Sonntag, 31. Oktober 2021

Sozial- und Verwandtschaftsstrukturen in Çatalhöyük.

Blick auf die Ausgrabungsstätte von Çatalhöyükaus spektrum.de, 30.10.2021

Çatalhöyük
Leben und Sterben mit der Wahlfamilie
Die Toten unter Çatalhöyüks Häusern zeigen: Kaum einer lebte hier bei seinen Eltern und Geschwistern. Sollte das Durchmischen der Kernfamilien die Gemeinschaft gleicher machen?


von Dagmar Schediwy

Zu seiner Blütezeit muss Çatalhöyük eine regelrechte Metropole gewesen sein: Bis zu 8000 Menschen wohnten hier in kleinen, eng aneinander gebauten Lehmhäusern, sie jagten, sie sammelten, vor allem aber bestellten sie unweit des Dorfs ihre Äcker und versuchten sich in der Zucht von Schafen und sogar Rindern. Ihre Siedlung, die etwa zwischen 7100 und 5950 vor Christus bestand, zählt zu den ältesten dauerhaft bewohnten Orten der Welt – und ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Es fehlen hier beispielsweise jegliche Gebäude, die auf eine soziale Hierarchie hindeuten würden. Paläste, Tempel, Herrschaftshäuser – all diese Einrichtungen, ohne die in späterer Zeit kaum eine Ortschaft auskommen wird, sucht man in Çatalhöyük vergebens. Genau wie Friedhöfe: Die Einwohner begruben ihre Toten unter den Fußböden ihrer Häuser.

Jedes dieser rechteckigen Gebäude bot für sich genommen nur einer Handvoll Menschen Platz. Nichts sprach also dagegen, in dem Ort eine große Dorfgemeinschaft zu sehen, die aus vielen kleinen Familienhaushalten bestand. Davon waren auch die Archäologinnen und Archäologen überzeugt, die dort Ausgrabungen machten. »Wir waren eigentlich alle davon ausgegangen, dass diejenigen, die zusammen in einem Haus bestattet wurden, in irgendeiner Weise zur selben genetisch verwandten Familie gehörten, wie groß die Gruppe auch sein mochte«, schreibt Ian Hodder, der über viele Jahre die Ausgrabungen unweit der modernen anatolischen Stadt Konya geleitet hat.

Allerdings fehlte dafür noch ein wissenschaftlicher Beleg. Leider waren bis vor kurzem noch die Möglichkeiten der Analyse alten Erbguts zu beschränkt für die alten und von früheren Ausgrabungen kontaminierten Knochen. Die amerikanische Anthropologin Marin Pilloud analysierte darum das Gebiss der Bestatteten, um die Verwandtschaftsbeziehungen zu erforschen. Das ist möglich, weil genetisch verwandte Personen Zähne ähnlicher Form und Größe haben.

Keine Anzeichen von Verwandtschaft in den Bestattungen

Pilloud untersuchte das Gebiss von 266 Skeletten aus allen Ausgrabungsschichten und machte eine unerwartete Entdeckung: Weder gehörten Personen, die unter demselben Haus beerdigt wurden, zu einer biologischen Familie, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Noch waren sie mit den Bestatteten in den Nachbarhäusern biologisch verwandt. Die Idee, dass in den Häuserkomplexen, in die man einst nur von Dach zu Dach gelangte, Großfamilien lebten, ließ sich also auch nicht halten. Die Skelette mit der größten genetischen Ähnlichkeit waren über den gesamten Ort verteilt.

2011 veröffentlichte Pilloud mit ihrem Kollegen Clark Spencer Larsen eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift »American Journal of Physical Anthropology«. In ihrer Analyse kamen sie zu dem Schluss, dass Verwandtschaft in Çatalhöyük nicht durch biologische Wurzeln definiert war. Offenbar hatten die Bewohnerinnen und Bewohner ein anderes Verständnis von Verbundenheit – eines, das vielleicht auf ökonomischen, sozialen oder kulturellen Gemeinsamkeiten beruht haben mag und durch das Zusammenleben im gleichen Haus verstärkt wurde. Wo die biologischen Eltern lebten, scheint dagegen bei der Wahl des Bestattungsortes nicht relevant gewesen zu sein.


Rekonstruierte Wohnräume
Rekonstruierte Wohnräume | Das Innere der Häuser – angesichts fehlender Fenster war es vermutlich düsterer als in dieser Rekonstruktion – hatte die Bewohner oft reich verziert.

Ein Paukenschlag könnte man meinen. Doch nach Veröffentlichung von Pillouds spektakulären Befunden geschah erst einmal: nichts. Erst 2019 griff ein internationales Forscherteam das Thema der Verwandtschaftsbeziehungen in der inzwischen zum Weltkulturerbe erklärten Siedlung wieder auf. Diesmal untersuchten die Fachleute Skelette, die von den Ausgrabungen James Mellaarts stammten. Der britische Archäologe hatte Çatalhöyük in den 1960er Jahren entdeckt und dort erste Grabungen durchgeführt.

Das Team um Arkadiusz Marciniak konzentrierte sich nun auf die Analyse der mitochondrialen DNA, die deutlich stabiler ist als die aus dem Zellkern und sich darum auch im archivierten Fundmaterial nachweisen ließ. Ihre 2019 in der Zeitschrift »Genes« veröffentlichten Forschungsergebnisse bestätigten Pillouds Befunde: In den Genproben wurden keine Anzeichen dafür gefunden, dass die Frauen und Kinder, die innerhalb eines Hauses bestattet wurden, miteinander verwandt waren.

