aus welt.de, 31. 12. 2021
Wäre Scholz länger Kanzler, er würde das wiederholen, was er in diversen Bundestagsreden gesagt hat; da er eigentlich noch gar nicht angefangen hat zu regieren, kann er nur wiederholen, was im Ampelkoalitionsvertrag steht.
Und so kommt dabei eine Rede heraus, die man als Langeweile, mit Floskeln garniert bezeichnen kann. Die Floskeln sind: „Herausforderungen entschlossen annehmen, alle zusammen anpacken, riesige Solidarität, überwältigende Hilfsbereitschaft, neues Zusammenrücken, starke Gemeinschaft, Respekt voreinander, schnell und entschlossen reagieren, Jahrzehnt des Aufbruchs, ehrgeizige Ziele, massive Investitionen neuen Wohlstand, gute Arbeitsplätze, Gemeinschaft, Respekt, Anerkennung und gute Lebenschancen für alle, Fortschritt für eine bessere Welt, Europa, gemeinsame Werte, Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, eine neue Zeit, aktiv gestalten, unser Schicksal entschlossen selbst in die Hand nehmen, zusammen bleiben.“
Die Langeweile lautet im ersten Teil der Rede: Lassen Sie sich bitte impfen. Im zweiten Teil die Kurzfassung des Ampelprogramms: Deutschland Klimaneutral bis 2045, 12 Euro Mindestlohn, souveränes Europa, transatlantische Partnerschaft. Wir schaffen das. Ach nein, das war die vorige Amtsinhaberin.
Wir werden es aber nicht schaffen, wenn wir uns an das halten, was Scholz sagt. Nehmen wir die Ankündigung eines fossilfreien Energiesektors bis 2045: „Wir werden uns in diesem Zeitraum unabhängig machen von Kohle, Öl und Gas“, so Scholz. „Und gleichzeitig mindestens doppelt so viel Strom als heute aus Wind, Sonne und anderen erneuerbaren Energien erzeugen.“
Heute decken diese erneuerbaren Energiequellen etwa 45 Prozent unseres Strombedarfs. Eine Verdoppelung würde bedeuten, dass sie im Jahre 2045 90 Prozent unseres jetzigen Strombedarfs decken. Dabei steigt der Strombedarf nach Expertenberechnungen um 50 Prozent. Aus welchen Quellen will Scholz diese Lücke schließen? Gut, das kann ihm egal sein, er wird dann nicht mehr Kanzler sein.
Uns kann das aber nicht egal sein. Neujahr hin und her: Hier wird mehr verlangt als „alle gemeinsam miteinander zusammen geschlossen anpacken“. Hier wird ein Plan verlangt. Und der fehlt.
Ebenso wie ein Plan fehlt, wie man die Impfquote steigert. Einfach einen General einsetzen, um die Kampagne zu managen, reicht nicht. Man führt ja keinen Krieg gegen das Virus. Man muss ja die Menschen überzeugen.
Wenn Scholz fast beschwörend meint, das Land sei nicht gespalten, das Gegenteil sei richtig, er erlebe überall „eine riesige Solidarität, überwältigende Hilfsbereitschaft, ein neues Zusammenrücken und Unterhaken“, dann lebt er, wie bei der Energieerzeugung, in einem parallelen Deutschland.
Zu sagen, Scholz habe eine Gelegenheit versemmelt, etwas Gehaltvolles zu sagen, wäre unfair. Er hatte die Gelegenheit gar nicht. Die Neujahrsansprache soll ja möglichst nichtssagend sein und niemandem die Stimmung verderben.
Wer, wie wir Journalisten, genau hinhört und sich über Ungereimtheiten ärgert, ist selber schuld. Ja, aber wenigstens ein paar neue Floskeln hätten es sein können, oder? Andererseits: Wieso? Wir gucken auch jedes Jahr „Dinner for One“ und verlangen auch nicht, dass Freddie Frinton über etwas anderes stolpert als einen Tigerkopf. Also: Same procedure as every year. Skol!
Nota. - Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich auf meinem Blog einmal den Leitartikel aus Axel Springes Welt wiedergeben würde. Aber dass Scholz einmal Bundeskanzler würde, habe ich mir auch nicht träumen lassen. Doch nachdem sich die Union als gestaltende Kraft aus dem politischen Geschäft genommen hat, kann eine scharfe Mitte nur noch von dieser Koalition erhofft werden. Muss man wohl auch dafür in einer Parallelwelt spinnen?
JE
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