Mittwoch, 27. April 2022

Wie kam es zur Überlegenheit des Westens?

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aus FAZ.NET, 27. 4. 2022                
 
Eine Theorie der Überlegenheit 
Die Menschen im Westen sind die Besten
Am Ende bleibt dann doch nur Abendlandsduselei: Joseph Henrich legt eine große Theorie über uns und die Anderen vor. Für Kolonialismus und Genozide ist darin komischerweise kein Platz.
 
Von Oliver Jungen

Man darf ihn Epimenides nennen, den Elefanten, der hier im Raum ist, nach jenem Kreter also, der sagte, dass alle Kreter lügen, und damit die Selbstaussage ad absurdum führte. Wenn ein kanadischer Anthropologe und Evolutionspsychologe, der in Harvard lehrt, darauf hinweist, dass „sonderbare Menschen“ – grob gesprochen: Bewohner des christlich geprägten Westens („WEIRD“ ist das Akronym dazu: „Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic“) – dazu neigten, die Welt durch eine sonderbare Brille zu sehen, dann stellt sich wohl die Frage, ob dieser Westler, der den Westen auch gleich mit der „modernen Welt“ überblendet, die Brille wirklich abgenommen hat. Und in der Tat: So beachtlich viel Wissen Joseph Henrich in seiner Universaltheorie auch kompiliert (allein das Literaturverzeichnis umfasst neunzig Seiten), hinterlässt sein Buch den schalen Geschmack von Abendlandsduselei.

Der Autor schreibt den Westlern im Unterschied zur übrigen Welt etwa einen höheren Grad an analytischem Denken, Individualismus, Vertrauenswürdigkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Selbstbeherrschung, Geduld und „unpersönlicher Prosozialität“ (gegenüber Fremden) zu, alles vermeintlich wissenschaftlich bewiesen durch diverse vergleichende Sozialexperimente. Es handele sich, das ist Henrichs zentrale Botschaft, um kulturell erworbene Charaktereigenschaften; genetisch wirke sich das allenfalls in Jahrtausenden aus. Diese elefantöse Studie ist die vielleicht seltsamste Version des kulturalistischen Eurozentrismus (der Nordamerika inkludiert).

Eher eine gefühlte Zahl

Sonderbar ist der Autor auch in einer speziellen Hinsicht. Seit der Frühen Neuzeit, heißt es einmal, herrsche im Westen die sonderbare Auffassung, „dass jeder einzelne Mensch vollkommen neues Wissen entdecken konnte“. Henrich gibt sich zwar Mühe, besagten Genieglauben zu widerlegen – komplexe Innovationen entstünden aus der „Addition kleiner Erweiterungen“ –, aber dass er selbst etwas vollkommen Neues entdeckt hat, einen „massiven psychologischen und neurologischen Eisberg, den viele Forscher einfach übersehen haben“, dieser unbescheidene Anspruch springt die Leser seines Buchs geradezu an.

Joseph Henrich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde.Joseph Henrich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde.

Experimentell arbeitenden Disziplinen wie der Sozialpsychologie, der Kulturanthropologie oder auch den Wirtschaftswissenschaften macht der Autor dabei den massiven Vorwurf, meist nur die eigenen Studenten erforscht zu haben: „Selbst heute . . . sind immer noch über neunzig Prozent der Teilnehmerinnen an experimentellen Studien sonderbar.“ Es ist wohl eher eine gefühlte Zahl. Henrich muss dermaßen laut trommeln, um zu verdecken, dass seine auf über neunhundert Seiten ausgebreiteten Befunde aus der angewandten Völkerpsychologie keineswegs sonderlich neu sind. Wobei er, trotz seiner Hinweise auf eine starke Varianz innerhalb der europäischen/amerikanischen und der außereuropäischen Kohorte sogar einen grundsätzlichen Dualismus feststellen zu können glaubt: „wir“ und die Anderen

Altbekannt seit Herbert Spencer ist auch die Rolle, die hier dem Sozialdarwinismus zukommt, der bei Henrich „kulturelle Evolution“ heißt, aber ebenfalls die Durchsetzung der fittesten gesellschaftlichen Gruppe meint. Was aber erklärt nun den erfolgreichen europäischen Sonderweg? Erstaunlicherweise hat der Autor dafür eine einzige und bis zum Überdruss wiederholte Begründung parat. Denn obgleich er einmal zustimmend Jared Diamonds Vermutung einer geographischen Begünstigung Europas zitiert, führt Henrich beinahe alles zurück auf den Siegeszug des Christentums.

