Dienstag, 29. Dezember 2015

Telekom-Chef für bedingungsloses Grundeinkommen.

aus FAZ.NET, 29.12.2015

Telekom-Chef für bedingungsloses Grundeinkommen

Angesichts der durch die digitale Revolution bevorstehenden grundlegenden Veränderungen von Gesellschaft und Arbeitswelt fordert Telekom-Chef Timotheus Höttges „unkonventionelle Lösungen“, um die Sozialsysteme zu erhalten. „Ein bedingungsloses Grundeinkommen kann eine Grundlage sein, um ein menschenwürdiges Leben zu führen“, sagte er der „Zeit“ und fügte hinzu: „Es geht um die Frage, wie wir ein faires System für eine Welt von morgen schaffen.“


Mit Blick auf den möglichen Wegfall von Arbeitsplätzen fordert Höttges: „Wir müssen unsere Gesellschaft absichern.“ Das Grundeinkommen könne eine Lösung dafür sein - „nicht heute, nicht morgen, aber in einer Gesellschaft, die sich durch die Digitalisierung grundlegend verändert hat“.


Finanziert werden könne dieser Schritt durch die Besteuerung der Gewinne großer Internetkonzerne. „Wenn Produktivität zukünftig vor allem an Maschinen und die Auswertung von Daten gekoppelt ist, könnte die Besteuerung stärker auf den darauf beruhenden Gewinnen aufbauen und weniger auf der Einkommensteuer des Einzelnen“, so Höttges. ...


Nota. - Zu großem Unglück hatte sich weiland die PiratenPartei das Bedingungslose Grundeinkommen auf die Fahnen geschrieben - und mutwillig mit sich selbst versenkt. Nun wird es extra schwerhalten, darüber eine ernsthafte politische Auseinandersetzung in Gang zu setzen. Es ist nicht pikant, sondern nur logisch, dass aus-gerechnet der Führer eines Digitalkonzerns dafür den Auftakt gibt, und zudem noch sich und seinesgleichen als die Hauptfinanziers vorschlägt. Ob aber von den Gewinnen der Digitalindustrie noch genügend übrigbleiben wird, um sie wirtschaftlich führen zu können, ist, wenn sonst alles beim Alten bleibt, noch die Frage.

Es ist aber gar nicht wünschenswert, dass sonst alles beim Alten bleibt. Und darum ist die Idee, das Bedingungs-lose Grundeinkommen durch eine radikale Simplifizierung des Besteuerungssystems zu finanzieren, so verfüh-rerisch. Ob das aber finanziell - wenigstens in der Größenordnung - überhaupt realistisch ist, steht noch ganz in den Sternen. Wären die Piraten in den Bundestag gekommen, d. h. hätte die PiratenPartei aus anderen Leuten bestanden, hätten sie dort auf die Einrichtung einer Enquête-Kommission drängen sollen, die den erforderlichen wissenschaftlichen Aufwand für ein solches gesamtgesellschaftliches Projekt hätte leisten können - und, wenn schon nicht mehr, immerhin eine gesellschaftliche Diskussion ausgelöst. 

Dass das eine 'einfache Sache' wäre, die 'extraschwer zu machen ist', steht ganz außer Zweifel. Interessant wird aber sein, wer vor allem sich dagegen stemmen wird. Denn die Pointe ist die, dass soziale Gruppen- oder gar Klassen-Interessen gar nicht berührt würden! Und trotzdem werden die Realpolitiker, da lege ich meine Hand ins Feuer, Himmel und Erde in Bewegung setzen um "diesen Wahnsinn" von der Menschheit fernzuhalten. Das wäre gut, wenn  man sie alle bei Tageslicht sähe. Dann wüsste man, wen alles man sich vom Hals schaffen muss.
JE


Montag, 28. Dezember 2015

Russlands Griff nach Konstantinopel.

aus nzz.ch, 23. 12. 2015                                       Ilja Repin, Die Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief 1880.

Russland und die Türkei als uralte Rivalen
Der Traum von Zargrad
Dass die Türkei und Russland aneinandergeraten, hat Tradition. Nicht nur spielte dabei stets Machtpolitik eine Rolle – auch das Sendungsbewusstsein prallte mitunter heftig aufeinander.

von Ulrich M. Schmid

In der Neuzeit führten Russland und das Osmanische Reich etwa alle zwanzig Jahre einen Krieg. Die Rivalität zwischen dem Zarenreich und der Hohen Pforte nahm ihren Anfang bereits im 17. Jahrhundert, als die beiden Mächte um die Vorherrschaft in der Ukraine kämpften. Dieser Krieg hat vor allem durch Ilja Repins berühmtes Bild «Die Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief» aus dem Jahr 1880 Eingang in das kollektive russische Bewusstsein gefunden: Die Kosaken auf diesem Gemälde denken sich mit diebischem Vergnügen immer neue Beleidigungen für den Sultan aus, der sie zur Unterwerfung aufgefordert hatte. Repin war nicht zufällig auf dieses Sujet gekommen: Im Krieg von 1877/78 hatte Russland das Osmanische Reich besiegt und den jungen Balkannationen wichtige Impulse zum Aufbau ihrer Staatlichkeit verliehen.

