aus spektrum.de, 30.10.2021
Çatalhöyük
Leben und Sterben mit der Wahlfamilie
Die
Toten unter Çatalhöyüks Häusern zeigen: Kaum einer lebte hier bei
seinen Eltern und Geschwistern. Sollte das Durchmischen der Kernfamilien
die Gemeinschaft gleicher machen?
von Dagmar Schediwy
Zu
seiner Blütezeit muss Çatalhöyük eine regelrechte Metropole gewesen
sein: Bis zu 8000 Menschen wohnten hier in kleinen, eng aneinander
gebauten Lehmhäusern, sie jagten, sie sammelten, vor allem aber
bestellten sie unweit des Dorfs ihre Äcker und versuchten sich in der
Zucht von Schafen und sogar Rindern. Ihre Siedlung, die etwa zwischen
7100 und 5950 vor Christus bestand, zählt zu den ältesten dauerhaft
bewohnten Orten der Welt – und ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert.
Es fehlen hier beispielsweise jegliche Gebäude, die auf eine soziale
Hierarchie hindeuten würden. Paläste, Tempel, Herrschaftshäuser – all
diese Einrichtungen, ohne die in späterer Zeit kaum eine Ortschaft
auskommen wird, sucht man in Çatalhöyük vergebens. Genau wie Friedhöfe:
Die Einwohner begruben ihre Toten unter den Fußböden ihrer Häuser.
Jedes dieser
rechteckigen Gebäude bot für sich genommen nur einer Handvoll Menschen
Platz. Nichts sprach also dagegen, in dem Ort eine große
Dorfgemeinschaft zu sehen, die aus vielen kleinen Familienhaushalten
bestand. Davon waren auch die Archäologinnen und Archäologen überzeugt,
die dort Ausgrabungen machten. »Wir waren eigentlich alle davon
ausgegangen, dass diejenigen, die zusammen in einem Haus bestattet
wurden, in irgendeiner Weise zur selben genetisch verwandten Familie
gehörten, wie groß die Gruppe auch sein mochte«, schreibt Ian Hodder,
der über viele Jahre die Ausgrabungen unweit der modernen anatolischen
Stadt Konya geleitet hat.
Allerdings fehlte dafür noch ein wissenschaftlicher Beleg. Leider waren bis vor kurzem noch die Möglichkeiten der Analyse alten Erbguts zu beschränkt für die alten und von früheren Ausgrabungen kontaminierten Knochen. Die amerikanische Anthropologin Marin Pilloud analysierte darum das Gebiss der Bestatteten, um die Verwandtschaftsbeziehungen zu erforschen. Das ist möglich, weil genetisch verwandte Personen Zähne ähnlicher Form und Größe haben.
Pilloud
untersuchte das Gebiss von 266 Skeletten aus allen Ausgrabungsschichten
und machte eine unerwartete Entdeckung: Weder gehörten Personen, die
unter demselben Haus beerdigt wurden, zu einer biologischen Familie, von
wenigen Ausnahmen abgesehen. Noch waren sie mit den Bestatteten in den
Nachbarhäusern biologisch verwandt. Die Idee, dass in den
Häuserkomplexen, in die man einst nur von Dach zu Dach gelangte,
Großfamilien lebten, ließ sich also auch nicht halten. Die Skelette mit
der größten genetischen Ähnlichkeit waren über den gesamten Ort
verteilt.
2011 veröffentlichte Pilloud mit ihrem Kollegen Clark Spencer Larsen eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift »American Journal of Physical Anthropology«.
In ihrer Analyse kamen sie zu dem Schluss, dass Verwandtschaft in
Çatalhöyük nicht durch biologische Wurzeln definiert war. Offenbar
hatten die Bewohnerinnen und Bewohner ein anderes Verständnis von
Verbundenheit – eines, das vielleicht auf ökonomischen, sozialen oder
kulturellen Gemeinsamkeiten beruht haben mag und durch das Zusammenleben
im gleichen Haus verstärkt wurde. Wo die biologischen Eltern lebten,
scheint dagegen bei der Wahl des Bestattungsortes nicht relevant gewesen
zu sein.
Rekonstruierte Wohnräume | Das Innere der
Häuser – angesichts fehlender Fenster war es vermutlich düsterer als in
dieser Rekonstruktion – hatte die Bewohner oft reich verziert.
Ein Paukenschlag könnte man meinen. Doch nach
Veröffentlichung von Pillouds spektakulären Befunden geschah erst
einmal: nichts. Erst 2019 griff ein internationales Forscherteam das
Thema der Verwandtschaftsbeziehungen in der inzwischen zum
Weltkulturerbe erklärten Siedlung wieder auf. Diesmal untersuchten die
Fachleute Skelette, die von den Ausgrabungen James Mellaarts stammten.
