aus zeit.de, 9. 11. 2021
Viel spricht also dafür, dass Merz bald die CDU
führen wird. Noch mehr deutet allerdings darauf hin, dass er die Partei
weit weniger prägen wird, als er das im Augenblick vermutlich selbst
glaubt.
Da ist, erstens, die Ausgangslage: Merz ist deutlich konservativer als alles, was die CDU so zuletzt im Angebot hatte. Er polarisiert damit die eigene Partei. Das wird selbst jemand wie Merz nach innen damit kompensieren müssen, dass er seine fünf Stellvertreter, den Generalsekretärsposten und den Vorstand der Bundestagsfraktion mit Jungen, Liberalen und – im Idealfall – Frauen besetzt. Bei seinen letzten Kandidaturen galt er als der Solitär – auch das wird als Grund für seine Niederlagen betrachtet. Daraus scheint er gelernt zu haben und nun seine Fähigkeiten als Integrator testen zu wollen.
Das
Teambuilding läuft derzeit, jeder spricht mit jedem. Ergebnis: noch
offen. Ebenso wie die Frage: Hätte denn eine junge, liberale Frau
überhaupt Lust, unter einem Parteichef Merz das Adenauer-Haus als
Generalsekretärin zu leiten?
Aufs Team kommt es umso mehr an, da Merz weitere Aspiranten wird abfinden müssen – Gesundheitsminister Jens Spahn
etwa oder den Wirtschaftspolitiker Carsten Linnemann. Und weil ja
selbst Merz ahnen dürfte, dass er in der etwas breiteren Öffentlichkeit
kaum als der Kandidat wahrgenommen wird, der glaubhaft für Aufbruch und
Erneuerung steht, braucht er die Generation 40 plus dringend an seiner
Seite. Das heißt: Selbst wenn die Basis Merz mit einem starken Ergebnis
ausstatten sollte – durchregieren kann er nicht. Er ist auf die anderen
angewiesen.
Zweitens: Merz könnte als
CDU-Chef schnell Geschichte sein. Nächstes Jahr stehen vier
Landtagswahlen an. In drei Ländern könnte die CDU die Staatskanzlei
verlieren. Sollte Mitte Mai die Wahl im so wichtigen Flächenland NRW
schiefgehen, wäre das für jeden neuen Parteivorsitzenden ein schwerer
Schlag. Gut möglich also, dass Merz’ Vertrauensvorschuss als neuer
Parteichef binnen weniger Wochen verbraucht ist. Und intern seine
Autorität schwindet und die Führungsfrage gestellt wird. Ein ähnlicher
Horror-Start mit gleich mehreren Wahlniederlagen war letztlich der
Anfang vom Ende von Annegret Kramp-Karrenbauer als Parteichefin.
Parteichefs werden auf zwei
Jahre gewählt. Nicht ausgeschlossen, dass Merz danach derart verspielt
hat, dass er gar nicht mehr antreten kann.
Das wird drittens umso wahrscheinlicher, je näher die nächste Bundestagswahl rückt. Und damit die Frage: Wer wird Kanzlerkandidat? Dafür müssten CDU und CSU nach den Erfahrungen des Frühjahrs schleunigst ein geordnetes Verfahren finden, auch wenn für so grundlegende Fragen derzeit keiner einen Kopf zu haben scheint. In jedem Fall werden CDU und CSU versuchen, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Und die CSU wird, solange Markus Söder da noch was zu melden hat, alles daran setzen, dass das nicht Merz wird. Das Verhältnis der beiden gilt als irreparabel. Und ein CDU-Chef, der nicht Kanzlerkandidat wird, wird schnell zur Lame Duck. Und vermutlich nicht mehr allzu lange Parteichef bleiben. Zu kurz jedenfalls, um eine Ära zu prägen.
Nota. - Hoffentlich nicht einmal vorübergehen: Wo sie einem Kopf für morgen bräuchten, einen, sagen wir mal, Hintermann von gestern zu wählen - das wäre nicht nur verlorene Zeit. Das wäre ein Zurück auf Anfang.
Ich werd mir nicht das Maul verbrennen und für Norbert Röttgen Reklame machen. Wäre er nicht mehr als der Vertreter des liberalen Flügels der CDU, wäre er auch nur Platzhalter für einen, den sie wirklich brauchen. Nämlich einen, der das wirkliche Vermächtnis von Angela Merkel übernimmt. Die hat im Jahr 2015 zweimal - erst in der Krise um Griechenland, dann in der historischen Flüchtlingskrise - gezeigt, was Deutschlands Bestimmung ist: Europa zusam-menführen, um seinen Platz in der Welt zu behaupten.
Gezeigt hat sie es; aber wahrgenommen wurde es drinnen so wenig wie draußen. Heute klingt es fast bockig, wenn sie sagt, 'das' hätten wir geschafft. Schlecht und recht haben wirs ge-schafft, ohne dass wirklich ein Schaden entstanden wäre. Aber das ist leider auch alles. Worum es eigentlich ging: Eine historische Herausforderung, die, wie wir an der polnischen Ostgrenze sehen, noch lange Weltpolitik machen wird, als europäische Aufgabe wahrzunehmen - das ist in den Niederungen des bundesdeutschen Klein-Kleins untergangen. Aber sie wird uns er-haltenbleiben und gar noch anwachsen. An ihr wird sich Europa bewähren - oder auseinan-derfallen.
Das ist keine Frage von eher liberaler oder eher konservativer Herzensneigung. Es ist eine weltpolitische und eine historische Frage. Wer in Deutschland das Ruder ergreifen will, muss an diesem Punkt seine Qualifkation glaubhaft machen. Einen andern dürfen wir uns auch "vorübergehnd" gar nicht erst überhelfen lassen.
JE
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