aus FAZ.NET, 25. 4. 2022 Das Löwentor der Akropolis von Mykene.
Die globale Arbeitsteilung fußt auf grenzüberschreitendem Handel, sie lebt vom Bekenntnis zur (sozialen) Marktwirtschaft und weiß, dass Zölle und andere Handelsschranken den Wohlstand schmälern. Man kann dies das Grundgesetz der Globalisierung nennen, die seit der Konferenz von Bretton Woods 1944 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele Menschen aus der Armut befreit hat und ihnen Frieden und Freiheit brachte. Weltkriege, so lautete die gemeinsame Überzeugung, bedrohen Freiheit und Wohlstand und werden geächtet.
Die „Zeitenwende“, die wir gerade erleben, hebt diese Ordnung aus den Angeln: Wir leben an der Schwelle von einer regelbasierten zu einer machtzentrierten Weltordnung. Käme es so, wäre dies ein zivilisatorischer Rückfall, der aus der Postmoderne direkt in die Archaik führte. Freunde des Fortschritts mögen sich nicht vorstellen, dass solch ein Rückfall möglich werden könnte. Nicht nur, weil dies aller Rationalität widerspricht, sondern auch, weil die meisten Menschen heute in ihrem Leben stets eine Entwicklung zum Besseren erlebt haben.
Nun wissen wir aus dem Schulunterricht, dass Untergänge vorkommen: 1914 brach eine liberale europäische Friedensordnung zusammen; es folgte ein kriegerisches 20. Jahrhundert. Das britische und das römische Imperium kollabierten, obwohl Generationen von Briten und Römern sich das vermutlich niemals hätten vorstellen können.
Über die Ostertage war ich in Mykene, gelegen im Osten der griechischen Peloponnes in einer kargen, hügeligen Landschaft. Mykene war nach Troja der zweite große Coup, den der deutsche Abenteurer Heinrich Schliemann (1822– 1890) landete. Im Jahr 1876 entdeckte er, ein glühender Verehrer Homers, dort das Grab des Agamemnon und hob mit erfolgreichen Grabungen riesige Schätze von Gold und Edelmetallen.
Dass Schliemann tatsächlich das Grab des homerischen Helden entdeckt hat, wird von den Gelehrten bestritten. Doch das ist nicht mein Thema. Mich fasziniert seit dem Rundgang durch Mykene vor allem die Frage, warum diese Zivilisation plötzlich und gleich weltweit untergegangen ist. Als mykenische Kultur bezeichnen die Altertumsforscher die mediterrane Welt des Bronzezeitalters, welche die gesamte Levante-Küste umspannte: also nicht nur die Peloponnes, sondern auch die Ägäis, Kreta, Zypern, die heutige Türkei, den Libanon, Palästina und Ägypten. Überall gab es mächtige Paläste, die miteinander durch Handelsrouten verbunden waren. Eine Welt, die man als globale Gesellschaft beschreiben kann. Schon damals war die Peloponnes überzogen mit Millionen von Olivenbäumen. Das daraus gewonnene Öl wurde in großen Kannen bis nach Ägypten exportiert. Sogar eine eigene Schrift gab es in Mykene.
Um das Jahr 1200 vor Christus brach diese Kultur allüberall zusammen. Erst 500 Jahre später kam es abermals zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Blüte in der Region. Dazwischen liegen „dunkle Jahrhunderte“, in denen die Menschen vergessen zu haben scheinen, was sie einmal gekonnt hatten. Sogar die Schrift kam ihnen abhanden. Was war passiert? Die Forscher rätseln. Hypothesen sind in Umlauf. „Seevölker“, vermutlich Piraten, hatten die Städte überfallen und geplündert. Erdbeben, so meinen andere, waren eine Hauptursache des Niedergangs. Wieder andere verweisen auf den Klimawandel. Es gab eine globale Abkühlung, verbunden mit längeren Dürreperioden oder großen Niederschlägen, was Hungersnöte nach sich zog. Schließlich könnten die sozialen Spannungen zugenommen und zu revolutionären Aufständen geführt haben.