Der britische Archäologe hatte Çatalhöyük in den 1960er Jahren entdeckt
und dort erste Grabungen durchgeführt.
Das
Team um Arkadiusz Marciniak konzentrierte sich nun auf die Analyse der
mitochondrialen DNA, die deutlich stabiler ist als die aus dem Zellkern
und sich darum auch im archivierten Fundmaterial nachweisen ließ. Ihre 2019 in der Zeitschrift »Genes« veröffentlichten Forschungsergebnisse
bestätigten Pillouds Befunde: In den Genproben wurden keine Anzeichen
dafür gefunden, dass die Frauen und Kinder, die innerhalb eines Hauses
bestattet wurden, miteinander verwandt waren.
War Çatalhöyüks Familienmodell eine Ausnahmeerscheinung?
Jetzt bestand akuter Klärungsbedarf. Waren die Verhältnisse in Çatalhöyük eine Ausnahme? Oder ließen sie sich auf ganz Anatolien übertragen? In Westasien gab es damals eine Vielzahl von Gemeinschaften, in denen die Menschen wie in Çatalhöyük von Ackerbau und Viehzucht lebten; als Jungsteinzeit oder Neolithikum bezeichnen Fachleute diese Epoche. Das Erbgut aus 59 Skeletten aus Hausbestattungen sollte nun Auskunft darüber geben, in welchen Sozialverbänden die Menschen jener Zeit lebten. Neben Funden aus Çatalhöyük wurden Genproben aus dem nordwestanatolischen Barcın Höyük einbezogen. Beide Orte werden dem keramischen Neolithikum zugerechnet, das heißt, dort wurden bereits Keramikgegenstände hergestellt. In diesen Gemeinschaften hatten sich Landwirtschaft und Viehzucht als Hauptnahrungsquellen weitgehend durchgesetzt.
Noch älter, nämlich aus der Zeit zwischen dem 9. und dem 8. Jahrtausend v. Chr., und damit aus dem akeramischen Neolithikum, waren die Proben aus dem zentralanatolischen Aşıklı Höyük und dem zehn Kilometer östlich von Çatalhöyük liegenden Boncuklu Höyük. Ihre Bewohner lebten noch hauptsächlich vom Jagen und Sammeln.
An der Studie
wirkten Fachleute aus Archäologie, Genetik, Biologie und Anthropologie
mit. Sie nutzten die neuesten Methoden der Analyse alter DNA, um
Skelette, die in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander lagen,
verwandtschaftlich zuzuordnen. Im Juni 2021 veröffentlichten sie dann die Ergebnisse ihrer Untersuchung in der Fachzeitschrift »Current Biology«.
Auch andernorts herrschten ähnliche Praktiken
Was
Çatalhöyük anging, bestätigte sich das nun schon bekannte Bild: Unter
den 14 Bestatteten fand sich lediglich in einem Haus ein Schwesternpaar,
das gemeinsam begraben wurde. Die übrigen Personen waren nicht
miteinander verwandt. Das Gleiche galt für die Skelette aus dem
zeitgleich bewohnten Barcın Höyük. Auch hier wurde ein Schwesternpaar
gefunden, außerdem zwei Jugendliche, die Verwandte zweiten oder dritten
Grades waren. Die Mehrzahl der 23 Bestatteten hatte jedoch keine
gemeinsamen biologischen Wurzeln. Dass hier, über 500 Kilometer weit weg
von Çatalhöyük, offenbar dieselben Gepflogenheiten herrschten wie in
der anatolischen Metropole, mag auf den ersten Blick verwundern.
Allerdings ist die natürliche Umgebung des Dorfs am Marmarameer mit der
in Zentralanatolien nahezu identisch. Daher ist es nicht
unwahrscheinlich, dass sich Siedler aus Çatalhöyük auf ihrem Weg nach
Westen in der Ortschaft niederließen.
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Ganz anders sahen dagegen die Befunde in den früher
bestehenden Siedlungen aus. In Boncuklu Höyük wie auch in Aşıklı Höyük
war die Mehrzahl der Toten biologisch verwandt. So wurden in Boncuklu
Höyük eine Mutter und ihr erwachsener Sohn und ein Geschwisterpaar im
selben Gebäudekomplex begraben. In Aşıklı Höyük fand man ebenfalls
Verwandte ersten Grades, die entweder zwei Schwesternpaare oder ein
Schwesternpaar und Mutter und Tochter waren. Das ist der bisher älteste
Nachweis von Blutsverwandtschaft in einem häuslichen Kontext in
Vorderasien.