Patriotischer Taumel

Eine wichtige Rolle bei der geistigen Aufrüstung Russlands spielte im russisch-türkischen Krieg von 1877/78 auch Fjodor Dostojewski. In seinem «Tagebuch eines Schriftstellers» gab der berühmte Romanautor seiner Überzeugung Ausdruck, dass «das Goldene Horn und Konstantinopel unser sein werden». Den Krieg selbst bezeichnete er als «reinigendes Gewitter», das die gesellschaftliche Solidarität zwischen der Bauernschaft und dem Adel in Russland stärken werde. Vorbereitet wurden Dostojewskis patriotische Ideen durch den Lyriker Fjodor Tjutschew, der 1850 in seiner «Weissagung» gedichtet hatte: «Und die alten Gewölbe der Hagia Sophia / und das erneuerte Byzanz / werden erneut den Altar Christi umfassen. / Fall vor ihm nieder, o russischer Zar / und auferstehe als Zar aller Slawen!»

Solch hochfahrende Visionen spielten eine wichtige Rolle bei der Entfesselung des Krimkriegs (1853–1856). Die russische Gesellschaft befand sich in einem patriotischen Taumel – man träumte von einer panslawischen Föderation unter russischer Führung. Einer der Wortführer dieses Programms war der erzkonservative Publizist Michail Pogodin, der das eroberte Konstantinopel sogar zur neuen russischen Hauptstadt machen wollte. Allerdings wurden seine Erwartungen bald enttäuscht: Russland unterlag schmählich in diesem Waffengang gegen das Osmanische Reich.

Zar Nikolaus I. konnte es kaum fassen, dass Frankreich und Grossbritannien auf der Seite der Türken gegen Russland kämpften. Wie selbstverständlich war der russische Herrscher davon ausgegangen, dass jeder militärische Angriff auf Nichtchristen nicht weiter gerechtfertigt werden musste und per se den Anspruch auf eine «heilige Allianz» der europäischen Grossmächte begründete. Als sich die russische Niederlage abzeichnete, bemerkte der Zar resigniert, dass er nur noch als «Glaubensmärtyrer» untergehen könne.

Es gab für Nikolaus I. aber noch ein weiteres Prinzip, das sein aussenpolitisches Handeln bestimmte und erst in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit mit dem christlichen Sendungsbewusstsein kollidierte. Der Zar betrachtete die Autokratie als einzig legitime Staatsform und achtete sorgsam darauf, dass die Stellung anderer Monarchen nicht ernsthaft gefährdet wurde. So schlug er gemeinsam mit dem österreichischen Kaiser Aufstände in Krakau (1846) und in Ungarn (1849) nieder. Wegen dieser Polizeieinsätze galt Nikolaus I. als «Gendarm Europas». Erstaunlicherweise erstreckten sich Nikolaus' solidarische Hilfsaktionen für bedrängte Autokraten auch auf das Osmanische Kalifat. Der Zar schlachtete Unruhen gegen die Türkenherrschaft nicht aus, sondern war an einer stabilen Regierung in Konstantinopel interessiert. 1832 unterstützte er Sultan Mahmud II., als eine ägyptische Invasion in Anatolien drohte. 1848 schlugen osmanische und russische Truppen in seltener Einmütigkeit die rumänische Revolution nieder.

Die chauvinistischen Töne, die den Krimkrieg und den Krieg von 1877/78 begleiteten, klangen in den Türkenkriegen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts noch eher verhalten. Viel wichtiger waren geopolitische Interessen, die sich auf die Kontrolle der nördlichen Schwarzmeerküste konzentrierten. Eine entscheidende Rolle spielte Katharina die Grosse, die ein «griechisches Projekt» verfolgte. Sie wollte das Zarenreich in der Nachfolge des Byzantinischen Imperiums positionieren und zur Hüterin des orthodoxen Christentums aufsteigen. Sie ging sogar so weit, ihren Enkel Konstantin zu nennen und ihn Griechisch lernen zu lassen, damit er später den byzantinischen Thron übernehmen könne. Katharina konnte zwar nicht bis zum Bosporus vorstossen, annektierte aber 1783 die Krim.

Schmerzhafter als der Verlust der Halbinsel war für das Osmanische Reich das Ende der dreihundert Jahre währenden Seehoheit über das Schwarze Meer. Auch Katharinas «griechisches Projekt» war nicht ausschliesslich als russische Expansion angelegt. Die Zarin war auf eine Balance der europäischen Grossmächte bedacht: Sie wollte nach einem allfälligen Sieg über das Osmanische Reich die eroberten Gebiete auf dem Balkan nach dem sogenannten «système copartageant» verteilen. Darunter verstand sie einen sorgfältigen Schlüssel, nach dem sich die etablierten Autokratien territorial gleich stark erweiterten. Exemplarisch wurde dieses System während der polnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts angewandt.

