Von
Peter Burschel
Historiker entdecken seit geraumer Zeit das Meer – oder besser vielleicht: Sie entdecken es wieder. Längst ist von einer „ozeanischen Wende“ die Rede, längst von einer „neuen Thalassologie“, längst wird von „historischer Meereswissenschaft“ gesprochen. Kaum ein Meer, das in den vergangenen Jahren ohne Monographie, ja ohne Biographie geblieben wäre. Die Gründe für diesen – immer noch zunehmenden und keineswegs auf die Geschichtswissenschaft beschränkten – Trend sind vielfältig: So spielt ohne Frage das anhaltende Interesse an Globalgeschichte eine Rolle, das in vielen Fällen mit der (nicht nur postkolonialen) Absicht einhergeht, europäische Sichtweisen zu „provinzialisieren“.
Hinzu kommt das Bewusstsein, dass die historische Untersuchung maritimer Räume als Räume ohne Ort und ohne Grenze dazu beitragen kann, methodische Engführungen zu überwinden, nicht zuletzt solche nationaler Provenienz. Ganz zu schweigen von den inter- und transdisziplinären Chancen, die das räumliche und zeitliche „Dazwischen“ des Meeres eröffnet. Schließlich: Es scheint außer Frage zu stehen, dass die Entdeckung beziehungsweise Wiederentdeckung des Meeres als eines historischen (und historiographischen) Möglichkeitsraums auch mit der wachsenden Einsicht in die Gefährdung, wenn nicht in den Verlust des Meeres einhergeht.
Mobilität, Dynamik, Kommunikation
Obwohl auch die neue historische Meereswissenschaft weiß, was sie an Fernand Braudels erstmals 1949 erschienenem epochalen Mittelmeerbuch hat – „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ –, setzt sie alles in allem doch weniger auf die naturräumlichen Veränderungen langer Dauer als auf die jeweiligen Verbindungen, die das Meer ausmachen und die ein Meer mit anderen Meeren korrespondieren lassen. Verbindungen, die historisch durchaus auch kurze Laufzeiten haben können. Nicht dass dabei die braudelschen Zeitebenen langer und mittlerer Dauer in Vergessenheit geraten wären. Das heutige historische Interesse am Meer aber geht eben in eine andere Richtung. Meer, das ist in den aktuellen Forschungsdiskursen vor allem Bewegung – und damit Begegnung, Beziehung, Netzwerk.
Auch das vorliegende Buch folgt dieser Tendenz. Im Grunde sind Mobilität, Dynamik und Kommunikation seine impliziten Leitbegriffe. 2019 erstmals in Anlehnung an ein Shakespeare-Wort als „The Boundless Sea“ erschienen, bringt der englische Untertitel dieses Programm besser zum Ausdruck als der deutsche: „A Human History of the Oceans“. Der Verfasser, der in Cambridge lehrende Historiker David Abulafia, gliedert sein Buch in fünf Teile, von denen die ersten drei den einzelnen Ozeanen gewidmet sind: dem Pazifik, dem Indischen Ozean und seinen west- und ostasiatischen Nachbarn sowie dem Atlantik. Am Rande nur: Aus historiographischer Perspektive ist diese Reihenfolge eher ungewöhnlich, fand doch der Atlantik deutlich früher die Aufmerksamkeit der historischen Forschung als der Pazifik. Vom Mittelmeer ganz zu schweigen.
Maritime Expansion
In allen drei Teilen geht der Verfasser in prähistorische Zeiten zurück, um sie schließlich jeweils im ausgehenden europäischen Mittelalter enden zu lassen. Während in diesen Teilen die räumlichen Binnenbewegungen und Binnenbeziehungen im Mittelpunkt stehen, die ein Meer zum Meer werden lassen, nimmt der vierte Teil den nachhaltig beschleunigten – und sich qualitativ wie quantitativ erstaunlich rasch intensivierenden – „menschlichen“ Austausch zwischen den Meeren beziehungsweise zwischen den Ozeanen seit der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus in den Blick. Die englische Ausgabe spricht von „Oceans in Conversion“.
Der vierte Teil, mit fast vierhundert Seiten der umfänglichste des Buches, lässt in aller Deutlichkeit erkennen, dass die frühe Neuzeit – und nicht nur die europäische frühe Neuzeit – mit ihrem „langen“ achtzehnten Jahrhundert eine durch und durch maritime Epoche war. Hier ist der Verfasser nebenbei bemerkt ganz bei sich. Der fünfte Teil, der vor allem der maritimen Expansion der Industrienationen seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gewidmet ist, hat im Vergleich dazu eher den Charakter eines resignativen Ausblicks, an dessen Ende das Ende des Meeres steht, wie wir es kennen: „Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die maritime Welt der letzten vier Jahrtausende aufgehört zu existieren.“
Ein Bewegungs- und Begegnungsraum
Keine Frage, der Verfasser „bevorzugt“ wie schon in seinem Buch über das Mittelmeer die maritime Vormoderne seit dem späten Mittelalter gegenüber anderen Epochen, vor allem gegenüber der maritimen Moderne. Und keine Frage auch, dass ihm dabei kulturgeschichtliche und kulturanthropologische Fragen näher liegen als ökonomische, ökologische oder landläufig politische. Dennoch muss nachdrücklich betont werden: Es gibt kein Feld, kein Sujet, kein Konzept der neuen historischen Meereswissenschaft, das ihm fremd ist, um welche Epoche, um welche Weltgegend es auch geht. Ein Befund, der auch damit zu tun hat, dass er nicht nur englischsprachige Forschungsliteratur zur Kenntnis nimmt.
Gewiss hat David Abulafia hat ein Buch geschrieben, das mit einigem Recht als theoriefern bezeichnet werden kann, fast möchte man sagen: als selbstbewusst theoriefern; ein Buch, das auf „Meistererzählungen“ (welcher Reichweite auch immer) geradezu demonstrativ verzichtet; ein Buch zudem, das keine „große“ These hat. Und doch ist es mehr als die monumentale – und ganz bewusst offen verstandene – Einladung zu einer lehrreich-unterhaltsamen Lektüre, sehr viel mehr. Indem es dem Verfasser gelingt, die Kapitel seines „großen Textes“ als Studien zu konzipieren, die auf der einen Seite eine gewisse Autonomie beanspruchen dürfen, die auf der anderen aber vielfältig (und in vielen Fällen bis ins Detail) aufeinander bezogen und miteinander verknüpft sind, lässt er sein Buch zu einem dynamischen, regelrecht kaleidoskopischen Bewegungs- und Begegnungsraum sui generis werden.
Da der Verfasser zudem bestimmte Themen wie den Sklavenhandel und den damit verbundenen (europäischen) Gewaltexport immer wieder aufruft, schafft er Leitmotive, die jene Struktur schaffen, ohne die Dynamik nicht möglich ist. In anderen Worten: Wenn das Meer Bewegung und Begegnung ist, dann hat es mit diesem Buch ein zugewandtes, ein wunderbares Gegenüber erhalten.
David Abulafia: „Das unendliche Meer“. Die große Weltgeschichte der Ozeane. Aus dem Englischen von Michael und Laura Su Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 1132 S., geb., 68,– €.
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