Mittwoch, 20. April 2022

Die konstituierende Gewalt.


aus FAZ.NET, 20. 4. 2022
                                            Antoine Caron, Massakers der Triumvirn  1566 
 
Begriffsgeschichte  
Nach dem Unstaat
Zum Konzept der konstituierenden Gewalt: Jörg Boehl prüft den verfassungstheoretischen Begriff am Forschungsstand der Alten Geschichte. 

Von Uwe Walter

Grundbegriffe des Politischen haben auch die Funktion, Verhältnisse zu ordnen oder Veränderungen eine Richtung zu weisen, mithin Akteuren wie Interpreten etwas an die Hand zu geben, was die stets vielgestaltige, widersprüchliche, nicht selten chaotische Wirklichkeit mit einem Sinn versieht. Ihre Archäologie fördert oft Missverständnisse oder bewusste Bedeutungsverschiebungen zutage, ohne dass die gewachsene Tradition deshalb einfach abgeräumt würde. Ein Exempel liefert jetzt der Jurist Henner Jörg Boehl in einer begriffs- und konzeptgeschichtlichen Spurensuche zur (außerordentlichen) konstituierenden Gewalt („Tresviri rei publicae constituendae“ – Vom Ursprung des Pouvoir Constituant in der römischen Revolution, in: Der Staat, Bd. 60, Heft 4, 2021 / Duncker & Humblot).

Die erste Etappe der Genese ist klar. Nach dem gewaltsamen Ende der beiden Gracchenbrüder und dem ersten Bürgerkrieg eine Generation später findet sich in den Schriften Ciceros die Idee, die gewachsene öffentliche Ordnung Roms, die Res publica, könne im Banne nackter Gewalt zeitweise aufhören zu existieren: Res publica amissa (nicht zufällig Titel von Christian Meiers bahnbrechender Studie von 1966). Ins Auge zu fassen seien daher Bemühungen zur (Wieder-)Herstellung der Ordnung nach dem „Un-Staat“. Cicero verwendete dafür in seiner Schrift „De re publica“ das Verb „constituere“ und wiederholte es einige Jahre später gegenüber Caesar, als er diesen aufforderte, „ut rem publicam constituas“. Gemeint war damit, den herkömmlichen Politikbetrieb nach zeitweiliger Sistierung erneut in Gang zu bringen, vor allem die politische Lenkung durch die Nobilität im Senat und das freie Spiel bei den alljährlichen Wahlen.

Diktatur als Amt oder Tatsache

Ciceros Fluchtpunkt war also gerade keine andere, sondern die alte, angestammte Ordnung. Allerdings sollte dies sowohl in Scipios Traum wie in Caesars Realität ein Diktator mit unbeschränkter Befugnis bewerkstelligen, da ein solcher Akt offenkundig erheblicher Durchsetzungsstärke bedurfte. Just diese Voraussetzung erwies sich als anschlussfähig: Als im Jahr 43 Antonius, Oktavian und Lepidus zur Allianz der Caesarianer gegen die sich rüstenden Caesarmörder zusammentraten, ließen sie sich durch formellen Volksbeschluss die Amtsbezeichnung „Dreimännerkollegium zur Herstellung der öffentlichen Ordnung“ (tresviri rei publicae constituendae) verleihen. Das war in der Sache eine kollektive Militärdiktatur, die sich auf Soldaten und mittels Todeslisten geraubte Mittel stützte, um einen Bürgerkrieg zu gewinnen. Im Kontext der politischen Ordnung ging es darum, die Machthaber mit überall gültigen, umfassenden Gewalten auszustatten, die das gestaffelte und begrenzende Ämtersystem der Republik, eingeschlossen das republikanische Amt des Diktators, nicht hergab.

Allerdings wird in Boehls Rekapitulation der althistorischen Forschung kaum klar, wie wenig die Ermächtigungsformel des Triumvirats nach den neuerlichen Exzessen von Gewalt und Bürgerkrieg zur Begründung einer friedlichen Ordnung tauglich erschien. Deswegen berief sich Oktavian zehn Jahre später auf eine allgemeine Einmütigkeit Italiens und prägte danach Formeln rund um ein „restituere“. Nach seiner Verwandlung in Augustus sprach er von „in Freiheit setzen“ oder „in die Verfügung von Senat und Volk zurückgeben“.

Von der umgebogenen, nur wenige Jahre gebrauchten Aushilfsformel zur Kaschierung schrankenloser Macht- und Gewaltausübung zum beinahe magischen Ursprungsmythos einer nicht kontinuierlichen Ordnung in der Moderne mutierte das gesetzliche Gerundivum dann im zweiten Band von Theodor Mommsens „Römischem Staatsrecht“. Vor dem Hintergrund des republikanisch-revolutionären Verfassungsdenkens der amerikanischen Gründerväter sowie von Köpfen wie Emmanuel Sieyès ordnete der Rechtssystematiker in einem knappen, waghalsigen Kapitel das erwähnte (Zweite) Triumvirat zusammen mit ganz anders gelagerten Fällen einem Kon­strukt namens „ausserordentliche constituirende Gewalten“ zu – für ihn übrigens ein „Aushülfsmittel“ und häufig ein schlimmeres Unheil als das, dem es abhelfen sollte.

Constituere, constituierend, constituant – die lexikalische Entsprechung hat nicht nur Juristen zu Kontinuitätsstiftungen, sogar Gleichsetzungen verführt. Doch Boehl ist mit Recht vorsichtig: Weder bedeutete „rem publicam constituere“ eine Verfassunggebung im modernen Sinn, noch leiteten die neuzeitlichen Revolutionäre ihre Ermächtigung zum Neuanfang direkt aus einem römischen Vorbild ab. Allerdings verbinde der gemeinsame Bezug auf die römischen Ursprünge unserer Begriffe die europäischen Verfassungskulturen. Mit Blick auf die Entstehungskontexte in der römischen Revolution und bei ihren neuzeitlichen Namensvettern, zumal jedoch in der Radikalisierung durch Carl Schmitt, erweist sich die Lehre vom Pouvoir Constituant in Boehls Augen jedenfalls „als Theorie und Praxis aus gefährlichen Zeiten für gefährliche Zeiten, aber auch als gefährliche Theorie“.

 

Nota. - Der arglose Normalgebildete würde die Idee einer "konstituierenden Versammlung" auf die aufklärerische Idee vom Naturrecht und dem Vertrags-Ursprung des Staates zurück-führen. Tatsächlich gründete sie aber in der Vorstellung von einer Wieder herstellung eines überkommenen Normalzustandes. Revolutionär war die Idee nur auf Umwegen und hinten-rum. Doch Ideen finden ihre Kraft sowieso nur in der Energie derer, sie sie gebruchen - für dieses oder jenes.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen