Über viele Generationen hatten die Reiternomaden ihren aus Holz- und Knochenplatten zusammengesetzten Reflexbogen verbessert, der von geübten Reitern in fast jeder Lage eingesetzt werden konnte. Die Hunnen hatten ihn weiterentwickelt, indem sie ihn von 80 auf 130 Zentimeter verlängerten, was die Durchschlagskraft erhöhte. Um ihn weiterhin auf dem Rücken der Pferde problemlos handhaben zu können, waren die Bögen asymmetrisch konstruiert, die untere Seite war kürzer und ermöglichte damit ihre vertikale Verwendung.
Vor die Wahl gestellt, sich mit diesem überlegenen Gegner zu arrangieren oder sich hinter den römischen Grenzen in Sicherheit zu bringen, votierten viele Goten für die zweite Option und eröffneten die „Völkerwanderung“. Längst hat die Forschung erkannt, dass es sich dabei nicht um „Völker“ in einem neuzeitlichen Sinn handelte. Vielmehr zogen „gentile Einheiten“ – kriegerische Interessengemeinschaften unter Führung von Heerkönigen – nach Süden. Deren Erfolg hing von der Fähigkeit ab, sowohl Beute zu machen, als auch einen „Traditionskern“ (Timo Stickler) zu stiften, einen Fundus an Überlieferungen, Institutionen, sozialen, rechtlichen und kultischen Praktiken, der vom Führer und seinen Leuten verkörpert und von neu Hinzukommenden akzeptiert wurde.
Dieses Modell wurde auch von den Hunnen übernommen, mit einem Unterschied. Um ihre Herden als Grundlage ihrer nomadischen Lebensform zu unterhalten, verharrten sie an den Ausläufern der Steppe in der Ungarischen Tiefebene und nördlich des Schwarzen Meeres. Ihre Herrscher, von denen wir nur wenige mit Namen kennen, stützten sich dabei nicht nur auf hunnische Gefolgschaften, sondern auch auf Anführer germanischer Gruppen, „auserlesene Männer“, die mit ihren Kämpfern die Kriegerkoalitionen verstärkten.
Um ihre wachsenden Heere bei der Stange zu halten, waren die Führer der Hunnen gezwungen, für einen ausreichenden Nachschub an „Prestigegütern“ zu sorgen. Tribute und Beute konnten nur aus dem Kulturland jenseits der Grenze kommen. Entweder zahlten Roms und Irans Kaiser freiwillig, oder sie wurden mit Gewalt dazu gezwungen. Wiederholt drangen hunnische Heere auf dem Balkan und bis Mesopotamien vor. Andere Gruppen ließen sich als Söldner in Dienst nehmen.
Bestenfalls wurden die Hunnen damit zu einer Ordnungsmacht, indem sie die Germanen oder andere Beutemacher oder Migrationswillige in Schach hielten. Bis der Aufstieg einer jüngeren Generation im Hunnenreich für eine neue Situation sorgte. Um 445 n. Chr. gewann Attila die Alleinherrschaft. Bald sollte er als „Geißel Gottes“ von sich reden machen.
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