Einen späten Widerhall fanden Katharinas byzantinische Träume während des Ersten Weltkriegs. Die Eroberung Konstantinopels rückte auf der russischen Tagesordnung wieder ganz nach oben. Dabei stand vor allem der ungehinderte Zugang zum Mittelmeer für russische Handels- und Kriegsschiffe im Vordergrund. Im November 1914 kam zwischen Russland und Grossbritannien ein veritabler Kuhhandel zustande: Grossbritannien sicherte sich Russlands Unterstützung im Kampf gegen Deutschland, indem es nach einem gemeinsamen Sieg über Deutschland die russischen Interessen an den Meerengen respektieren würde. Im Gegenzug versprach der Zar, Persien und Ägypten nicht anzutasten. Dieser Deal war umso erstaunlicher, als Grossbritannien in den Jahrzehnten zuvor noch alles darangesetzt hatte, das Osmanische Reich vor Russland zu schützen. Der Grund für das britische Umdenken lag in der festgefahrenen Situation nach der Schlacht bei Ypern. Ein Sieg an der deutschen Westfront war unwahrscheinlich geworden, deshalb musste man sich erstens russische Unterstützung holen und zweitens die mit Deutschland verbündeten Türken angreifen.

Der Erste Weltkrieg endete mit dem Untergang sowohl des russischen Imperiums als auch des Osmanischen Reiches. Auf den Ruinen beider Monarchien entstanden neue Staaten, die sich als radikale Modernisierungsprojekte verstanden: Lenins kommunistisches Sowjetrussland und Kemal Atatürks national geprägte Republik. Beide Staaten mussten sich zuerst ihre innenpolitische Legitimität und die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft sichern. Deshalb schlossen die Sowjetunion und die Türkei bereits im Jahr 1925 für die Dauer von zwanzig Jahren einen Freundschaftsvertrag, der den beiden jungen Regierungen gegenseitig den Rücken freihalten sollte. Bezeichnenderweise wurde der Vertrag nach dem Zweiten Weltkrieg wegen eines Territorialkonflikts nicht erneuert: Stalin forderte ehemals zum Zarenreich gehörende Gebiete in Ostanatolien und wollte sie der georgischen und der armenischen Sowjetrepublik anschliessen. Im Jahr 1952, auf dem Höhepunkt der Krise, trat die Türkei der Nato bei. Die Situation entspannte sich erst nach dem Tod des Sowjetdiktators wieder.

Die Achse der Turkvölker

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion streckte die Türkei vor allem im Rahmen der kulturellen Zusammenarbeit die Fühler in die Russische Föderation aus. 1993 wurde die «Turksoy» als Kulturorganisation der turksprachigen Länder gegründet. Mitglieder sind die Türkei, die zentralasiatischen Staaten sowie Aserbaidschan. Die turksprachigen Teilrepubliken in Russland, darunter Tatarstan und Baschkortostan, haben Beobachterstatus. Bis heute hat Ankara seine engsten Beziehungen in Russland nicht zu Moskau, sondern zu Kasan und Ufa. Wenig überraschend hat der linientreue Kulturminister Wladimir Medinski gleich nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei den turksprachigen Teilrepubliken der Russischen Föderation die Zusammenarbeit mit «Turksoy» untersagt. Die Tataren und Baschkiren befinden sich heute in einem Dilemma: Einerseits besteht Moskau auf einer unmissverständlichen Loyalitätsbekundung, andererseits schätzt man an der Wolga die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit der Türkei.

In der patriotischen Literatur ist der Traum vom russischen Konstantinopel auch heute noch nicht ganz ausgeträumt. Der Petersburger Erfolgsautor Pawel Krusanow veröffentlichte im Jahr 2000 seinen Roman «Der Biss des Engels», der in einem utopischen Russischen Reich mit der Hauptstadt Zargrad spielt – Zargrad ist die russische Bezeichnung für Byzanz. Im August 2001 publizierte er – gemeinsam mit dem Philosophen Alexander Sekazki – einen offenen Brief, in dem er zur Ausweitung des russischen Imperiums an seine «unsichtbaren Grenzen» aufrief: «Zargrad, Bosporus, Dardanellen.»

Nota. - Historische Resmiszenzen sind Putin vermutlich gleichgültig. Wenn er regionalpolitische Projekte betreibt, sind seine Motive in erster Linie bonapartistischer Natur: die zentrifugalen Kräfte im Innern zusammenhalten, indem er die Unrast nach außen leitet. Das funktioniert aber nur in dem Maß, wie immer wieder mal Erfolge sichtbar sind. Die Annexion der Krim war ein solcher Erfolg, aber er war auch nicht sehr riskant. Wer außer den Ukrainern hätte sich aufregen sollen? Allgemein sah man darin doch eher eine Wiederherstellung eines legitimen Status quo ante. 

Die Umtriebe im Donezbecken sind schon ernster zu nehmen, und Putin hatte den Widerstand des Westens wohl unterschätzt. Zwar ist die dortige museale Schwerindustrie keinen wirklichen Krieg wert, aber wenn man Putin das durchgehen lässt, wird er meinen, er könne sich alles erlauben. Doch auch für ihn rechtfertigen die verrosteten Stahlwerke keinen Schuss Pulver, er wird es auf einen ernsten Konflikt nicht ankommen lassen. 

