aus FAZ.NET, 9. 9. 2021 Mal poetisch, mal dogmatisch: Der Koran lässt viel Raum für Interpretationen.
„Gott verordnet euch hinsichtlich eurer Kinder: Auf eines männlichen Geschlechts kommt bei der Erbteilung gleichviel wie auf zwei weiblichen Geschlechts.“ So steht es im Koran, Sure 4, Vers 11. Mit der westlichen Rechtsordnung, überhaupt mit modernen Vorstellungen von Gerechtigkeit ist dieses Gebot unvereinbar. Doch müssen Muslime es tatsächlich wörtlich nehmen?
Mit dieser Frage haben sich Forscher der an der Goethe-Uni ansässigen Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft befasst. Den Wissenschaftlern diente die Erbschaftsregel als Ausgangspunkt für Überlegungen, wie verbindlich die normativen Aussagen des Korans für Gläubige generell sind. Das Thema, dem sich Farid Suleiman, Abdelaali El Maghraoui und Sara Rahman gewidmet haben, ist brisant. Denn gerne wird dem Islam unterstellt, er schreibe seinen Anhängern weit detaillierter als etwa das Christentum vor, wie sie zu leben hätten, um Gott wohlgefällig zu sein – und viele Muslime, so die Annahme, stellten diese Regeln über die Gesetze der Länder, in denen sie lebten.
Fortschrittliche und rückwärtsgewandte Auslegungen sind möglich
Das Papier führt drei Möglichkeiten auf, wie der Erbschaftsvers interpretiert werden kann. Die erste geht davon aus, dass er eine als natürlich angenommene Geschlechterordnung widerspiegelt: Der Mann als Versorger von Frau und Familie „verdient“ einen größeren Erbteil. Entspricht die Wirklichkeit nicht (mehr) dieser Vorstellung, sollte nicht das Gebot geändert werden, sondern die Gesellschaft. Eine weniger fundamentalistische Deutung sieht in der koranischen Norm einen „Impuls für eine ideale Gesellschaftsordnung“. Nach dieser Lesart wäre sie für die Zeit ihrer Entstehung sogar als fortschrittlich anzusehen: Im vorislamischen Arabien seien Frauen gänzlich von der Erbfolge ausgeschlossen gewesen und hätten sogar selbst vererbt werden können.
Der dritte Ansatz schließlich akzeptiert, dass es unterschiedliche Gesellschaftsordnungen gibt, und sieht in den normativen Aussagen des Korans nur einen allgemeinen Rahmen, der je nach Land und Kultur unterschiedlich ausgefüllt werden kann – was freilich eine restriktive Deutung einschließt. Das gelte auch mit Blick auf die Geschlechterrollen: Der Koran habe seine direkte Hörerschaft „dort abgeholt, wo sie sich gesellschaftlich befand, nämlich in einem patriarchalischen System; jedoch hat er dieses System weder bestätigt noch verneint“.
„Zwei Drittel der Suren sind den Psalmen der Bibel vergleichbar“
Die Frage, welche normative Kraft der Koran hat – oder haben sollte – treibt auch Mohammed Nekroumi um. Der Professor für Islamisch-Religiöse Studien an der Uni Erlangen leitet eine Forschungsgruppe der Frankfurter Akademie, die sich mit diesem Problem beschäftigt. Nekroumi relativiert zunächst den Raum, den religiöse Gebote in der heiligen Schrift der Muslime einnehmen: „Zwei Drittel der insgesamt 114 Suren des Korans kann man als poetisch bezeichnen, sie sind mit den Psalmen der Bibel vergleichbar.“ Aus dem übrigen Drittel könnten zwar Normen abgeleitet werden. „Aber die ethischen Botschaften dort sind integriert in narrative Diskurse, sie enthalten oft keine Angaben zu Orten oder konkreten Geschehnissen, sondern geben zum Beispiel bestimmte Gefühlslagen wieder“, erläutert der Wissenschaftler. „Daher ist es problematisch, daraus Normen abzuleiten, die für alle Zeit und in jeder Gesellschaft gelten sollen.“ Nach Ansicht Nekroumis hat sich während des 9. Jahrhunderts im Islam eine „Kluft“ zwischen Spiritualität und Normativität geöffnet. „Damals ging die Macht von den Mystikern auf die Juristen über. Die Juristen wurden als Kaste über alle anderen Wissenschaften gestellt.“ Andere Strömungen seien marginalisiert, ihre Anhänger zum Teil verfolgt worden. „Doch trotz der Hegemonie der Politiker und Juristen existierte die Vielfalt weiter.“
Diese Pluralität stärker sichtbar zu machen, ist eine der Aufgaben, denen sich die Frankfurter Islam-Akademie verschrieben hat. 2017 gegründet und vom Bundesbildungsministerium sowie der Stiftung Mercator finanziert, versteht sie sich als Plattform für Forschungsprojekte und für den Austausch zwischen Islamwissenschaftlern und der Gesellschaft. Dies soll auch dem Ziel dienen, den Diskurs über den Islam zu versachlichen.