War Çatalhöyüks Familienmodell eine Ausnahmeerscheinung?

Jetzt bestand akuter Klärungsbedarf. Waren die Verhältnisse in Çatalhöyük eine Ausnahme? Oder ließen sie sich auf ganz Anatolien übertragen? In Westasien gab es damals eine Vielzahl von Gemeinschaften, in denen die Menschen wie in Çatalhöyük von Ackerbau und Viehzucht lebten; als Jungsteinzeit oder Neolithikum bezeichnen Fachleute diese Epoche. Das Erbgut aus 59 Skeletten aus Hausbestattungen sollte nun Auskunft darüber geben, in welchen Sozialverbänden die Menschen jener Zeit lebten. Neben Funden aus Çatalhöyük wurden Genproben aus dem nordwestanatolischen Barcın Höyük einbezogen. Beide Orte werden dem keramischen Neolithikum zugerechnet, das heißt, dort wurden bereits Keramikgegenstände hergestellt. In diesen Gemeinschaften hatten sich Landwirtschaft und Viehzucht als Hauptnahrungsquellen weitgehend durchgesetzt.

Noch älter, nämlich aus der Zeit zwischen dem 9. und dem 8. Jahrtausend v. Chr., und damit aus dem akeramischen Neolithikum, waren die Proben aus dem zentralanatolischen Aşıklı Höyük und dem zehn Kilometer östlich von Çatalhöyük liegenden Boncuklu Höyük. Ihre Bewohner lebten noch hauptsächlich vom Jagen und Sammeln.

An der Studie wirkten Fachleute aus Archäologie, Genetik, Biologie und Anthropologie mit. Sie nutzten die neuesten Methoden der Analyse alter DNA, um Skelette, die in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander lagen, verwandtschaftlich zuzuordnen. Im Juni 2021 veröffentlichten sie dann die Ergebnisse ihrer Untersuchung in der Fachzeitschrift »Current Biology«.

Auch andernorts herrschten ähnliche Praktiken

Was Çatalhöyük anging, bestätigte sich das nun schon bekannte Bild: Unter den 14 Bestatteten fand sich lediglich in einem Haus ein Schwesternpaar, das gemeinsam begraben wurde. Die übrigen Personen waren nicht miteinander verwandt. Das Gleiche galt für die Skelette aus dem zeitgleich bewohnten Barcın Höyük. Auch hier wurde ein Schwesternpaar gefunden, außerdem zwei Jugendliche, die Verwandte zweiten oder dritten Grades waren. Die Mehrzahl der 23 Bestatteten hatte jedoch keine gemeinsamen biologischen Wurzeln. Dass hier, über 500 Kilometer weit weg von Çatalhöyük, offenbar dieselben Gepflogenheiten herrschten wie in der anatolischen Metropole, mag auf den ersten Blick verwundern. Allerdings ist die natürliche Umgebung des Dorfs am Marmarameer mit der in Zentralanatolien nahezu identisch. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich Siedler aus Çatalhöyük auf ihrem Weg nach Westen in der Ortschaft niederließen.

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Ganz anders sahen dagegen die Befunde in den früher bestehenden Siedlungen aus. In Boncuklu Höyük wie auch in Aşıklı Höyük war die Mehrzahl der Toten biologisch verwandt. So wurden in Boncuklu Höyük eine Mutter und ihr erwachsener Sohn und ein Geschwisterpaar im selben Gebäudekomplex begraben. In Aşıklı Höyük fand man ebenfalls Verwandte ersten Grades, die entweder zwei Schwesternpaare oder ein Schwesternpaar und Mutter und Tochter waren. Das ist der bisher älteste Nachweis von Blutsverwandtschaft in einem häuslichen Kontext in Vorderasien.

Die Forschungsgruppe bringt ihre Ergebnisse mit dem Wechsel vom Wildbeutertum zur bäuerlichen Lebensweise in Verbindung. Die Umwälzungen im sozioökonomischen Gefüge zwischen dem akeramischen und dem keramischen Neolithikum hätten schließlich auch zu einer veränderten Bestattungspraxis geführt.

Was die Menschen unter Familie verstünden, sei eben variabel, meint etwa Dominik Bonatz, Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin. Offensichtlich habe es in der Jungsteinzeit eine lange Phase des Ausprobierens gegeben und dazu gehöre auch das Ausprobieren von unterschiedlichen Formen des sozialen Zusammenlebens.

Die Auflösung der biologischen Verwandtschaft beginnt bereits vorher

Das zeichnet sich schon in den älteren Siedlungen ab: Auch in Aşıklı Höyük befand sich unter den fünf untersuchten Skeletten eine Frau, die mit keiner anderen Person in der Gruppe verwandt war. Und in der Boncuklu-Probe, die das Erbgut von neun Personen enthielt, war das immerhin bei dreien Fall.

Auffallend war hier die gemeinsame Bestattung einer erwachsenen Frau und eines Mädchens, das wahrscheinlich bei der Geburt gestorben war. Man hatte den Körper des Kindes direkt an das Becken der Frau gelehnt. Die intuitive Interpretation des Fundes als Mutter mit ihrem bei der Geburt verstorbenen Kind, erwies sich jedoch als falsch. Die beiden Toten waren genetisch nicht miteinander verwandt. Während die Frau einen Bruder in der Gruppe hatte, war das Mädchen mit keinem der Verstorbenen durch biologische Wurzeln verbunden. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Praxis der Bestattung von nicht genetisch verwandten Personen bereits in den Siedlungen des akeramischen Neolithikums ihre Anfänge nahm.