Aufklärung und Industrialisierung als Folgen der veränderten Psychologie

Der Clou besteht darin, den entscheidenden Hebel in der christlichen Sexualmoral zu sehen. Diese habe qua Monogamiegebot und Inzesttabu die Vorstellung der Ehe revolutioniert. Das Verbot der verbreiteten Vetternehe habe dem alten, tribalistischen Gesellschaftsmodell und seinen eta­blierten Eliten – einer vor Testosteron strotzenden Clanstruktur, wie sie außerhalb des römisch-christlichen Einflussbereichs bestehen geblieben sei – den Garaus gemacht und damit den Weg in eine von Städten, unpersönlichen Märkten, Innovation und politischem Wettbewerb geprägte Moderne geebnet.

In einer solch stammesfernen, „gezähmten“ Welt habe sich der Individualismus als geeignetste psychologische Disposition erwiesen. Die nicht mehr in verwandtschaftlichen Strukturen organisierte Bevölkerung wiederum habe sich zu neuen, freiwilligen Bündnissen zusammengeschlossen, woraus Institutionen wie Klöster, Gilden, Universitäten oder Städte entstanden seien. Die wiederum verstärkten die „sonderbare“, kooperative Denkweise der Menschen. Die wichtigste Neuprogrammierung des Westler-Gehirns fand demnach im Mittelalter statt; Aufklärung und Industrialisierung seien nur die logische Folge der veränderten Psychologie gewesen.

Der Autor hat sich verrannt in seine Weltformel

Das alles wird über zahlreiche Stufen und Exkurse – etwa zur Geschichte der Lohnarbeit – entwickelt und abgeglichen mit Feldstudien zu Ethnien, die in verwandtschaftsbasierten Strukturen leben. Manches Detail ist einsichtig (eine europäische Kleinfamilie wirkt häufig „etwas egalitärer“ als eine arabische Großfamilie), anderes widerspricht der Intuition. So war das europäische Mittelalter doch regelrecht definiert durch eine patrilineare Clanstruktur: die Hocharistokratie.

Das originelle Zusammendenken verschiedenster Disziplinen ist anregend, das Buch trotz seiner Überfülle gut lesbar und klar strukturiert. Doch gegen die historische Argumentation gibt es so viel einzuwenden, dass von der Generalthese jenseits unumstrittener Annahmen – Bedeutung der Kirche, der Städte, des freien Handels, dazu eine Portion Max Weber – wenig übrig bleibt. So hatte die Vetternehe auch in Europa noch verschiedentlich Konjunktur. Und die übrige Welt pauschal als eine der Stammesstrukturen aufzufassen übersieht alle Modernisierungsprozesse in anderen Gesellschaften. Kriege führen im Westen angeblich zu effektiven Institutionen wie Parlamenten, in der Clanwelt hingegen, vermutet der Autor auf schmalster Quellenbasis, fördern sie „loyales Verhalten gegenüber dem eigenen Clan oder der Verwandtschaft (Nepotismus), die Vetternehe und den Respekt vor den Älteren“.