Allerdings erlaubt die bonapartistische Logik keinen Rückzug. Man muss immer wieder eins draufsatteln. Vor der Annexion der Krim war Putins Standing im eignen Land auf dem Tiefpunkt, und dass er die gegenwärtige Wirtschaftskrise heil überstanden hat, verdankt er nur der Großmachtspielerei. Er kann Nova Rossija nicht einfach fahren lassen, höchstens auf kleiner Flamme köcheln; aber auch nur, wenn er zuvor einen neuen Kriegsschauplatz aufmacht - nämlich im Nahen Osten. Dass die Türkei sich ihre Einflusszone nicht streitig machen lassen will, hat Erdogan ihm deutlich zu verstehen gegeben. Da aber der Starke Wladimir gar keinen wirklichen geopolitischen Plan hat, sondern zockt wie jeder Parvenü, dem der Boden heiß wird, ist er unbere-chenbar geworden. So gut man verstehen mag, dass er keine Alternativen hat und dass es auch zu ihm einst-weilen keine Alternative gibt, darf man ihn um Himmels Willen nicht gewähren lassen.
JE 

Samstag, 26. Dezember 2015

The Great Migration - die zweite Geburt der Vereinigten Staaten.

aus Süddeutsche.de, 26. 12. 2015

Die Große Migration in den USA
Revolution ohne Anführer
Vor 100 Jahren begann die Wanderung der Schwarzen aus den amerikanischen Südstaaten in die Industriestädte des Nordens. Die Parallelen zum heutigen Europa sind offenkundig.

"Sie verließen ihre Heimat, als wollten sie einem Fluch entfliehen. Sie waren bereit, fast alles zu opfern, um ein Bahnticket zu bekommen. Und sie gingen mit der Absicht zu bleiben." Es sind nicht syrische Flüchtlinge auf dem Bahnhof von Budapest, von denen hier die Rede ist. Der Publizist Emmet J. Scott beschreibt so die Stimmung auf Bahnhöfen in den Südstaaten der USA während der "Großen Migration". Gut sechs Millionen Schwarze flohen damals vor Not, Rassentrennung und Lynchjustiz im Süden nach New York, Chicago, Detroit und in andere Industriestädte des Nordens. Die große Flüchtlingsbewegung begann um das Jahr 1915 und endete 1970 nach dem Sieg der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.



Die Große Migration, noch immer oft unterschätzt, veränderte das Gesicht der USA. Vor 1915 lebten 90 Prozent aller Afroamerikaner im Süden, 1970 waren es noch die Hälfte. Und wenn ein historisches Ereignis Parallelen zur heutigen Flüchtlingskrise in Europa hat, dann ist es die Große Migration. Sie war anders, weil sie in einer Nation stattfand; es gab keine Sprachprobleme und keine Grenzen, die man hätte schließen können. Aber sie birgt auch Lehren für die Gegenwart - darüber, wie komplex Integration ist und dass deren Erfolg letztlich von der Ökonomie abhängt.

1865 wollten die Nordstaaten den Süden zunächst vollkommen neu aufbauen. Bestimmen sollten dort nur befreite Sklaven und Weiße, die sich eindeutig gegen die Sklaverei stellten. Gegen dieses Programm der "Reconstruction" wehrten sich die alten Eliten mit Obstruktion und mit dem Terror des Ku-Klux-Klan. Letztlich hatten sie Erfolg. In den 1880er- und 1890er-Jahren erließen alle Südstaaten Rassegesetze, die Schwarze zu Bürgern zweiter Klasse machten. Sie wurden ihres Wahlrechts beraubt, sie durften nicht neben Weißen sitzen, ihre Kinder gingen auf schlechte Schulen. Die Stadt Mobile (Alabama) untersagte es 1909 Schwarzen, nach 22 Uhr noch ihre Wohnungen zu verlassen.



Wann sich die ersten Schwarzen dem Terror durch Flucht entzogen, ist nicht bekannt. Niemand hat die Flüchtlinge registriert, sie waren sich wohl anfangs auch nicht bewusst, Teil einer Bewegung zu sein. Die Journalistin Isabel Wilkerson spricht in ihrer Geschichte der Großen Migration ("The Warmth of Other Suns") von einer "Revolution ohne Führer".

Fest steht, dass der Erste Weltkrieg den Zug nach Norden richtig in Gang setzte. Mit Ausbruch der Feindseligkeiten in Europa riss der Strom der Einwanderer aus Polen, Irland, Deutschland und Italien plötzlich ab. Die rapide wachsende Industrie im Norden litt unter akutem Arbeitskräftemangel. Die Autohersteller in Detroit gingen dabei 1915 einen ungewöhnlichen Schritt: "Sie schickten Werber bis nach South Carolina, um dort weiße und schwarze Arbeiter anzuheuern", sagt Joel Stone, Kurator bei der Historischen Gesellschaft Detroit. "So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben." Mit dieser Aktion waren Detroit, Chicago, New York, Cleveland und all die anderen Industriestädte im Norden für die unterdrückten Schwarzen kein Traum mehr, sondern eine konkrete Chance. Anders als heute entwickelten sich Migration und Arbeitsangebot parallel.


Detroit 1937

Die Autoindustrie im frühen 20. Jahrhundert war überdies ideal für die Aufnahme von Migranten. An den Fließbändern gab es relativ gut bezahlte Jobs, die aber keine sehr hohe Qualifikation verlangten. Im Durchschnitt konnte ein Schwarzer in einer Fabrik des Nordens dreimal so viel verdienen wie als Landarbeiter im Süden. In der berühmten River-Rouge-Fabrik von Ford in Detroit arbeiteten zeitweise mehr als 90 000 Männer. General Motors, Ford, Chrysler und American Motors machten die Migration möglich, sie wurden auch dank der Migranten groß.