Für ein dauerhaftes Zusammenleben von biologisch nicht Verwandten im selben Hause fehlte frühen Gemeinschaften wie Aşıklı Höyük allerdings eine entscheidende Voraussetzung. Davon ist jedenfalls die Archäologin Eva Rosenstock überzeugt: »Man braucht eine große Anzahl von stillenden Müttern, um Kleinkinder getrennt von ihren leiblichen Müttern aufwachsen zu lassen. In Dorfgemeinschaften mit einer geringen Anzahl von Bewohnern ist so etwas nicht möglich«, sagt die Prähistorikerin. Ein »Megadorf« wie Çatalhöyük mit mehreren tausend Einwohnern könne dies aber sehr wohl umsetzen. Rosenstock, die selbst in Çatalhöyük gegraben hat, sieht durch die neue Studie die früheren Forschungsergebnisse zu den Verwandtschaftsbeziehungen in der Siedlung bestätigt.

Warum gaben die Menschen ihre Kinder zu anderen Eltern?

So verdichten sich die empirischen Nachweise dafür, dass in den Wohnhäusern Çatalhöyüks vor allem Menschen bestattet wurden, die biologisch nicht miteinander verwandt waren. Die jüngste Studie lässt zudem auf einen Export dortiger Bestattungsbräuche in andere Regionen schließen. Die Motive für diese Praxis liegen jedoch weiterhin im Dunkeln. Auch eine grundsätzliche Frage bleibt ungeklärt: Lebten die Toten in den Häusern zusammen oder wurden sie lediglich dort bestattet?

Bestattungsarrangements, die vom Familienmuster abweichen, wurden im ethnologischen Kontext schon früh entdeckt. So beschrieb Sarah Musgrave bereits 1930 eine Tradition der australischen Aborigenes, bei der tote Kinder mit dem nächsten männlichen Erwachsenen begraben wurden, der nach ihnen starb. Solche Traditionen führen dazu, dass man wie in Çatalhöyük keine genetischen Gemeinsamkeiten zwischen den Bestatteten entdeckt.

Kinderbestattung in Çatalhöyük

Kinderbestattung in Çatalhöyük | Gentests zeigen, dass die Menschen, die gemeinsam unter einem Haus bestattet wurden, zumeist nicht miteinander verwandt waren. Schon kleine Kinder wurden vermutlich von ihren leiblichen Eltern getrennt.

Für eine Bestattungsgemeinschaft könnte auch die reiche Symbolik in den Wohngebäuden Çatalhöyüks sprechen. Güneş Duru, Mitautorin der jüngsten Studie, hält sie für ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Siedlungen des keramischen und akeramischen Neolithikums: »Es gibt viele symbolische Ähnlichkeiten in den Häusern Çatalhöyüks, die wir in der materiellen Kultur verfolgen können. In Aşıklı Höyük sehen wir dieses Ausmaß an symbolischen Objekten nicht«.

Die Anthropologin Barbara Mills erinnern die wiederkehrenden Symbole auf Wandgemälden und Reliefs an die Pueblogesellschaften des amerikanischen Südwestens. Dort sind sie ein Erkennungszeichen von so genannten Sodalitäten, die eine Schlüsselrolle in der sozialen Organisation der Gemeinschaften spielen. Mills, die lange Mitglied von Hodders Ausgrabungsteam war, vermutet, dass es solche religiösen Netzwerke auch in Çatalhöyük gab und dass sie den Begräbnisort wesentlich mitbestimmten. Auch wenn ihre Angehörigen nicht zusammenwohnen, begründen Sodalitäten einen Bund weit über die Abstammung hinaus. So haben beim indigenen Stamm der Zuni die Kinder neben ihren leiblichen Eltern »Zeremonien-Eltern« außerhalb des Clans.
 
»Fiktive Verwandte« gegen Standesunterschiede

Ian Hodder geht davon aus, dass auch in Çatalhöyük Kinder »zwei Sets von Eltern« hatten: die biologischen und diejenigen, mit denen sie zusammenlebten. Letztere hätten als Adoptiv- oder Pflegeeltern die soziale Elternschaft für die Kinder übernommen. So seien in den Häusern »fiktive Familien« entstanden, zusammengehalten durch gemeinsame Arbeit und geteilte Erinnerungen.


Reiche Symbolik Reiche Symbolik | Räume in Çatalhöyük waren vielfach mit Wandgemälden versehen, ein häufiges Thema waren Jagddarstellungen. In dieser Rekonstruktion ist ein Hirsch von Menschen umringt, die Jagd auf ihn machen.

Kinder wurden, so glaubt Hodder, wohl schon bald nach der Geburt von ihren Eltern getrennt, und zwar mit deren Einwilligung. Das könnte mit dem egalitären Selbstverständnis der Bewohner zusammenhängen. In der Siedlung waren materielle Privilegien anscheinend verpönt. So verzichtete man nicht nur Herrschaftsgebäude, sondern auch auf Unterschiede im Wert und Umfang der Grabbeigaben. Die Trennung von biologischen Eltern und Kindern könnte ein Mittel gewesen sein, »eine Verbindung der Häuser mit der Kernfamilie und ihren Auswirkungen auf die Besitzverhältnisse zu verhindern«, wie Hodder per E-Mail erklärt. Sie hätte der Vermeidung sozialer Ungleichheit durch Vererbung gedient.