Austausch mit USA und Europa statt mit muslimischen Ländern
Nicht nur Nekroumis Ausführungen zeigen, dass die Akademie für ein liberales Religionsverständnis steht. Das spiegelt sich ebenso in den Forschungsgegenständen und den dafür bevorzugten Kooperationspartnern wider. „Wir wollen wissenschaftliche Akteure aus Europa und den USA zusammenführen“, erklärt Geschäftsführerin Raida Chbib. „Auf den Austausch mit klassischen muslimischen Ländern verzichten wir bewusst.“ Für viele Themen, mit denen sich die Akademie beschäftige, würden sich dort gar keine Anknüpfungspunkte finden: „Eine Gefängnisseelsorge zum Beispiel gibt es in Ägypten nicht.“
Nah am Leben der Gläubigen zu sein, halten auch die Verfasser des Aufsatzes zur Normativität des Korans für wichtig. Sie empfehlen, die entsprechenden Suren im islamischen Religionsunterricht zu behandeln und die Schüler anzuleiten, unterschiedliche Sichtweisen einzuüben – etwa in Rollenspielen. Die Pluralität der Perspektiven solle dabei wertgeschätzt werden. Allerdings stünden die Pädagogen vor der „Herausforderung, Sichtweisen, die außerhalb der Grenzen der Rechtsstaatlichkeit stehen, in ihrer Gültigkeit und Legitimität zu entkräften“, geben die Autoren zu. Wohl wahr: Auch mancher deutsche Islamlehrer dürfte schon erlebt haben, dass in solchen Diskussionen noch heiklere Fragen aufgeworfen werden als die nach der gottgewollten Erbfolge.
Nota. - 'Damals ging die Macht von den Mystikern auf die
Juristen über. Die Juristen wurden als Kaste über alle anderen
Wissenschaften gestellt.' Das scheint mir der springende Punkt zu sein. Wenn von islamischer Theologie die Rede ist, frage ich mich, was das sein soll. Die Schriftgelehrten sind Interpreten der koranischen Verhaltensvorschriften und als solche Juristen. Sie gehören sieben verschiedenen, aber offiziellen Rechtsschulen an - da gibt es eine Menge zu wissen, doch materiale Aussagen, an die man glauben könnte, wie etwa die christliche Dreifaltigkeit, kommen dort nicht vor, oder irre ich mich? Der nichtgelehrte einfache Gläubige steht mit seinen Annahmen den studierten Schriftauslegern jedenfalls hilflos gegenüber.
Anders wäre es bei den Mystikern. Für die gibt es überhaupt nur den Glauben, und den gewinnt man nicht durch Schriftkunde, sondern durch eigenes Erleben. Theologen, die eine kanonische Lehre erarbeiten, sind auch sie nicht, und in Nordafrika sind die dort seit dem Beginn der Islamisierung vorherrschen mystischen Schulen - eine 'Lehre' wird dort von Einem auf den Andern übertragen - das Hauptziel sunnitischer Terroristen.
Ja ja, in Wirklichkeit ist immer alles viel differenzierter und komplizierter, ich weiß. Eine oberste religiöse Autrorität, wie sie die Katholiken und die Ostkirchen kennen, kann es im Islam nicht geben, denn eine geweihte Priesterschaft setzt ein Sakrament voraus, und dergleichen gilt im Islam als heidnischer Aberglaube. Doch ohne verbindliche Instanzen kann eine Glaubenslehre die Gesellschaft nicht ordnen. Die persischen Mullakratie ist eine Hybride, und immer wieder heißt es, sie stünde kurz vor dem Ende. Doch darauf verzichten, die Gesellschaft zu ordnen, kann der Islam auch nicht - dafür kann er neben Verhaltensvorschriften nicht genügend Glaubensstoff anbieten.
PS. Das schwerste Kreuz (sic) einer islamischen Theologie ist wohl der Glaubenssatz, beim Koran handle es sich um Gottes ureigenste Worte, die der Erzengel Gabriel dem schlafenden Propheten direkt auf die Zunge gelegt hat. Solange das, und sei es metaphorisch, weitergilt, scheint mir eine liberale Auslegung, die nicht feige und verlogen wirkt, gar nicht möglich. Ich wüsste gern, wann dieser Glaubenssatz Eingang in den offiziösen Kanon gefunden hat. Im Koran selbst kann er ja nicht gut stehen. Und wenn doch, wären sie beide nicht zu retten.
JE
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