aus nzz.ch, 16.09.2021
Das
Vergangene ist nie vergangen. Die Auseinandersetzung darüber auch
nicht. Und nun ist der Holocaust wieder einmal an der Reihe. Genauer
gesagt: die Bedeutung des Holocaust im Selbstverständnis der Deutschen.
Der australische Historiker A. Dirk Moses hat die Diskussion
losgetreten. Die überragende Position, die das Gedenken an den Holocaust
für die deutsche Staatsräson einnehme, so kritisierte er in einem Beitrag im Schweizer Onlineportal «Geschichte der Gegenwart»,
verstelle den Blick für die Untaten in den Kolonien. Zum Beispiel den
Völkermord an den indigenen Herero und Nama in Namibia durch deutsche
Kolonialtruppen.
Moses geht noch einen Schritt weiter, indem er dem Holocaust-Gedenken eine nicht offen deklarierte Absicht unterstellt. Die Erinnerung an die industriell organisierte Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten werde bewusst instrumentalisiert, sagt er. Nicht einfach als Mahnmal für einen Zivilisationsbruch, der sich nie wiederholen darf. Sondern zum einen als Verpflichtung Deutschlands gegenüber den Juden – konkret: dem Staat Israel. Zum anderen, um die kolonialen Verbrechen der Deutschen auszublenden.
Auf einmal war sie wieder da, die Frage nach der Singularität des Holocaust. Und die Historiker waren auf vertrautem Gelände. Das hatten wir ja schon einmal. Mitte der 1980er Jahre, als der deutsche Historiker Ernst Nolte die Shoah mit dem Gulag-System verglich, den Nationalsozialismus als Reaktion auf die «existenzielle Bedrohung» Deutschlands durch den Kommunismus zu verstehen versuchte, und damit einen Skandal auslöste. Die zentrale Frage im «Historikerstreit», der sich an Noltes Thesen anschloss, war genau diese: Kann man den Holocaust mit anderen historischen Tatsachen vergleichen? Und darf man es tun?
Deutschlands Raison d’Être
Sehr bald trat damals Jürgen Habermas auf den Plan, mit einer Kampfansage. Nolte und die Historiker, die ihn argumentierend unterstützten, so Habermas, bereiteten einer Revision der Geschichte der NS-Zeit den Boden, leugneten die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung und zimmerten sich und den konservativen Kräften der Bundesrepublik eine deutschnational geprägte Nato-Philosophie zurecht.
Damit war für Habermas die Raison d’Être Deutschlands in Nachkriegseuropa gefährdet. Wer den Deutschen mit Verweis auf eine angebliche «Schuldbesessenheit» die Schamröte angesichts des Faktums des Holocaust austreiben wolle, wer sie zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen wolle, so schloss er seine Anklage, zerstöre die einzige verlässliche Basis von Deutschlands Bindung an den Westen.
Das war scharf geschossen, gegen eine konservative Intervention, die für Habermas nur auf eine Relativierung der deutschen Schuld hinauslaufen konnte und damit den Grundkonsens der Bundesrepublik aufkündigte. Vor wenigen Tagen hat sich Jürgen Habermas nun wieder in die Debatte eingeschaltet. In einem Beitrag für das «Philosophie Magazin» nimmt der 92-jährige Altmeister der Diskursethik Stellung zu dem, was in den deutschen Feuilletons bereits zum «Historikerstreit 2.0» hochstilisiert wurde. Die Argumente, die vor gut drei Jahrzehnten galten, lässt er dabei nicht mehr gelten. Oder nur noch zum Teil.
Heute ist alles anders
«Wie alle historischen Tatsachen mit anderen Tatsachen verglichen werden können, so auch der Holocaust mit anderen Genoziden», hält er fest. Der Sinn des Vergleichs hänge vom Kontext ab. Und da sieht Habermas den entscheidenden Unterschied zwischen heute und gestern. «Im sogenannten Historikerstreit», schreibt er, «ging es seinerzeit darum, ob der Vergleich des Holocaust mit den stalinschen Verbrechen die nachgeborenen Deutschen von ihrer politischen Verantwortung oder, wie Jaspers mahnte, ‹Haftung› für die NS-Massenverbrechen entlasten könne.»
Die zentrale Frage der heutigen Kontroverse dagegen laute, ob der Holocaust im politischen Selbstverständnis der Deutschen den Stellenwert eines einzigartigen Zivilisationsbruchs verliere, wenn man ihn in die Perspektive einer Nachfolge der Kolonialverbrechen rücke, die erst heute wieder in Erinnerung gerufen würden. Und ob sich bereits im Genozid der deutschen Kolonialverwaltung im südlichen Afrika die kriminellen Züge zeigten, die im Holocaust verstärkt und in anderer Weise wiederkehrten.
Im Kern, das steht für Habermas ausser Frage, trage der Holocaust singuläre Züge: die Wendung gegen die Juden als «inneren Feind», der nicht ausgebeutet werde, um ein Ziel zu erreichen (Land oder Bodenschätze), sondern aus rein ideologischen Gründen ausgelöscht werde. Auf diesem singulären Zug zu beharren, so schliesst Habermas, bedeute allerdings nicht, «dass sich das politische Selbstverständnis der Bürger einer Nation einfrieren lässt».