Heute ist die Industrie anders. Im Zeitalter von Robotern, Computern und Internet der Dinge verschwinden gut bezahlte Jobs für gering qualifizierte Männer nach und nach. Der Arbeitsmarkt spaltet sich in anspruchsvolle Jobs, die auch gut bezahlt werden, und einfache Arbeit mit kargem Lohn. Das ist ein Grund, weshalb die wirtschaftliche Integration der heutigen Flüchtlinge in Deutschland schwerer sein wird und vor allem von schneller Qualifizierung abhängt.

Andererseits haben es die heutigen Flüchtlinge leichter, weil Rassismus mittlerweile gesellschaftlich geächtet ist. Das war damals anders. Zwar gab es im Norden keine Rassengesetze, wohl aber Ressentiments und Diskriminierung. Weiße wehrten sich dagegen, dass schwarze Familien in ihre Wohnviertel zogen. Am 20. Juni 1943 brachen im Detroiter Freizeitpark Belle Isle Krawalle zwischen weißen und schwarzen Jugendlichen aus. Auslöser waren zwei Gerüchte: Ein weißer Mob sollte eine schwarze Mutter mit ihrem Kind in den Detroit River geworfen haben. Und ein Schwarzer sollte eine weiße Frau vergewaltigt und ermordet haben. Beide Gerüchte erwiesen sich als falsch. Die Unruhen dauerten drei Tage, am Ende waren 34 Menschen tot, 25 von ihnen schwarz. Wilkerson erklärt die besondere Aggressivität gegenüber den Schwarzen aus dem Süden: Anders als bei anderen Einwandern lag bei ihnen kein Ozean zwischen ihrer Heimat und Amerika. "Es gab keine Möglichkeit, die Flut der Schwarzen aus dem Süden zu stoppen." Das machte Angst.



Am Ende zogen sich die Schwarzen in eigene Ghettos zurück: die Southside von Chicago, Harlem in New York, Highland Park in Detroit. Diese neue Rassentrennung schuf soziale Probleme, die zum Teil bis heute nicht gelöst sind.

Trotz aller Ressentiments - die Große Migration veränderte die USA von Grund auf. Zum ersten Mal griffen die Nachfahren der afrikanischen Sklaven aktiv in die Geschichte des Landes ein. Das schuf ein neues Selbstbewusstsein. In New York entstand die Harlem Renaissance, eine Erneuerungsbewegung schwarzer Künstler und Schriftsteller während der 1920er-Jahre. Schließlich brachten die Schwarzen nicht nur ihre Arbeitskraft mit, sondern auch ihre Musik. Blues und Jazz waren zwar schon vor 1915 aus New Orleans nach Chicago gekommen, doch erst die Große Migration schuf die Voraussetzungen dafür, dass beide zu einem globalen Phänomen werden konnten: Musikclubs und ein ebenso verständiges wie zahlungskräftiges Publikum. Auch junge Weiße begannen sich für Jazz zu interessieren.

Zwei Prozent

...der amerikanischen Bevölkerung, schätzungsweise 620 000 Soldaten, fielen im amerikanischen Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865. Das Gemetzel zwischen Nord- und Südstaaten war Amerikas blutigster Krieg (im Zweiten Weltkrieg starben 420 00 US-Soldaten, in Vietnam 58 000, im Irak und in Afghanistan bisher 6600). Als Ergebnis des Krieges wurde die Sklaverei abgeschafft, der Versuch aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Schwarzen zu gleichberechtigten Bürgern zu machen, scheiterte jedoch. Nach 1890 verabschiedeten alle Südstaaten Rassegesetze, die die Dominanz der Weißen sichern sollten. Sie wurden erst 1964 abgeschafft.



Louis Armstrong (1901-1971), der größte Jazzmusiker der Geschichte, wurde in ärmlichen Verhältnissen in New Orleans geboren. Seine Großeltern waren Sklaven gewesen. Armstrong spielte dort als Gelegenheitsmusiker Flügelhorn und Trompete. Schließlich setzte er sich 1922, wie viele andere, in den Zug nach Chicago. Er folgte dem Ruf seines Mentors Joe "King" Oliver und schloss sich dessen Creole Jazz Band an. In Chicago konnte Armstrong es sich leisten, ausschließlich von der Musik zu leben und begann so seine Weltkarriere. Viele andere Stars aus der Frühzeit des Jazz haben die Große Migration nach Chicago mitgemacht: Sidney Bechet, Jelly Roll Morton, Lee Collins, Wilbur Sweatman.

Der Verlust von sechs Millionen Menschen war ein Schock für den Süden

Die Migration hatte auch tragische Folgen. Ein Beispiel ist Detroit. Die Stadt zeigt, dass sich Fehler bei der Wohnungspolitik für Migranten bitter rächen können. Nach den Jahren des Booms - die Zahl der Einwohner stieg von 465 000Einwohnern 1910 bis auf 1,9 Millionen 1950 - begann ein beispielloser Niedergang. Weiße und wohlhabende Schwarze zogen in die Vorstädte, die mit dem Auto jetzt leicht zu erreichen waren. In Detroit zurück blieben arme Schwarze. Sie zahlten wenige oder keine Steuern, wodurch die Stadt immer mehr verkam. Nach schweren Rassenunruhen 1967 flohen die letzten Weißen. 


