Freitag, 29. Oktober 2021

Überkompensation.

 
aus nzz.ch, 8. 6. 2021                 Die besten Rollstuhlsportler legen 100 Meter in weniger als 15 Sekunden zurück – schneller als fast alle auf zwei Beinen. (Nahaufnahme des Australiers Rheed McCracken vor einem Start bei den World Para Athletics Championships in London, 2017.)

 
Hart, aber erfolgversprechend: warum es von Vorteil ist, sich als Täter des eigenen Lebens – statt als Opfer der Umstände – zu verstehen 
Die psychologische Forschung sagt es schon lange: Gestalten macht Menschen glücklicher als erleiden. Dennoch tun sich manche schwer damit, sich als Gestalter des eigenen Schicksals zu verstehen. Umso beeindruckender ist, was Menschen mit Behinderung zustande bringen.
 
von Rainer Zitelmann

Ein Geiger ohne Arme, das ist ein Mensch, den es für den Hausverstand eigentlich nicht geben kann – und der doch gelebt hat. Er hiess Carl Hermann Unthan (1848–1929), und Peter Sloterdijk hat ihn in seinem Buch «Du musst dein Leben ändern» porträtiert. Sloterdijk zählt den armlosen Geiger zu den Menschen, die viel aus sich zu machen wussten, obwohl angesichts der Startbedingungen alles dafür sprach, dass sie nichts oder wenig aus sich würden machen können. Und dann folgt dieses betörende Fazit des Philosophen über den westpreussischen Violinisten und Artisten: «Er bleibt der Täter seines Lebens und wird kein Kollaborateur der vorgeblich übermächtigen Umstände.»

Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass sich erfolglose Menschen eher als Opfer äusserer Umstände begreifen und erfolgreiche Menschen als Gestalter ihres eigenen Schicksals. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von «externaler» versus «internaler» Kontrollüberzeugung. Heute ist es geradezu Mode geworden, sich als Opfer zu sehen (was natürlich nicht heisst, dass es tatsächlich immer mehr Opfer gibt). Dies hat manche Zeitdiagnostiker zur treffenden These inspiriert, dass wir einen Opferwettbewerb erleben. Und ja, es stimmt, die Identitätspolitik, die Individuen auf Gruppenmerkmale reduziert, beruht geradezu auf der Verklärung des Opferstatus.

Ihre Anhänger wollen sich – bzw. jene, die sie zu vertreten vorgeben – in erster Linie als Teil einer Gruppe sehen, bevorzugt als Teil einer diskriminierten Minderheit. Basis der Identität jedes Einzelnen ist die Zugehörigkeit zu einer «benachteiligten» Gruppe. Die eigene Situation soll nicht vor allem durch individuelles Leistungsstreben verbessert werden, sondern durch Rechte oder Sonderrechte für das eigene Kollektiv, die auf politischer Ebene erkämpft werden. Das vermeintlich diskriminierte «Wir» steht im Vordergrund des Denkens und Handelns: Politik soll das Leben der Gruppe verbessern und damit dann auch mein eigenes, falls ich mich dieser Gruppe zurechnen lassen kann.

Sei kein Opfer!

Ich habe mich mit erfolgreichen Menschen mit Behinderung beschäftigt, für die genau das Gegenteil zutrifft, und ein Buch über sie geschrieben. Diese Menschen wollen gerade nicht vor allem als Behinderte wahrgenommen werden. Wer etwa ein Interview mit dem blinden Sänger Andrea Bocelli führen will, bekommt bereits zuvor vom Management mitgeteilt, dass Bocelli keine Fragen zu seiner Blindheit beantworten werde. Die (fast) blinde Läuferin und Olympiateilnehmerin Marla Runyan war nach ihren sportlichen Siegen über nichts mehr enttäuscht als darüber, dass die Journalisten mit ihr über ihre Blindheit sprechen wollten – statt über den Verlauf des Wettkampfes.