Die Forschungsgruppe bringt ihre Ergebnisse mit dem Wechsel vom Wildbeutertum zur bäuerlichen Lebensweise in Verbindung. Die Umwälzungen im sozioökonomischen Gefüge zwischen dem akeramischen und dem keramischen Neolithikum hätten schließlich auch zu einer veränderten Bestattungspraxis geführt.
Was die Menschen unter Familie verstünden, sei eben variabel, meint etwa Dominik Bonatz, Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin. Offensichtlich habe es in der Jungsteinzeit eine lange Phase des Ausprobierens gegeben und dazu gehöre auch das Ausprobieren von unterschiedlichen Formen des sozialen Zusammenlebens.
Die Auflösung der biologischen Verwandtschaft beginnt bereits vorher
Das zeichnet sich schon in den älteren Siedlungen ab: Auch in Aşıklı Höyük befand sich unter den fünf untersuchten Skeletten eine Frau, die mit keiner anderen Person in der Gruppe verwandt war. Und in der Boncuklu-Probe, die das Erbgut von neun Personen enthielt, war das immerhin bei dreien Fall.
Auffallend war hier die gemeinsame
Bestattung einer erwachsenen Frau und eines Mädchens, das wahrscheinlich
bei der Geburt gestorben war. Man hatte den Körper des Kindes direkt an
das Becken der Frau gelehnt. Die intuitive Interpretation des Fundes
als Mutter mit ihrem bei der Geburt verstorbenen Kind, erwies sich
jedoch als falsch. Die beiden Toten waren genetisch nicht miteinander
verwandt. Während die Frau einen Bruder in der Gruppe hatte, war das
Mädchen mit keinem der Verstorbenen durch biologische Wurzeln verbunden.
Dies könnte darauf hindeuten, dass die Praxis der Bestattung von nicht
genetisch verwandten Personen bereits in den Siedlungen des akeramischen
Neolithikums ihre Anfänge nahm.
Für
ein dauerhaftes Zusammenleben von biologisch nicht Verwandten im selben
Hause fehlte frühen Gemeinschaften wie Aşıklı Höyük allerdings eine
entscheidende Voraussetzung. Davon ist jedenfalls die Archäologin Eva
Rosenstock überzeugt: »Man braucht eine große Anzahl von stillenden
Müttern, um Kleinkinder getrennt von ihren leiblichen Müttern aufwachsen
zu lassen. In Dorfgemeinschaften mit einer geringen Anzahl von
Bewohnern ist so etwas nicht möglich«, sagt die Prähistorikerin. Ein
»Megadorf« wie Çatalhöyük mit mehreren tausend Einwohnern könne dies
aber sehr wohl umsetzen. Rosenstock, die selbst in Çatalhöyük gegraben
hat, sieht durch die neue Studie die früheren Forschungsergebnisse zu
den Verwandtschaftsbeziehungen in der Siedlung bestätigt.
So verdichten sich die empirischen Nachweise dafür, dass in den Wohnhäusern Çatalhöyüks vor allem Menschen bestattet wurden, die biologisch nicht miteinander verwandt waren. Die jüngste Studie lässt zudem auf einen Export dortiger Bestattungsbräuche in andere Regionen schließen. Die Motive für diese Praxis liegen jedoch weiterhin im Dunkeln. Auch eine grundsätzliche Frage bleibt ungeklärt: Lebten die Toten in den Häusern zusammen oder wurden sie lediglich dort bestattet?
Bestattungsarrangements,
die vom Familienmuster abweichen, wurden im ethnologischen Kontext
schon früh entdeckt. So beschrieb Sarah Musgrave bereits 1930 eine
Tradition der australischen Aborigenes, bei der tote Kinder mit dem
nächsten männlichen Erwachsenen begraben wurden, der nach ihnen starb.
Solche Traditionen führen dazu, dass man wie in Çatalhöyük keine
genetischen Gemeinsamkeiten zwischen den Bestatteten entdeckt.
Für eine Bestattungsgemeinschaft könnte auch die reiche Symbolik in den Wohngebäuden Çatalhöyüks sprechen. Güneş Duru, Mitautorin der jüngsten Studie, hält sie für ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Siedlungen des keramischen und akeramischen Neolithikums: »Es gibt viele symbolische Ähnlichkeiten in den Häusern Çatalhöyüks, die wir in der materiellen Kultur verfolgen können. In Aşıklı Höyük sehen wir dieses Ausmaß an symbolischen Objekten nicht«.