Detroit 2011

Dann kam in den Siebzigerjahren noch die Krise der amerikanischen Autoindustrie dazu, die mit der Konkurrenz aus Deutschland und Japan nicht umgehen konnte. Heute hat Detroit noch 770 000 Einwohner, ist bettelarm, die Schulen sind miserabel, und der frühere Bürgermeister Kwame Kilpatrick sitzt wegen Korruption im Gefängnis. Am 18. Juli 2013 beantragte Detroit Gläubigerschutz nach Paragraf 9 des amerikanischen Konkursrechts. Jetzt erst, so sagt Kurator Joel Stone, werden unter der Herrschaft eines Konkursverwalters Reformen der Verwaltung angegangen, die schon seit Jahrzehnten überfällig sind, auch um das Erbe der vergifteten Rassenbeziehungen zu überwinden: "Wir mussten die Erfahrung machen, dass Integration manchmal 100 Jahre dauern kann."

Und noch eine Folge der Großen Migration: Der Verlust von sechs Millionen Menschen war ein Schock für die Wirtschaft des Südens. Umgekehrt wurde der Norden gezwungen, sich mit den Zuständen im Süden zu befassen. So legte die Migration die Grundlage für die Bürgerrechtsbewegung der 1950er- und 1960er-Jahre. Isabel Wilkerson schreibt: Die Große Migration "zwang den Süden, in sich zu gehen und letztlich sein feudales Kastensystem aufzugeben". Ob allerdings die heutigen Flüchtlingsströme irgendwann auch so positiv auf die Herkunftsländer rückwirken werden, ist nicht abzusehen.






Samstag, 19. Dezember 2015

Unwiederholbares Experiment.



Marx bemerkt gelegentlich, die Gesellschaftswissenschaften unterschieden sich von den Naturwissenschaften da-durch, dass sie keine Experimente durchführen könnten und sich schlecht und recht mit dem Gedankenexperiment behelfen müssten.

Es gab einmal eine wissenschaftssatirische Publikation namens Journal der unwiederholbaren Experimente. Das war ein Witz, denn ein Experiment, das sich nicht wiederholen lässt, ist gar keins.

Als sich am Abend der Erstürmung des Winterpalais die bolschewistischen Führer im Smolny zur Ruhe begaben, sagte, wie Trotzki berichtet, einer von ihnen: "Heute beginnt das größte sozialpolitische Experiment der Ge-schichte." 

Die Pointe ist die: Dieses Experiment ist tatsächlich unwiederholbar.






Dienstag, 15. Dezember 2015

Wie die Aufklärung nach Deutschland kam.


aus Badische Zeitung, 15. 12. 2015                                                           Christian Thomasius  

Wie die Aufklärung Deutschland im 18. Jahrhundert verändert hat 
SACHBUCH: Steffen Martus malt ein so umfassendes wie detailreiches Bild der Aufklärung im 18. Jahrhundert.

von Harald Loch

Abstand und Nähe sind beides gute Voraussetzungen für eine Bildbetrachtung. Das gilt auch für das "Epochenbild", das der Berliner Literaturwissenschaftler Steffen Martus unter dem Titel "Aufklärung" vom deutschen 18. Jahrhundert entwirft. Es erreicht eine neue Lesart durch den historiographischen Zoom, mit dem Martus den Fokus vom größeren Abstand auf zahllose Details zieht, die zur Erschließung des Gesamtbildes entscheidend beitragen. Gutgewählte, oft überraschende zeitgenössische Zitate bereichern die Erzählung verwirrend vielfältig, aber interessant und unterhaltsam. Von diesen Details her führen weite Blicke auf das große Ganze. Abstand und Nähe wechseln sich fruchtbar ab.

So erschließt sich die einmalige politische Gesamtsituation: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das "Alte Reich", war ein föderatives Kaiserreich mit Hunderten von territorial definierten Mitgliedern und mit Teilnehmern, die jenseits der Grenzen ihre Hauptrolle spielten. 1714 wird der Kurfürst von Hannover als George I. britischer König, August der Starke wird als Kurfürst von Sachsen zugleich polnischer König. Das Reich der Habsburger, die seit langem den Kaiser im Alten Reich stellen, liegt zu großen Teilen außerhalb dieses "deutschen" Reiches ebenso wie Preußen.

Die politische und kulturelle Vielfalt des Alten Reiches

Der politischen Buntheit des Reiches, das nur durch ein ständiges Neujustieren der Machtverhältnisse und Interessensphären zu beherrschen war, entspricht die kulturelle Vielfalt. Sie entwickelt sich im Spannungsfeld zwischen Reformation, Gegenreformation und einer Säkularisierung der Gedankenwelt, die im Mittelpunkt der Darstellung von Martus steht.

Theologie und Philosophie sind die Arenen, in denen sich das abspielt, was die Zeitgenossen bald "Aufklärung" nennen. Martus spannt den geistesgeschichtlichen Bogen von Pufendorf und Thomasius über Leibniz und Wolff, Gottsched und Wieland bis zu Lessing und Kant. Er zeigt Querverbindungen zur europäischen Entwicklung, etwa zu Newton oder Montesquieu. Er vollzieht die in der sich entwickelnden Medienwelt geführten Auseinandersetzungen zwischen den Kontrahenten nach. Das Ringen um Erkenntnisgewinn und die Marketingstrategien der Protagonisten bestimmen den Streit um die "Aufklärung".