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Was für uns schwer vorstellbar erscheint, hat durchaus historische und ethnographische Parallelen. So ist es in vielen westafrikanischen Gesellschaften Brauch, Kinder zu Pflegeeltern zu geben. Bei den Baatombu in Nordbenin werden sie zum Beispiel kurz nach dem Abstillen von ihren biologischen Eltern getrennt, wie die Ethnologin Erdmute Alber nachweist. Solche Praktiken sind aus anderen afrikanischen Ländern, aber auch aus Alaska, China und Papua-Neuguinea bekannt. Auch in Westeuropa war es lange Zeit üblich, Kinder in Pflegefamilien zu geben, bis sich die Idee der Kernfamilie als Grundbaustein der Gesellschaft durchsetzte.

Ethnien außerhalb des euro-amerikanischen Raums haben oft Vorstellungen von Verwandtschaft, die nicht ausschließlich auf biologischer Abstammung basieren. Die »New Kinship Studies« in der Anthropologie betrachten die Idee der Blutsverwandtschaft daher als westliches Konzept. Für sie ist der Zusammenhang zwischen Genen und Verwandtschaft ein imaginäres Konstrukt, das nicht in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit Gültigkeit hat.

In ähnlicher Weise wird auch in der Archäologie ein biologisch begründeter Verwandtschaftsbegriff zunehmend in Frage gestellt. So argumentieren die amerikanischen Archäologen Kent M. Johnson und Kathleen S. Paul, biologische Verwandtschaft sei zwar eine universelle Realität, ihre soziale Bedeutung variiere aber stark. Eine rein auf Fortpflanzung basierende Vorstellung von Zusammengehörigkeit werde der komplexen Realität früher Gesellschaften nicht gerecht. Sie plädieren stattdessen für einen flexibleren Verwandtschaftsbegriff, der andere Formen von Verbundenheit mit einbezieht. Die Funde in den jungsteinzeitlichen Gräbern Anatoliens sprechen dafür, dass auch in der Archäologie Verwandtschaft neu gedacht werden muss.

Samstag, 30. Oktober 2021

Cringe schon wieder.

depositphotos

aus Süddeutsche.de, 27. 10. 2021

Neuer Personalreferent:
Die SPD kann sich keine noblen Gesten leisten.
Jeder Spitzenposten, den die Partei jetzt an der Stadtspitze besetzt, kann ein Weg zurück zu besseren Zeiten sein. Darum hält die SPD nicht mehr an CSU-Mann Alexander Dietrich fest.

Kommentar von Heiner Effern

Die SPD pocht auf ihr formales Recht und setzt einen Personalreferenten vor die Tür, dem kaum jemand im politischen Betrieb Kompetenz und Engagement abspricht. Ist sie damit gut beraten? Oder schadet sie damit nicht nur der Stadt und letztlich auch sich selbst? Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, wenn sie einen Referenten nicht mehr vorschlagen und wählen will, dem nichts vorzuwerfen ist und der auch gerne für die Stadt weiterarbeiten möchte. Doch auch wenn es für den CSU-Mann Alexander Dietrich menschlich hart ist, seinen Job ohne persönliches Verschulden zu verlieren: Die SPD kann nachvollziehbare Gründe für ihre Entscheidung anführen. ...

 

Nota. - Es handelt sich wohlbemerkt nicht um eine politische Regierung, sondern um ein Organ kommunaler Selbstverwaltung. Doch die Sozialdemokratie hat nachvollziehbare Gründe: Wer hat, der hat. Das gilt in guten wie in schlechten Zeiten.

JE

 

 




Freitag, 29. Oktober 2021

Überkompensation.

 
aus nzz.ch, 8. 6. 2021                 Die besten Rollstuhlsportler legen 100 Meter in weniger als 15 Sekunden zurück – schneller als fast alle auf zwei Beinen. (Nahaufnahme des Australiers Rheed McCracken vor einem Start bei den World Para Athletics Championships in London, 2017.)

 
Hart, aber erfolgversprechend: warum es von Vorteil ist, sich als Täter des eigenen Lebens – statt als Opfer der Umstände – zu verstehen 
Die psychologische Forschung sagt es schon lange: Gestalten macht Menschen glücklicher als erleiden. Dennoch tun sich manche schwer damit, sich als Gestalter des eigenen Schicksals zu verstehen. Umso beeindruckender ist, was Menschen mit Behinderung zustande bringen.
 
von Rainer Zitelmann

Ein Geiger ohne Arme, das ist ein Mensch, den es für den Hausverstand eigentlich nicht geben kann – und der doch gelebt hat. Er hiess Carl Hermann Unthan (1848–1929), und Peter Sloterdijk hat ihn in seinem Buch «Du musst dein Leben ändern» porträtiert. Sloterdijk zählt den armlosen Geiger zu den Menschen, die viel aus sich zu machen wussten, obwohl angesichts der Startbedingungen alles dafür sprach, dass sie nichts oder wenig aus sich würden machen können. Und dann folgt dieses betörende Fazit des Philosophen über den westpreussischen Violinisten und Artisten: «Er bleibt der Täter seines Lebens und wird kein Kollaborateur der vorgeblich übermächtigen Umstände.»

Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass sich erfolglose Menschen eher als Opfer äusserer Umstände begreifen und erfolgreiche Menschen als Gestalter ihres eigenen Schicksals. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von «externaler» versus «internaler» Kontrollüberzeugung. Heute ist es geradezu Mode geworden, sich als Opfer zu sehen (was natürlich nicht heisst, dass es tatsächlich immer mehr Opfer gibt). Dies hat manche Zeitdiagnostiker zur treffenden These inspiriert, dass wir einen Opferwettbewerb erleben. Und ja, es stimmt, die Identitätspolitik, die Individuen auf Gruppenmerkmale reduziert, beruht geradezu auf der Verklärung des Opferstatus.