Felix Klieser ist ein junger Mann aus Hannover, er gilt als einer der besten Hornisten der Welt. Auch er wurde – wie der Geiger, über den Sloterdijk schreibt – ohne Arme geboren. So wie alle erfolgreichen Menschen sieht Klieser sich als Gestalter des eigenen Schicksals und nicht als Opfer widriger Umstände: «Ich hätte natürlich auch meine Energie darauf verwenden können, mich selbst zu bemitleiden und der Welt zu erzählen, wie gemein alles ist», sagte er mir. «Aber jeder, der dies mal getan hat, wird sehr schnell merken, dass es zu keinem verbesserten Ergebnis führt.»

Dass Menschen nicht auf eine einzige Eigenschaft oder Dimension ihres Daseins reduziert werden wollen, ist eigentlich eine Banalität. Keine gepflegte Frau möchte auf ihre Schönheit reduziert werden, kein erfolgreicher Mann auf seinen Reichtum, und die Menschen mit Behinderung, über die ich geschrieben habe, wollen vor allem eines nicht: auf ihre Behinderung reduziert werden.

Der blinde Galerist

Ich sprach mit dem Galeristen Johann König, einem der erfolgreichsten Kunsthändler Deutschlands, der auch international ein hohes Renommee besitzt. Als er seine erste Galerie eröffnete, war er fast blind. Heute, nach insgesamt etwa 30 Operationen, kann er wieder zu 30 bis 40 Prozent sehen. König hat es verstanden, einen Nachteil – die Sehbehinderung – in einen Vorteil umzumünzen. «Paradoxerweise», so schreibt er in seinem Buch «Blinder Galerist», «ist es wahrscheinlich so, dass meine Sehbehinderung an meinem Erfolg einen nicht unwesentlichen Anteil hat.» Die Blindheit intensiviere gewisse Empfindungen, fast wie eine Droge. Die innere Konzentration und Wahrnehmungssteigerung, durch die er das schlechte Sehen kompensierte, habe ihm dabei geholfen, «das zu definieren, was ich ganz persönlich unter Kunst verstehe».

Inzwischen relativiert König diese Einschätzung etwas: Nein, man solle Behinderung nicht romantisch verklären. Behinderung sei ein Nachteil, das könne man nicht wegargumentieren, meinte er im Gespräch mit mir. Aber: «Man muss ja das Unabänderliche akzeptieren und dann sehen, wie man das Beste daraus macht. Ich sah für mich damals auch gar keine andere Alternative.»

Stephen Hawking ist, wie eine Befragung ergab, in den USA der bekannteste «Erfolgreiche mit Behinderung». Auch in Deutschland wurde bei einer Allensbach-Befragung nur noch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble von mehr Menschen genannt als Hawking, wenn man sie nach Prominenten mit Handicaps fragte. Statt sich selbst zu bemitleiden und über seine Behinderung zu klagen, sah Hawking sie in bestimmten Situationen als grossen Vorteil.

In seiner Autobiografie schreibt er: «Ich brauchte keine Vorlesungen zu halten und keine Studienanfänger zu unterrichten, und ich musste nicht an langweiligen und zeitraubenden Institutssitzungen teilnehmen. Auf diese Weise konnte ich mich uneingeschränkt meiner Forschung hingeben.» Seiner Meinung nach sollten sich behinderte Menschen «auf die Dinge konzentrieren, die ihnen möglich sind, statt solchen hinterherzutrauern, die ihnen nicht möglich sind».

Der blinde Bergsteiger

Besonders beeindruckt hat mich Erik Weihenmayer. Der Amerikaner hat vor 20 Jahren als erster Blinder den Mount Everest bestiegen. Und er gehört zu den wenigen Menschen, die die «Seven Summits», also die sieben höchsten Gipfel auf sieben Kontinenten, bestiegen haben. Im Gespräch, das ich zu meinem Buch führte, berichtete er: «Jeden Tag verbringe ich 15 Minuten damit, mir vorzustellen, oben auf dem Gipfel zu stehen – bis zu dem Punkt, an dem ich praktisch das Knirschen des Schnees unter meinen Steigeisen höre. Ich höre die Seile, fühle den Himmel, einfach nur die Kälte, und ich fühle die Herzen meiner Teamkameraden, fühle die Tränen. Ich breche buchstäblich in Tränen aus, weil ich tatsächlich dort bin... Und als ich oben auf dem Everest stand, hatte ich ihn in Wirklichkeit zuvor schon hundertmal in Gedanken bestiegen. Ich denke daher, dass diese Art eines Glaubenssystems und dessen Einprogrammierung in das Unterbewusstsein enorm wichtig sind, um es wirklich dorthin zu schaffen.»