Es geht immer um die Frage, ob der Mensch glauben soll, was er nicht wissen kann, um die Erkenntnis dessen, was ist und was geschieht, um den Zweifel und den Diskurs als individuelle wie gesellschaftliche "Produktionsfaktoren". Vernunft und religiöse Bekenntnisse prallen aufeinander.

Zunächst ist "Aufklärung" ein Importbegriff: Der Vater der akademischen Aufklärung, Christian Thomasius, lud am Jahrestag des lutherschen Thesenanschlags im Jahre 1687 per Plakat "die studirende Jugend zu Leipzig zu einem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte? Ein Collegium über die GRATIANS Grund-Reguln/Vernünfftig/klug und artig zu leben." Einige Jahrzehnte später ergänzte der Mathematiker Christian Wolff dieses "politisch-galante" Gelehrsamkeitsideal und erhob den Anspruch, mit "deutlichen Begriffen, gründlichen Beweisen und Verknüpfung der Wahrheiten für Glückseligkeit" zu sorgen. Intellektuelle Klarheit solle "Finsterniß und Unordnung" beseitigen.

Im Laufe des Jahrhunderts bilden sich unter dem Begriff "Aufklärung" viele Spielarten und Mischformen heraus, die sich gegenseitig heftig bekämpfen. Martus beschreibt sie alle und erzählt von dem Auf und Ab der Schulen. Die messenden Naturwissenschaften stürzen manche Himmelsgewissheit vom Sockel, die Philosophie fragt nach und leugnet scheinbar festgemauerte Fundamente christlicher Heilserwartung. Das Erforschen der "Wahrheit" an Akademien und Universitäten hat Konjunktur. Toleranz bekommt – wenigstens in der Theorie – einen guten Klang.

Es gibt "radikalere" und "sanftere" Ausprägungen von Aufklärung – immer aber steht der vernunftbegabte Mensch vor der Selbstverwirklichung seiner anthropologischen Aufgabe. Bis dann Immanuel Kant in seinem berühmten Beitrag in der Berlinischen Monatsschrift auf die Frage "Was ist Aufklärung?" im Jahre 1784 den Epochen-Slogan vom "Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit" prägt.

Der weite Weg bis zu diesem Satz, der wieder vieles offen lässt, ist der nie geradlinige Pfad, der durch das Epochenbild von Martus verläuft. Geographisch zieht er sich durch Mitteldeutschland, von Leipzig und Halle über Berlin, Göttingen, Marburg und Hamburg.

Wie konfliktreich sich die Aufklärung in das öffentliche Leben, die Politik und das Verwaltungshandeln einbringt, zeigt Martus in interessanten Ausführungen zur Reformbestrebung im Strafrecht und zur Abschaffung der Folter, zu ersten Bemühungen um ein öffentliches Gesundheitswesen angesichts der verheerenden hygienischen Zustände, zu ökologischen Großtaten wie dem Landschaftspark von Wörlitz, zur Hinwendung zum alten Griechenland durch Winckelmann. Der jüdischen Aufklärung in Gestalt der Haskala und Moses Mendelssohns wie dem virulenten Antisemitismus wendet sich der Autor ebenso zu wie dem aufkommenden deutschen Nationalismus und dem Feindbild gegenüber Frankreich. Der Literaturwissenschaftler Steffen Martus begleitet dabei die Entwicklung von der deutschen Barockdichtung bis zu Goethes "Werther" und ermöglicht einen Zugriff auf die Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur, wie er nur in einem solchen Epochenbild möglich ist.

Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – Ein Epochenbild. Rowohlt Berlin, 2015. 1038 Seiten, 39,95 Euro.


Nota. - Der Autor wird doch nicht, so wie sein Rezensent, die Rolle vergessen haben, die der Dreißigjährige Krieg bei der Entstehung der Aufklärung gespielt hat? Die Religion, die in der Wirklichkeit ja immer nur diese oder jene Konfession ist, hatte Europa ins Chaos und an den Rand des Untergangs geführt. An ihrer Stelle konnte nur die Vernunft für Frieden und Erholung sorgen. Weder der holländische Naturrechtler Hugo Grotius noch der englisch Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes wären ohne anhaltenden Krieg und Bürgerkrieg zu verstehen. Die "Vielfalt" des Alten Reichs war weniger Eintracht als Anarchie gewesen, die Vernunft sollte stattdessen die eigensüchtigen Partikularitäten an einer einzigen gemeinsamen Richtschnur ausrichten. Säkularisierung war ein Gebot tagespolitischer Klugheit. – Das sollte in so einem dickleibigen Werk gar nicht vorkommen?
JE

Donnerstag, 10. Dezember 2015

Der darf das.



Ist Alvis Hermanis ein Rassist?

Es interessiert mich nicht und geht mich nichts an. Aber wenn er es wäre - und das geht mich an -, dann dürfte er es. Verboten und mit Strafen bedroht sind in unserem Rechtsstaat vom Gesetz untersagte Handlungen - wie Volksver-hetzung, Aufruf zu Straftaten, Gewaltakte. Nicht Gesinnungen, das unterscheidet uns von totalitären Unrechtssystemen.