Was nun also?
Die Erinnerung an die Kolonialgeschichte sei wichtig. Denn die politische Kultur Deutschlands müsse sich angesichts der Immigration der vergangenen Jahrzehnte «so erweitern, dass sich Angehörige anderer kultureller Lebensformen mit ihrem Erbe und gegebenenfalls auch mit ihrer Leidensgeschichte darin wiedererkennen können». Mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft akzeptierten die neuen Bürgerinnen und Bürger ja auch die politische Kultur und das geschichtliche Erbe des Landes. Die Ächtung des Holocaust sei unerlässlicher Kern davon: «Aber der Immigrant erwirbt gleichzeitig die Stimme eines Mitbürgers, die von nun an in der Öffentlichkeit zählt und unsere politische Kultur verändern und erweitern kann.»
Was nun also? Der Holocaust ist singulär. Aber so ganz dann eben doch nicht? Und wenn’s darum geht, die politische Kultur ein bisschen bunter zu machen, braucht’s halt auch einmal etwas Neues? Schwer zu glauben, aber anscheinend meint Habermas das so. Die deutsche Erinnerungskultur soll irgendwie anschlussfähig werden für Bürgerinnen und Bürger aus anderen Kulturen. Und dafür ist Habermas bereit, eine Position aufzuweichen, die ihm vor gut drei Jahrzehnten als nicht verhandelbar galt.
Das ist mehr als heikel. Zum einen mit Blick auf die Perspektive, die A. Dirk Moses eröffnet hatte: die Loyalität Deutschlands gegenüber Israel. Zum anderen angesichts der Tatsache, dass die Immigration der vergangenen Jahre Deutschland auch um eine neue Form des Antisemitismus «bereichert» hat, die islamistische. Da wünschte man sich die Entschiedenheit zurück, mit der Habermas 1986 festgehalten hatte, dass es nur einen Konsens geben könne, der Deutschland dem Westen nicht entfremde: die in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien. Dem ist nichts beizufügen.
Nota. - Über nichts werde in den Vereinigten Staaten so viel gelogen, heißt es, wie über die Rassenfrage. Über nichts wird in Deutschland so viel gelogen wie über - ja wie soll ich's nen-nen? Judenfrage doch wohl nicht.
Und kaum etwas war in Deutschland so verheuchelt wie der pp. Historikerstreit.
Wenn man zwei unterscheiden will, wird man sie zuvor schon vergleichen müssen; nicht erst, um sie gleichsetzen zu können. Im geschichtswissenschaftlichen Kern hatte Ernst Nolte da-mals natürlich Recht. Nachdem und weil in Russland eine Weltrevolution begonnen hatte, formierte sich im restlichen Europa eine Konterrevolution, zu deren äußerster Spitze der deutsche Nationalsozialismus wurde. Die Landgewinne der Konterrevolution im Westen be-stärkten die Kontervolution in Russland selbst. Hitler und Stalin waren Zwillingsgestirne, wie Leo Trotzki sagte. Hier die Konterrevolution von außen, dort von innen. Der Unterschied tritt zutage, sofern man sie vergleicht; sonst nicht.
Nun neigten Nolte und seine Mitstreiter dazu, auch die begonnen industrielle Vernichtung der europäischen Juden zu vergleichen mit Stalins Großer Säuberung, aber nicht, um die Unter-schiede auszumachen, sondern um sie gleichzusetzen.
Da erweist sich aber eine Singularität. Während Stalin das verbrecherische, aber rationale Ziel verfolgte, erstens alle möglichen Widersacher zu eliminieren und zweitens durch Furcht und Schrecken die ganze Gesellschaft so zu lähmen, dass als einziger Akteur - tja: wirklich nur er selber übrigblieb, erscheint der Judenmord als ganz und gar irrational. Vielen Tausenden kam es zupass, weil sie mitplündern durften, aber das war nur Beiwerk. Und der Aufbau eines My-thos vom altbösen Feind hatte da längst stattgefunden und erheischte eher dessen fortdau-ernde Präsenz und eben nicht seine Vernichtung. Eine allgemeine Terrorisierung konnte schließlich im Moment der Generalmobilmachauung für den Letzten aller Kriege gar nicht beabsichtigt sein, und so hat sich das NS-Regime alle Mühe gegeben, den Massenmord zu verschleiern; mit einigem Erfolg, denn selbst in Widerstandkreisen gab es keinerlei Vor-stellung von dessen tatsächlichem Ausmaß. Insofern wird die Shoah ein einzigartiges Mysterium bleiben.
Dass Hitler und Stalins Herrschaftssysteme schon von Zeitgenossen unter dem Schlagwort Totalitarismus in einen Topf geworfen wurden, war wohlverdient, und auch Leo Trotzki hat den Begriff gelegentlich benutzt. Dass die Ähnlichkeiten der beiden nicht nur eine optische war, sondern in ihrer historischen Mission begründet ist, konnten und können nur Apologeten der einen oder der andern Seite bestreiten.
JE
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