aus Der Standard, Wien, 8. 12. 2021
US-Präsident Joe Bidens ehrgeiziges Infrastruktur- und Sozialprogramm "Build Back Better" wird von zwei regelmäßig als "Zentristen" bezeichneten demokratischen Senatoren – nämlich Kyrsten Sinema aus Arizona und Joe Manchin aus West Virginia – torpediert und behindert. Zahlreiche Beobachter fragen sich, was diese Zuschreibung als Zentristen im Jahr 2021 eigentlich bedeutet. Nicht nur Zyniker vermuten, dass diese beiden Persönlichkeiten weniger zentristisch als vielmehr egozentrisch agieren und nur vom Imperativ der Wiederwahl geleitet sind.
Nach welchen Kriterien sind Zentristen zu beurteilen? Diese Frage ist nicht nur in den Vereinigten Staaten in den Vordergrund gerückt, sondern auch in Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron – der versprach, in der französischen Politik eine neue Mitte aufzubauen – im nächsten Frühjahr seine Wiederwahl anstrebt. Wie im Falle der beiden US-Senatoren betrachten Kritiker Macrons Zentrismus als Deckmantel eines Politikers, der faktisch nach der Pfeife der Rechten tanzt, weswegen die Bezeichnung "der Präsident der Reichen" gerechtfertigt erscheint.
Die Frage lautet also nicht mehr, ob die politische Mitte halten kann, sondern ob der Zentrismus in der heutigen Politik überhaupt noch irgendeine Bedeutung hat. Der Begriff war im 20. Jahrhundert überaus sinnvoll, also in einer Zeit, die vielfach als Zeitalter ideologischer Extreme verstanden wurde. Die Zugehörigkeit zur politischen Mitte bedeutete, sich im Kampf gegen antidemokratische Parteien und Bewegungen zu engagieren. Aber schon damals wurde selbsternannten Zentristen oftmals Arglist vorgeworfen. Mit der ihm eigenen Ironie zählte sich der Philosoph Isaiah Berlin, ein Liberaler par excellence, zu den "elenden Zentristen, den verachtenswerten Gemäßigten, den kryptoreaktionären skeptischen Intellektuellen".
Während diese früheren selbsternannten Zentristen von den Verdiensten zehrten, die sie sich im Kampf gegen Faschismus und Stalinismus erworben hatten, ist das Vermächtnis der selbstbewusst gemäßigten Politik inzwischen verblasst. In vielen Ländern besteht heute eine Art Zombie-Zentrismus – ein Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges, das seinen Anhängern keine echte politische Orientierung mehr bietet.
Spektakulär gescheitert
Die deutschen Christdemokraten bekamen das kürzlich deutlich zu spüren. Bei den Bundestagswahlen im September scheiterten sie spektakulär mit ihrem Versuch, die politische Mitte gegen eine mögliche Koalition aus Sozialdemokraten und der postkommunistischen Linkspartei für sich zu beanspruchen. Die antikommunistische Kampagne der Christdemokraten, die direkt aus den 1950er-Jahren zu stammen schien, war ganz offensichtlich nicht auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ausgerichtet.
Dennoch bestehen weiterhin zwei Formen des Zentrismus, die sich nicht auf den Zombie-Liberalismus des Kalten Krieges zurückführen lassen. Die eine Form ist prozeduraler Natur: In Systemen mit Gewaltenteilung wie in den USA sind die Politiker gezwungen, sich in der Kunst des Kompromisses zu üben; dies umso mehr in einer Zeit, in der klare Mehrheiten in den Parlamentskammern selten geworden sind.
Ein ähnlicher Imperativ gilt für die zunehmend zersplitterten europäischen Parteiensysteme. Im niederländischen Parlament sind derzeit nicht weniger als 17 Parteien vertreten (oder – je nach Zählweise – sogar mehr). Und nach wochenlangen Verhandlungen hat Deutschland eine Regierung, in der Sozialdemokraten und Grüne eine Ampelkoalition mit den wirtschaftsfreundlichen Freien Demokraten bilden.
Nicht auf Kompromisse erpicht
Die Zersplitterung – ob institutionell oder politisch – zwingt Politiker zu einer vom niederländischen Philosophen Frank Ankersmit so bezeichneten "prinzipiellen Prinzipienlosigkeit", um die Demokratie funktionstüchtig zu erhalten. Die meisten Menschen sind schließlich nicht auf Kompromisse um ihrer selbst willen erpicht, weil niemand das Zweitbeste dem Besten vorzieht.