Ihre Anhänger wollen sich – bzw. jene, die sie zu vertreten vorgeben – in erster Linie als Teil einer Gruppe sehen, bevorzugt als Teil einer diskriminierten Minderheit. Basis der Identität jedes Einzelnen ist die Zugehörigkeit zu einer «benachteiligten» Gruppe. Die eigene Situation soll nicht vor allem durch individuelles Leistungsstreben verbessert werden, sondern durch Rechte oder Sonderrechte für das eigene Kollektiv, die auf politischer Ebene erkämpft werden. Das vermeintlich diskriminierte «Wir» steht im Vordergrund des Denkens und Handelns: Politik soll das Leben der Gruppe verbessern und damit dann auch mein eigenes, falls ich mich dieser Gruppe zurechnen lassen kann.

Sei kein Opfer!

Ich habe mich mit erfolgreichen Menschen mit Behinderung beschäftigt, für die genau das Gegenteil zutrifft, und ein Buch über sie geschrieben. Diese Menschen wollen gerade nicht vor allem als Behinderte wahrgenommen werden. Wer etwa ein Interview mit dem blinden Sänger Andrea Bocelli führen will, bekommt bereits zuvor vom Management mitgeteilt, dass Bocelli keine Fragen zu seiner Blindheit beantworten werde. Die (fast) blinde Läuferin und Olympiateilnehmerin Marla Runyan war nach ihren sportlichen Siegen über nichts mehr enttäuscht als darüber, dass die Journalisten mit ihr über ihre Blindheit sprechen wollten – statt über den Verlauf des Wettkampfes.

Felix Klieser ist ein junger Mann aus Hannover, er gilt als einer der besten Hornisten der Welt. Auch er wurde – wie der Geiger, über den Sloterdijk schreibt – ohne Arme geboren. So wie alle erfolgreichen Menschen sieht Klieser sich als Gestalter des eigenen Schicksals und nicht als Opfer widriger Umstände: «Ich hätte natürlich auch meine Energie darauf verwenden können, mich selbst zu bemitleiden und der Welt zu erzählen, wie gemein alles ist», sagte er mir. «Aber jeder, der dies mal getan hat, wird sehr schnell merken, dass es zu keinem verbesserten Ergebnis führt.»

Dass Menschen nicht auf eine einzige Eigenschaft oder Dimension ihres Daseins reduziert werden wollen, ist eigentlich eine Banalität. Keine gepflegte Frau möchte auf ihre Schönheit reduziert werden, kein erfolgreicher Mann auf seinen Reichtum, und die Menschen mit Behinderung, über die ich geschrieben habe, wollen vor allem eines nicht: auf ihre Behinderung reduziert werden.

Der blinde Galerist

Ich sprach mit dem Galeristen Johann König, einem der erfolgreichsten Kunsthändler Deutschlands, der auch international ein hohes Renommee besitzt. Als er seine erste Galerie eröffnete, war er fast blind. Heute, nach insgesamt etwa 30 Operationen, kann er wieder zu 30 bis 40 Prozent sehen. König hat es verstanden, einen Nachteil – die Sehbehinderung – in einen Vorteil umzumünzen. «Paradoxerweise», so schreibt er in seinem Buch «Blinder Galerist», «ist es wahrscheinlich so, dass meine Sehbehinderung an meinem Erfolg einen nicht unwesentlichen Anteil hat.» Die Blindheit intensiviere gewisse Empfindungen, fast wie eine Droge. Die innere Konzentration und Wahrnehmungssteigerung, durch die er das schlechte Sehen kompensierte, habe ihm dabei geholfen, «das zu definieren, was ich ganz persönlich unter Kunst verstehe».

Inzwischen relativiert König diese Einschätzung etwas: Nein, man solle Behinderung nicht romantisch verklären. Behinderung sei ein Nachteil, das könne man nicht wegargumentieren, meinte er im Gespräch mit mir. Aber: «Man muss ja das Unabänderliche akzeptieren und dann sehen, wie man das Beste daraus macht. Ich sah für mich damals auch gar keine andere Alternative.»

Stephen Hawking ist, wie eine Befragung ergab, in den USA der bekannteste «Erfolgreiche mit Behinderung». Auch in Deutschland wurde bei einer Allensbach-Befragung nur noch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble von mehr Menschen genannt als Hawking, wenn man sie nach Prominenten mit Handicaps fragte. Statt sich selbst zu bemitleiden und über seine Behinderung zu klagen, sah Hawking sie in bestimmten Situationen als grossen Vorteil.

In seiner Autobiografie schreibt er: «Ich brauchte keine Vorlesungen zu halten und keine Studienanfänger zu unterrichten, und ich musste nicht an langweiligen und zeitraubenden Institutssitzungen teilnehmen. Auf diese Weise konnte ich mich uneingeschränkt meiner Forschung hingeben.» Seiner Meinung nach sollten sich behinderte Menschen «auf die Dinge konzentrieren, die ihnen möglich sind, statt solchen hinterherzutrauern, die ihnen nicht möglich sind».