Die Anthropologin Barbara Mills erinnern die wiederkehrenden Symbole auf Wandgemälden und Reliefs an die Pueblogesellschaften des amerikanischen Südwestens. Dort sind sie ein Erkennungszeichen von so genannten Sodalitäten, die eine Schlüsselrolle in der sozialen Organisation der Gemeinschaften spielen. Mills, die lange Mitglied von Hodders Ausgrabungsteam war, vermutet, dass es solche religiösen Netzwerke auch in Çatalhöyük gab und dass sie den Begräbnisort wesentlich mitbestimmten. Auch wenn ihre Angehörigen nicht zusammenwohnen, begründen Sodalitäten einen Bund weit über die Abstammung hinaus. So haben beim indigenen Stamm der Zuni die Kinder neben ihren leiblichen Eltern »Zeremonien-Eltern« außerhalb des Clans.
Ian Hodder geht davon aus, dass auch in Çatalhöyük Kinder »zwei Sets von Eltern« hatten: die biologischen und diejenigen, mit denen sie zusammenlebten. Letztere hätten als Adoptiv- oder Pflegeeltern die soziale Elternschaft für die Kinder übernommen. So seien in den Häusern »fiktive Familien« entstanden, zusammengehalten durch gemeinsame Arbeit und geteilte Erinnerungen.
Reiche Symbolik | Räume in Çatalhöyük waren
vielfach mit Wandgemälden versehen, ein häufiges Thema waren
Jagddarstellungen. In dieser Rekonstruktion ist ein Hirsch von Menschen
umringt, die Jagd auf ihn machen.
Kinder wurden, so glaubt Hodder, wohl schon bald
nach der Geburt von ihren Eltern getrennt, und zwar mit deren
Einwilligung. Das könnte mit dem egalitären Selbstverständnis der
Bewohner zusammenhängen. In der Siedlung waren materielle Privilegien
anscheinend verpönt. So verzichtete man nicht nur Herrschaftsgebäude,
sondern auch auf Unterschiede im Wert und Umfang der Grabbeigaben. Die
Trennung von biologischen Eltern und Kindern könnte ein Mittel gewesen
sein, »eine Verbindung der Häuser mit der Kernfamilie und ihren
Auswirkungen auf die Besitzverhältnisse zu verhindern«, wie Hodder per
E-Mail erklärt. Sie hätte der Vermeidung sozialer Ungleichheit durch
Vererbung gedient.
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Was für uns schwer vorstellbar erscheint, hat durchaus
historische und ethnographische Parallelen. So ist es in vielen
westafrikanischen Gesellschaften Brauch, Kinder zu Pflegeeltern zu
geben. Bei den Baatombu in Nordbenin werden sie zum Beispiel kurz nach
dem Abstillen von ihren biologischen Eltern getrennt, wie die Ethnologin
Erdmute Alber nachweist. Solche Praktiken sind aus anderen
afrikanischen Ländern, aber auch aus Alaska, China und Papua-Neuguinea
bekannt. Auch in Westeuropa war es lange Zeit üblich, Kinder in
Pflegefamilien zu geben, bis sich die Idee der Kernfamilie als
Grundbaustein der Gesellschaft durchsetzte.
Ethnien außerhalb des euro-amerikanischen Raums haben oft Vorstellungen von Verwandtschaft, die nicht ausschließlich auf biologischer Abstammung basieren. Die »New Kinship Studies« in der Anthropologie betrachten die Idee der Blutsverwandtschaft daher als westliches Konzept. Für sie ist der Zusammenhang zwischen Genen und Verwandtschaft ein imaginäres Konstrukt, das nicht in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit Gültigkeit hat.
In ähnlicher Weise wird auch in der Archäologie ein biologisch begründeter Verwandtschaftsbegriff zunehmend in Frage gestellt. So argumentieren die amerikanischen Archäologen Kent M. Johnson und Kathleen S. Paul, biologische Verwandtschaft sei zwar eine universelle Realität, ihre soziale Bedeutung variiere aber stark. Eine rein auf Fortpflanzung basierende Vorstellung von Zusammengehörigkeit werde der komplexen Realität früher Gesellschaften nicht gerecht. Sie plädieren stattdessen für einen flexibleren Verwandtschaftsbegriff, der andere Formen von Verbundenheit mit einbezieht. Die Funde in den jungsteinzeitlichen Gräbern Anatoliens sprechen dafür, dass auch in der Archäologie Verwandtschaft neu gedacht werden muss.