Weihenmayer setzt sich für andere Behinderte ein. Dabei zielen seine Anstrengungen nicht auf politische Rechte und Quoten, sein Mittel ist nicht die Anklage gegen die Gesellschaft. Vielmehr setzt er darauf, andere Menschen zu ermächtigen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und ihnen zu zeigen, was sie können.

Weihenmayer gründete die Organisation No Barriers, die behinderten Menschen hilft, ihre Grenzen zu sprengen. Das Motto der Organisation lautet: «What’s within you is stronger than what’s in your way.» Drei Jahre nachdem er selbst den Mount Everest bezwungen hatte, bestieg er zusammen mit sechs Kindern einer Blindenschule in Lhasa einen Berg in der Nähe des höchsten Gipfels der Welt. Der sehenswerte Film «Blindsight» dokumentiert dieses Abenteuer.

Es geht um Individualismus oder Kollektivismus. Anhänger der Identitätspolitik sprechen stets vom «Wir». Sie klagen Vertreter der Mehrheitsgesellschaft an, die Minderheiten zu diskriminieren und sie ihrer Lebenschancen zu berauben. Die erfolgreichen Menschen mit Behinderung, mit denen ich gesprochen oder deren Biografien ich analysiert habe, klagen niemanden an. Selbst dann nicht, wenn sie massive Probleme haben.

Am Anfang steht die Entscheidung

Eindrücklich in dieser Hinsicht ist Ray Charles, der auch als «Hohepriester des Souls» bezeichnet wird. In der Liste der «besten Sänger aller Zeiten» des Magazins «Rolling Stone» steht er von allen Männern auf Platz 1 und damit vor Superstars wie Elvis Presley, John Lennon oder Bob Dylan. Lediglich eine Sängerin, Aretha Franklin, rangiert vor ihm und verweist ihn damit auf den Gesamtplatz 2 der «100 Greatest». Er war nicht nur Sänger, sondern auch Songwriter und Produzent und erhielt bei 37 Nominierungen 17-mal die begehrte Grammy-Auszeichnung. Mit einem Nettovermögen von 100 Millionen Dollar war er zudem einer der vermögendsten Sänger seiner Zeit.

Aber es gab auch eine dunkle Seite in seinem Leben. 16 Jahre lang war Charles heroinabhängig. Doch er gab weder äusseren Umständen noch seiner Behinderung oder erlittenen Diskriminierungen die Schuld an seinem Drogenkonsum. In seiner Autobiografie schreibt er: «Niemand hat mir das angetan. Ich selbst habe es mir angetan. Es war nicht die Gesellschaft, es war kein Dealer, es war nicht die Tatsache, dass ich blind war oder schwarz oder arm. Es war alles meine Entscheidung.»

Das ist es: Täter des eigenen Lebens zu sein, im Schlechten wie im Guten. Sloterdijk nennt eine solche Philosophie existenzialistisch. Sie sei für erfolgreiche Menschen mit Behinderung charakteristisch – «die Figur der Selbstwahl, kraft welcher das Subjekt etwas aus dem macht, was aus ihm gemacht wurde».

Dem gegenüber steht die Philosophie der Identitätspolitiker, die den Menschen erklärt: «Du bist ein Opfer der Umstände, und du hast innerhalb dieser Strukturen keine Chance auf ein besseres Leben – deshalb schliesse dich uns an und kämpfe gegen die Strukturen.»

Wer Menschen zu Opfern macht, macht sie hilflos und machtlos. Dagegen können Beispiele von Menschen, die trotz – und manchmal sogar gerade wegen – widrigen äusseren Umständen ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen, ermutigen. Sie stehen für Kraft statt für Hilflosigkeit.

Ludwig van Beethoven komponierte seine 9. Symphonie, als er schon fast taub (und im Übrigen auch halb blind) war. Seinem Freund Nikolaus Zmeskall hatte er geschrieben: «Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor anderen auszeichnen, und sie ist auch die meinige.»

Rainer Zitelmann ist Historiker und Soziologe. Im Juni erscheint im Finanzbuch-Verlag sein Buch «Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können».

 

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