Was stimmt? Eine inspirierende – und beängstigende – Deutung vertritt der amerikanische Archäologe Eric H. Cline. Er spricht von einem „Systemkollaps“, verursacht durch unterschiedliche Faktoren, die einen Dominoeffekt auslösten: „Es war eben nicht die Invasion der Seevölker, es war nicht die Serie von Erdbeben in Griechenland, es waren nicht die Dürren, die ganze Regionen unbewohnbar machten – es war vielmehr eine Verkettung von Katastrophen.“ Kein einzelnes Ereignis hätte die Katastrophe auszulösen vermocht, die Gleichzeitigkeit aller Faktoren indes ergab einen „Multiplikatoreffekt“, der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft kollabieren ließ.
Ein konkretes Beispiel stammt von der britischen Historikerin Carol Bell. Zinn war in der späten Bronzezeit strategisch ähnlich bedeutend wie heute das Rohöl. Man brauchte es neben Kupfer zur Legierung von Bronze, nicht zuletzt also zur Herstellung von Waffen. Der Handel mit Zinn befand sich weltweit in der Hand weniger „Oligarchen“ (Bell nennt sie wirklich so) in der Stadt Ugarit im Nordwesten des heutigen Syriens. Die Verfügbarkeit von Zinn müsse für die Herrscher in Mykene oder die Pharaonen in Ägypten ähnlich wichtig gewesen sein wie Benzin für heutige Autofahrer oder Diesel für Containerschiffe, meint Bell. Zinn kam aus den Minen Afghanistans und wurde von Ugarit aus weiter nach Norden, Süden und Westen, also auch bis auf die Peloponnes transportiert. Ein Überfall von „Seevölkern“ in Ugarit, verbunden mit der Entmachtung der Eliten (der „Zinn-Oligarchen“), hat die gesamte Waffenproduktion in der Levante getroffen und die Verteidigung der Palastkultur geschwächt.
Es ist diese Idee des „Systemkollapses“, die einen heute frösteln lässt. Hat nicht schon die Corona-Krise die Lieferketten der industriellen Fertigung unterbrochen, Autarkiephantasien aufkommen lassen und die Globalisierung zur „Slowbalisierung“ dezimiert? Zwingt uns nicht der Klimawandel zum Verzicht auf fossil generiertes Wachstum, während die Kompensation durch regenerativ erzeugtes Wachstum noch in weiter Ferne ist? Jetzt kommt auch noch der verbrecherische Krieg Russlands dazu, der die Welt in Blöcke spaltet und angesichts ausbleibender Getreidelieferungen Hungersnöte in Afrika verursacht. So muss man sich Dominoeffekte vorstellen.
Ich verbiete mir weitere Ableitungen. Denn eigentlich habe ich mich auf das Motto des liberalen Philosophen Karl Popper verpflichtet: „Optimismus ist Pflicht.“
Nota. - Der 'Systemkollaps' im Ersten Weltkrieg war nicht bloß der Untergang einer "libera-len" Freihandelsordnung unter britischer Hegemonie; es war eine Zerrüttung des Weltmarkts und globale Krise der Produktivkräfte: Erst 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, hatte der Welthandel wieder das Volumen von 1913 erreicht, um sogleich in eine noch gigantischere Vernichtung von Arbeitskraft und Industrieanlagen zu stürzen. Die Produktivkräfte haben aufgehört zu wachsen, schrieb Leo Trotzki, und identifizierte den Krieg als die finale Todes-krise der bürgerlichen Welt, die nur entweder mit dem Untergang des Kapitalismus oder dem Untergang der Zivilisation enden könne.
So ist es nicht gekommen. Für das Kapital gibt es keine ausweglose Situationen. Die Zweitei-lung der Welt und der Kalte Krieg haben für eine neue Stabilität gesorgt, die auch den Zerfall des Sowjetblocks überstanden hat. Die Frage, die sich heute stellt, ist, ob sie auch den Versuch seiner Wiederherstellung überstehen kann. Diese Krise ist zwei Nummern kleiner, aber für uns Lebende gerade groß genug.
Der Untergang der archaischen Mittelmeerkultur um 1200 v. Chr. ist ein Problem für sich. Ein historisches, kein zeitgeschichtliches. "Strukturen" entpuppen sich in aller Regel als bloße Ana-logien. Die haben auch ihren Wert, aber bloß einen kleinen, den man sorgfältig suchen muss.
JE
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