Der blinde Bergsteiger

Besonders beeindruckt hat mich Erik Weihenmayer. Der Amerikaner hat vor 20 Jahren als erster Blinder den Mount Everest bestiegen. Und er gehört zu den wenigen Menschen, die die «Seven Summits», also die sieben höchsten Gipfel auf sieben Kontinenten, bestiegen haben. Im Gespräch, das ich zu meinem Buch führte, berichtete er: «Jeden Tag verbringe ich 15 Minuten damit, mir vorzustellen, oben auf dem Gipfel zu stehen – bis zu dem Punkt, an dem ich praktisch das Knirschen des Schnees unter meinen Steigeisen höre. Ich höre die Seile, fühle den Himmel, einfach nur die Kälte, und ich fühle die Herzen meiner Teamkameraden, fühle die Tränen. Ich breche buchstäblich in Tränen aus, weil ich tatsächlich dort bin... Und als ich oben auf dem Everest stand, hatte ich ihn in Wirklichkeit zuvor schon hundertmal in Gedanken bestiegen. Ich denke daher, dass diese Art eines Glaubenssystems und dessen Einprogrammierung in das Unterbewusstsein enorm wichtig sind, um es wirklich dorthin zu schaffen.»

Weihenmayer setzt sich für andere Behinderte ein. Dabei zielen seine Anstrengungen nicht auf politische Rechte und Quoten, sein Mittel ist nicht die Anklage gegen die Gesellschaft. Vielmehr setzt er darauf, andere Menschen zu ermächtigen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und ihnen zu zeigen, was sie können.

Weihenmayer gründete die Organisation No Barriers, die behinderten Menschen hilft, ihre Grenzen zu sprengen. Das Motto der Organisation lautet: «What’s within you is stronger than what’s in your way.» Drei Jahre nachdem er selbst den Mount Everest bezwungen hatte, bestieg er zusammen mit sechs Kindern einer Blindenschule in Lhasa einen Berg in der Nähe des höchsten Gipfels der Welt. Der sehenswerte Film «Blindsight» dokumentiert dieses Abenteuer.

Es geht um Individualismus oder Kollektivismus. Anhänger der Identitätspolitik sprechen stets vom «Wir». Sie klagen Vertreter der Mehrheitsgesellschaft an, die Minderheiten zu diskriminieren und sie ihrer Lebenschancen zu berauben. Die erfolgreichen Menschen mit Behinderung, mit denen ich gesprochen oder deren Biografien ich analysiert habe, klagen niemanden an. Selbst dann nicht, wenn sie massive Probleme haben.

Am Anfang steht die Entscheidung

Eindrücklich in dieser Hinsicht ist Ray Charles, der auch als «Hohepriester des Souls» bezeichnet wird. In der Liste der «besten Sänger aller Zeiten» des Magazins «Rolling Stone» steht er von allen Männern auf Platz 1 und damit vor Superstars wie Elvis Presley, John Lennon oder Bob Dylan. Lediglich eine Sängerin, Aretha Franklin, rangiert vor ihm und verweist ihn damit auf den Gesamtplatz 2 der «100 Greatest». Er war nicht nur Sänger, sondern auch Songwriter und Produzent und erhielt bei 37 Nominierungen 17-mal die begehrte Grammy-Auszeichnung. Mit einem Nettovermögen von 100 Millionen Dollar war er zudem einer der vermögendsten Sänger seiner Zeit.

Aber es gab auch eine dunkle Seite in seinem Leben. 16 Jahre lang war Charles heroinabhängig. Doch er gab weder äusseren Umständen noch seiner Behinderung oder erlittenen Diskriminierungen die Schuld an seinem Drogenkonsum. In seiner Autobiografie schreibt er: «Niemand hat mir das angetan. Ich selbst habe es mir angetan. Es war nicht die Gesellschaft, es war kein Dealer, es war nicht die Tatsache, dass ich blind war oder schwarz oder arm. Es war alles meine Entscheidung.»

Das ist es: Täter des eigenen Lebens zu sein, im Schlechten wie im Guten. Sloterdijk nennt eine solche Philosophie existenzialistisch. Sie sei für erfolgreiche Menschen mit Behinderung charakteristisch – «die Figur der Selbstwahl, kraft welcher das Subjekt etwas aus dem macht, was aus ihm gemacht wurde».

Dem gegenüber steht die Philosophie der Identitätspolitiker, die den Menschen erklärt: «Du bist ein Opfer der Umstände, und du hast innerhalb dieser Strukturen keine Chance auf ein besseres Leben – deshalb schliesse dich uns an und kämpfe gegen die Strukturen.»

Wer Menschen zu Opfern macht, macht sie hilflos und machtlos. Dagegen können Beispiele von Menschen, die trotz – und manchmal sogar gerade wegen – widrigen äusseren Umständen ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen, ermutigen. Sie stehen für Kraft statt für Hilflosigkeit.

Ludwig van Beethoven komponierte seine 9. Symphonie, als er schon fast taub (und im Übrigen auch halb blind) war. Seinem Freund Nikolaus Zmeskall hatte er geschrieben: «Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor anderen auszeichnen, und sie ist auch die meinige.»

Rainer Zitelmann ist Historiker und Soziologe. Im Juni erscheint im Finanzbuch-Verlag sein Buch «Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können».

 

Montag, 25. Oktober 2021

Cringe.

aus Badische Zeitung, 25. 10. 201

SPD feiert sich selbst: "Was sind wir doch für eine tolle Partei!
"Wir sind wieder da", ruft der Landeschef: Auf dem Südwest-Parteitag in Freiburg bejubeln die Genossen ihren Erfolg bei der Bundestagswahl – und verbreiten Aufbruchstimmung.

Draußen leuchten rote SPD-Fahnen unter blauem Himmel, auch in der Freiburger Messehalle könnte die Stimmung an diesem Samstag nicht besser sein. "Alle zufrieden, alle glücklich, alle strahlen!", ruft ein Landtagsabgeordneter schon vor Beginn. Die neu gewählte Bundestagsab-geordnete Heike Engelhardt aus Ravensburg jubelt: "Was sind wir doch für eine tolle Partei!" Takis Mehmet Ali, neuer Mandatsträger aus dem Wahlkreis Breisgau-Hochschwarzwald, pflichtet bei: "Da kann man doch einfach nur glücklich sein." ...