Die Ausnahmen bilden diejenigen, die die zweite plausible Form des Zentrismus, den positionellen Zentrismus, vertreten. Da sie Äquidistanz zwischen den politischen Polen als Beweis für ihren Pragmatismus und ihre "ideologiefreie" Ausrichtung ansehen, versuchen positionelle Zentristen oftmals von der Wertschätzung zu profitieren, die der Überparteilichkeit (insbesondere in den USA) immer noch beigemessen wird. Sie ziehen einen Nutzen daraus, vernünftig zu erscheinen, wenn die Linke und die Rechte von Scharfmachern beherrscht werden. In seinem ersten Wahlkampf hob Macron immer wieder die Radikalität seiner Gegner – der rechtsextremen Marine Le Pen und des linksextremen Jean-Luc Mélenchon – hervor, um vor Augen zu führen, dass er allein eine verantwortungsvolle Position vertritt.
Nicht automatisch demokratisch
Unter Berufung auf die – unter Antikommunisten während des Kalten Krieges überaus beliebte – "Hufeisentheorie" unterstellen Zentristen auch oft, dass Links- und Rechtspopulismus letztlich auf denselben antiliberalen Endpunkt zulaufen. Doch ebenso wie die Theoretiker des Dritten Weges in den 1990er-Jahren behaupteten auch Macrons Gefolgsleute, dass es sich bei "links" und "rechts" um überholte Bezeichnungen handle. Das ermöglichte ihnen nämlich, auch ehemalige Sozialisten und Gaullisten in ihre Bewegung aufzunehmen.
Aber Zentrismus ist nicht automatisch demokratisch. Macron, den man als "liberalen starken Mann" titulierte ist ein typisches Beispiel dafür. Seine Weder-links-noch-rechts-Haltung impliziert eine rein technokratische Form der Regierung. Man geht davon aus, dass es auf jede politische Herausforderung stets eine eindeutig rationale Antwort gibt. Kritiker können so per Definition als irrational abgetan werden. Wie Macron bei der Revolte der Gelbwesten im Jahr 2018 feststellte, kann die mit diesem Ansatz einhergehende Verweigerung des demokratischen Pluralismus heftige Gegenreaktionen hervorrufen.
Politische Polarisierung
Sowohl der prozedurale als auch der positionale Zentrismus setzen eine gut funktionierende Demokratie voraus, und beide können gefährlich werden, wenn ein Land unter einer asymmetrischen politischen Polarisierung leidet. So präsentiert sich die Situation heute in den USA, wo die Republikanische Partei grundlegende Merkmale der Demokratie nicht mehr anerkennt. Die Republikaner von heute sind mit einem riesigen Projekt, bestehend aus Wahlkreisschiebungen, Wählerunterdrückung, der Aushöhlung des allgemeinen Vertrauens in Wahlen und der Behinderung der Gesetzgebung, beschäftigt und zeigen kein Interesse an Kompromissen. Nun, da Biden im Weißen Haus waltet, folgt Mitch McConnell – Minderheitsführer im Senat und Donald Trumps widerwilliger, aber trotzdem verlässlicher Ermöglicher – demselben Schema, das er während der Präsidentschaft von Barack Obama perfektioniert hat.
Prozeduraler Zentrismus ergibt keinen Sinn, wenn die politischen Gegner die Verfahren nicht mehr respektieren, wie es jetzt bei den Republikanern der Fall ist. Für den positionellen Zentrismus präsentiert sich die Situation jedoch noch schlimmer. Wenn eine Partei die Demokratie ablehnt, bedeutet Äquidistanz Mittäterschaft. Wenn Sinema und Manchin keine über Zombie-Zentrismus, prozeduralen oder positionellen Zentrismus hinausgehende Erklärung zu ihrem Verhalten anzubieten haben, könnten sie sogar von ihren eigenen Wählern dafür bestraft werden, dass sie politische Initiativen behindern, die in Wirklichkeit überaus populär sind. (Jan-Werner Müller, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 8.12.2021)
Jan-Werner Müller ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Princeton und Fellow am New Institute in Hamburg. Sein jüngstes Buch trägt den Titel "Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie?".
Nota. - Unter Mitte wurde rund zwei Jahrhunderte lang, vom Juste milieu des Bürgerkönigs über Kaiser Willems Fraktion Drehscheibe bis zum westdeutschen Restliberalismus, eine po-litische - ja sollte ich sagen: "Kraft"? Na schön, Saugkraft ist auch eine Kraft - Kraft verstan-den, die parasitär von der gegenseitigen Blockade der äußersten Flügel zehrte. Die wurde im breiten Volk immer verachtet, und die erste katholische Volkspartei in Deuschland nannte sich wohlweislich nicht Mitte, sondern Zentrum.
In einer Zeit, in der die politischen Flügel nur noch rivalisierende Apparate und durchaus keine alternativen Gesellschaftsentwürfe mehr repräsentieren, ist sie nun auch arithmetisch ganz überflüssig. Stattdessen macht sich bedrohlich der Mangel an einer Kraft fühlbar, die aus einer im Großen Ganzen gar nicht mehr strittigen Gesellschaftsprognose einen Mainstream formt, der die Nachzügler auf beiden Flügeln an der Rand drückt, an den sie gehören, und die vorwärtsdrängenden Kräfte in Konkurrenz zu einander führt.
JE
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