Aus der Zeit gefallen

Der Autor hat sich verrannt in seine Weltformel, die er mit arbiträr wirkenden psychologischen Experimenten und Statistiken zu unterfüttern sucht. Letztere vermögen das Gewicht der ihnen unterstellten Aussage oft nicht zu tragen. Nur ein Beispiel: „Regionen, die während des Mittelalters eine größere zisterziensische Präsenz erfahren haben, sind im 21. Jahrhundert wirtschaftlich produktiver und haben eine niedrigere Arbeitslosenquote.“ Für Henrich ist damit belegt, dass die neue Arbeitsmoral (Fleiß, Pünktlichkeit) nicht auf eine protestantische Ethik zurückgeht, sondern auf die Zisterzienser einige Jahrhunderte zuvor. Der Protestantismus sei aber doch ein „Booster“ der sonderbaren Entwicklung gewesen.

Heikler noch als die freihändigen historischen Thesen ist die letztlich kulturmorphologische Argumentation, nach der die nichtsonderbare Welt ganzheitlich denke und auf jener (rückständigen) Stufe verharre, die im westchristlichen Bereich durch das Wachstum des „europäischen kollektiven Gehirns“ überwunden wurde. Dieses Gehirn stellt sich Henrich als überlegen vor, „genialer“ und „erfindungsreicher“. Problematisch sei daher der Export „höherer“ Institutionen wie Parlamente in verwandtschaftsbasierte Gesellschaften, heißt es, denn sie passten nicht „zur kulturellen Psychologie der Leute“. Die lasse sich nur über Jahrhunderte trainieren.

Vollends diskreditiert sich die aus der Zeit gefallene Studie dadurch, dass Henrich die wahre Kollision des „Westens“ mit der übrigen Welt – und damit die dunkle Gegenseite des individualistischen, nicht mehr lokal gebundenen Gewinnstrebens –, also den Kolonialismus inklusive Rassismus und Genoziden, komplett ausblendet. Dazu gebe es „viele Bücher“, heißt es lapidar. Wie sein ebenfalls mit dubioser Methodik und viel Euro-Optimismus arbeitender Harvard-Kollege Steven Pinker in „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011) stützt sich Henrich auf Mordstatistiken, die einen Rückgang von Kapitalverbrechen seit dem hohen Mittelalter zu zeigen scheinen, um ohne weitere Rücksichtnahme auf den Umstand, dass von Europa die Unterwerfung ganzer Kontinente, der moderne Sklavenhandel und zwei Weltkriege ausgingen, zu behaupten, in unserer vom Konzept der „Familienehre“ bereinigten Wettbewerbsgesellschaft habe sich „Selbstbeherrschung“ evolutionär durchgesetzt. Jähzorn kennen demnach nur noch die (wilden) Anderen; Europäer sind seit Jahrhunderten friedlich und zivilisiert. Sonderbar ist daran vor allem die Autosuggestion. Manchmal sucht man ja seine Brille, bis einem auffällt, dass sie die ganze Zeit auf der Nase sitzt. 

Joseph Henrich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde. Aus dem Englischen von Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 918 S., Abb., geb., 34,– €.

 

Nota. - Auch wer aus gegebenem Anlass wiedermal den Untergang des Abendlands an die Wand malt, kann ja nicht übersehen, dass die Gegend, die wir heute den Westen nennen und die bis ins Mittelalter an der Peripherie der damals zivilisierten Welt lag, sich mit der Koloni-sierung Amerikas daran gemacht hat, fast die ganze Welt zu unterwerfen - und damit die Vorstellung von einer Welt überhaupt erst möglich gemacht hat. Die Triebkräfte dieses Auf-stiegs gälte es bloßzulegen, um zu beurteilen, ob und warum er dieser Tage zu Ende geht und was darauf folgen mag: Eine Theorie der Überlegenheit wird erforderlich.

Wer sie versucht, kann er darauf rechnen, dass alle Wohlmeinenden über ihn herfallen und die Herrenmenschen auch nicht zufrieden sind. Viel Rücksicht musste er also nicht nehmen: Ko-lonialismus und Genozide hat er ausgeblendet. Hätten sie der Analyse etwas wesentlich Neues hinzugefügt, oder soll lediglich Gerechtigkeit geschehen?

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Ob ich das dicke Buch auf mich laden soll, kann ich noch nicht entscheiden, ich werde noch ein paar Rezensionen abwarten.
JE

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