 

Nota. - Man traut Augen und Ohren nicht: Die glauben im Ernst, sie hätten die Wahl ge-wonnen. Nicht einmal Olaf Scholz hat sie wirklich gewonnen, sondern Laschet und Baer-bock haben sie verloren.

JE

Keine mildernden Umstände...

süddeutsche

...für islamischen Antisemitismus. Das Jüdische ist ein Grundbestand der abendländischen Zivilisation. 

Der Islam nicht. Islamischer Antisemitismus ist hier doppelt fehl am Platz.

 

 



Sonntag, 24. Oktober 2021

Das wahre Desaster...

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...ist nicht der Zusammenbruch der Union, sondern die unverdiente Wiederauferstehung der Sozialdemokratie. Gestern noch eine leere Hülse, saugt sie heute wie ein Löschpapier alles wieder auf, was sich nun doch noch Hoffnung auf eine gute Partie macht. 

Ein Desaster so unerwartet wie das Brexit-Votum und die Wahl von Donald Trump. Recht verdaut sind beide noch immer nicht.


Samstag, 23. Oktober 2021

Donnerstag, 21. Oktober 2021

Der Siegeszug der Pferde.


aus Süddeutsche.de, 20. 10. 2021

Der Beginn einer großen Freundschaft
Wann und wo genau haben Menschen einst das heutige Hauspferd domestiziert? Die Geschichte ist erstaunlich kompliziert, doch nun gibt es eine Antwort.

Von Katrin Blawat

Jeder Beziehung tut es gut, wenn sie einen Gründungsmythos vorweisen kann. So kann man sich immer wieder erzählen, wie einst alles begonnen hat, und so die Verbindung stärken. In der Beziehung zwischen Mensch und Pferd allerdings hapert es nicht nur daran, dass einem der Partner solche Geschichten egal sein dürften. Vor allem fehlten bislang wesentliche Fakten darüber, wo die beiden vor einigen Jahrtausenden zusammengefunden haben. Dieses Rätsel sei nun gelöst, verkündet eine Gruppe um Ludovic Orlando von der Universität Toulouse im Fachmagazin Nature. Demnach stammt das heutige Hauspferd von Tieren aus der Region Pontokaspis im Westteil der Eurasischen Steppe ab. Dort wurden vor 4200 Jahren Pferde domestiziert, die dann innerhalb weniger Jahrhunderte in das gesamte Gebiet zwischen Atlantik und Mongolei gelangten.

Damit liefern die Forscher eines der letzten Puzzleteile einer ungewöhnlich komplizierten Domestikationsgeschichte. Denn die in der westlichen Eurasischen Steppe gezähmten Tiere waren keineswegs die ersten Pferde, die der Mensch zu Haustieren gemacht hatte. Schon 1300 Jahre früher wurden Pferde in der Botai-Kultur im Gebiet des heutigen Kasachstans gezähmt und als Fleisch- und Milchquelle sowie als Reittiere genutzt. Lange galten diese Tiere daher als die Vorfahren der heutigen Hauspferde. Dies jedoch zu Unrecht, wie Orlando und seine Kollegen vor einigen Jahren festgestellt haben. Die Linie der Botai-Hauspferde starb wieder aus, ehe sie sich weitflächig verbreiten konnte. Ähnlich erging es weiteren Hauspferde-Linien, die in Sibirien und auf der iberischen Halbinsel entstanden waren. Deren Verwandtschaftsver-hältnisse zum heutigen Hauspferd verglich Orlando einmal mit der Beziehung zwischen Neandertaler und modernem Menschen.

Eine Gen-Mutation stärkte den Rücken der Tiere

Um nun die Pontokaspis als Ursprungsregion der heutigen Pferde identifizieren zu können, verglichen die Forscher die Genome von mehr als 200 Pferden, die vor Jahrtausenden gelebt hatten, sowie das Erbgut von zehn heutigen Pferden. Dabei kam ihnen zugute, dass sich früher die Tiere etwa in Anatolien, Europa, Zentralasien und in Sibirien genetisch recht stark voneinander unterschieden hatten. Wie schnell sich die domestizierten Pferde dann vom Westen der Eurasischen Steppe aus verbreitet und alle anderen Linien verdrängt haben, überraschte auch die Wissenschaftler. Zuerst gelangten die domestizierten Pferde nach Zentralasien, wenig später ins heutige Westeuropa.

Zu der raschen Ausbreitung dürften wesentlich zwei genetische Veränderungen beigetragen haben, die die Autoren ebenfalls beschreiben. Eine der Mutationen führte zu einer stabileren Rückenpartie. Vermutlich ermöglichte erst diese Genveränderung, Pferde überhaupt dauerhaft als Reittiere zu nutzen. Noch heute benötigen Pferde ein sorgfältiges Muskeltraining, damit ihnen ein Reiter keine Rückenschmerzen verursacht. Die andere Mutation ließ die Tiere weniger scheu und dem Menschen zugewandter werden. Das war wichtig, um als Fluchttier in Gefangenschaft nicht in ständiger Panik zu leben. So seien die Tiere schnell zu beliebten Transportmitteln und zu Statussymbolen geworden, schreiben die Autoren.

Wie Orlando zusammen mit Kollegen in früheren Studien gezeigt hat, dauerte es dann aber noch bis ins siebte Jahrhundert nach Christus, bis sich in Europa ein eleganterer Pferdetyp durchsetzte. Zudem förderten die frühen Züchter die Farbenvielfalt ihrer Tiere. Vielleicht entstand also schon in jener Zeit das Sprichwort, das heutige Pferdekäufer davor warnen soll, sich ein Tier allein nach der Fellfarbe auszusuchen, denn: "Ein gutes Pferd hat keine Farbe."

HANDOUT - Magdalenian horse figurine from Duruthy, France. Abbaye d'Arthous. Collections of the Landes Department. May 2021 Credit: Ludovic Orlando ACHTUNG: Frei nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Studie bei Nennung des Credits. Foto: Ludovic Orlando

aus welt.de, 20. 10. 2021        Geschätzte 14.000 Jahre alt: Hauspferd-Skulptur aus dem französischen Duruthy 

Das moderne Hauspferd hat russische Ahnen
Vor 4200 Jahren begann der Mensch Pferde zu züchten – bislang wusste nur niemand, woher die Tiere kamen. Eine Erbgutanalyse zeigt: Die Ahnen des Hauspferds lebten vor 6000 Jahren in der Steppe Russland und haben von dort aus schnell Karriere gemacht. 
 

Die Domestizierung des Pferdes war ein entscheidender Schritt in der Geschichte der Menschheit: Die Tiere steigerten die Mobilität der Menschen, intensivierten den Handel und boten militärische Vorteile. Eine Studie zeigt nun, wann die Vorläufer der heutigen Hauspferde entstanden – und wie rasant sich diese Linie damals über ganz Eurasien verbreitete. In dem archäogenetischen Großprojekt rekonstruiert ein internationales Forschungsteam die bislang umstrittene Geschichte des modernen Hauspferdes, die demnach vor 4200 Jahren begann.

Die früheste Domestizierung der Hauspferde (Equus caballus) reicht etwa 5500 Jahre zurück, wie Funde bei dem Ort Botai im Norden von Kasachstan belegen. Doch auch wenn die Menschen dort schon mit Pferden zusammenlebten, stammen die modernen Hauspferd-Rassen nicht von diesen Tieren ab. Deren Herkunft war bisher umstritten, wobei als Ursprungsgebiet so unterschiedliche Regionen wie Zentralasien, Anatolien und die Iberische Halbinsel diskutiert wurden.

Ein Team um Ludovic Orlando von der Universität Paul Sabatier in Toulouse hat durch die Untersuchung von Pferdegenomen versucht, genauer einzugrenzen, wo die Ahnen der Tiere herkamen. Wie sie im Fachblatt „Nature“ berichten, schauten sie sich dazu das Erbgut von 270 Pferden aus diversen Regionen Eurasiens an, die vor etwa 50.000 bis vor etwa 2200 Jahren lebten.

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Das Ergebnis: Bis vor etwa 3000 Jahren gab es vier große Gruppen, die genetisch weitgehend voneinander isoliert waren: Die ursprünglichste, zu der auch das Wildpferd Equus lenensis zählt, lebte im nordöstlichen Sibirien. Die zweite Gruppe bewohnte Europa. Die dritte Gruppe, darunter die Pferde von Botai und auch die damit verwandten Przewalski-Pferde, besiedelte Zentralasien vom Altai-Gebirge bis zum südlichen Ural. Und die letzte und entscheidende Gruppe, von der die heutigen Hauspferd-Rassen abstammen, die westeurasischen Steppen im Süden des heutigen Russlands.

Nördlich des Kaspischen Meeres sei diese letzte Linie bereits im 6. Jahrtausend vor Christus vorherrschend gewesen, schreibt das Team. Domestiziert wurden die Vorfahren des modernen Hauspferdes demnach um 2200 vor Christus im Gebiet der Unterläufe von Wolga und Don. Anschließend verbreiteten sie sich rasch über ihre Ursprungsregion hinaus: Bis 2000 vor Christus findet man diese Linie schon in Böhmen, am Unterlauf der Donau südlich der Karpaten, in Anatolien und auch in Zentralasien.

Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielte demnach wohl die um 2000 vor Christus in der westeurasischen Steppe entstehende Sintaschta-Kultur. Dort finden sich etwa in Gräbern die frühesten Funde von Streitwagen, zusammen mit Pferden, die ausnahmslos mit den modernen Hauspferden verwandt sind. Anfänglich wurden die Pferde den Forschern zufolge als Reittiere verwendet, wenig später dann auch als Zugtiere.

Im 2. Jahrtausend vor Christus verbreiteten sich die Pferde rapide über ganz Westeurasien – vom Atlantik bis in die Mongolei – „und ersetzten letztlich bis etwa 1500 bis 1000 vor Christus alle lokalen Populationen“, schreibt das Team. Gleichzeitig seien die Bestände der Pferde „explosiv“ angestiegen – offenbar ein Resultat des steigenden Bedarfs. Pferde, die den Fernhandel enorm erleichterten, wurden eine hochgeschätzte Handelsware und ein Statussymbol. Vor allem, wenn sie bestimmte Zuchtkriterien aufwiesen: Die Forscher fanden gehäuft genetische Merkmale, die mit Gutmütigkeit und einer kräftigeren Wirbelsäule einhergehen.

 


Dienstag, 19. Oktober 2021

Der Mythos der Hitlerjugend.

Alle im Gleichschritt? Der Mythos der Hitlerjugend 

aus spiegel.de, 11. 10. 2021                                                                                                             zu  Levana, oder Erziehlehre

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»Es gibt auf dem Lande fast keine HJ mehr.«