Man kann aus vielen Gründen gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sein; ich selber bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sie unterm Strich einer sachlichen und (daher) pragmatischen Kritik nicht standhalten. Man könnte auch aus rassistischen Gründen dagegen sein - die halten nicht einmal einer ganz oberflächlichen Kritik stand, und deshalb schreien alle Oberflächlichen triumphierend "Rassismus!", wenn einer in dieser Sache anderer Meinung ist als sie. Aber erstens ist es nicht evident, und zweitens ist es nicht verboten.


Ganz allgemein gilt bloß: Wer in der Öffentlichkeit eine Meinung äußert, muss damit rechnen, dass eine Recht-fertigung von ihm verlangt wird.




Donnerstag, 3. Dezember 2015

Bandkeramiker.

Muttergottheit
aus derStandard.at, 3. Dezember 2015, 07:00 

Früheste Bauernkultur Mitteleuropas gelangte schneller nach Osten als gedacht 
Deutsche Forscher graben bislang unbekannte Siedlungen der neolithischen Bandkeramik aus 

Regensburg – Mit ihr hielt die Neolithische Revolution, also der Umstieg von Jagen und Sammeln auf Ackerbau und Viehzucht, erstmals in Mitteleuropa in großem Stil Einzug: Die Linearbandkeramische Kultur oder kurz Bandkeramik breitete sich im 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung vor allem im nördlichen Mitteleuropa aus und verschwand erst gegen Ende des 5. wieder. 



Ihren Namen hat sie von den typischen Verzierungen, die die in dieser Kultur angefertigten Gefäße trugen. Der Verbreitungsraum der Bandkeramik auf ihrem Höhepunkt war riesig und erstreckte sich nach heutigen Kategorien von Paris bis nach Odessa und von Stettin bis nach Budapest. 

Aktuelle Funde weisen darauf hin, dass man die Ostgrenze der frühen Bandkeramik noch etwas weiter verschieben muss als gedacht, wie die Universität Regensburg berichtet. Forscher der Universität Regensburg haben bei Grabungen zwei weitere Siedlungsorte in der nordwestlichen Ukraine nachweisen können. 



Neue Funde 

Der riesige Kulturraum der Bandkeramik erschloss sich der Archäologie bislang als kleinteiliges Mosaik aus vergleichsweise gut erforschten Regionen und weniger intensiv erkundeten – zu letzteren zählt auch der östliche Rand der jungsteinzeitlichen Kultur. Als östlichste bekannte Siedlung der frühen Bandkeramik galt eine Fundstelle am südlichen Stadtrand von Rìvne in der westlichen Ukraine. 

Idolfragment, Repliken

Das Regensburger Forscherteam um Thomas Saile und Maciej Debiec entdeckte nun aber Siedlungen bei Mežirìč und Josipìvka in Wolhynien in der nordwestlichen Ukraine. Der Fund aus der frühen Bandkeramik kam für die Forscher überraschend. Bislang konnte erst für die spätere Bandkeramik in besser untersuchten Gebieten Wolhyniens ein dichtes und an kleineren Wasserläufen orientiertes Siedlungsnetz nachgewiesen werden. Erste Siedlungen gab es aber offenbar schon früher. 

Die Forscher sind sich allerdings sicher, dass sich die frühe Bandkeramik trotz günstiger Bodenfaktoren nicht sehr viel weiter nach Osten ausgebreitet haben dürfte. Die zunehmend kontinentale Prägung des Klimas nach Osten hin sorgt für größere Trockenheit und Kälte sowie dadurch auch zu weniger dichter Bewaldung – keine idealen Bedingungen für die Angehörigen der Bandkeramik, die daran gewöhnt waren, einen Lebensraum aus Wäldern und Flüssen zu bewirtschaften. (red)  



Montag, 30. November 2015

Kuhhandel?



Lassen wir die Kirche im Dorf. In der Türkei ist die Pressefreiheit in Gefahr, die Demokratie selbst ist dort nicht sicher. Freiheitlich gesonnene Zeitgenossen in aller Welt und namentlich in Europa sehen das mit Sorge. Aber was sie tun können, bleibt sekundär: Nämlich die Türken unterstützen, die sich dagegen zur Wehr setzen. Die tragen die Hauptlast, die kann ihnen keiner abnehmen.

Das gegenwärtige Flüchtlingsproblem ist ein europäisches, unmittelbar. Es kann nur europäisch verstanden und nur europäisch bewältigt werden. In Europa sind manche besser gerüstet, es auf sich zu nehmen, als andere, und dass die andern sich gern drücken würden, ist begreiflich. Da muss wohl einer das Heft in die Hand nehmen, das ist schon klar. Der muss es dann auf sich nehmen, das Notwendige und das Wünschenswerte zu unterscheiden, was immer die Ohnemichels auch wieder maulen werden. Und wenn sich das gegenwärtige Problem als ein dauerndes erweisen sollte, gilt das umso mehr.


Ob dann in der Durchführung womöglich nicht doch wieder falschgemünzt wird, wird man aufmerksam beob-achten müssen. Der Teufel sitzt im Detail, und Vertrauen hat sich in dieser Sache bislang keiner erworben.





Samstag, 28. November 2015

Aber ohne uns.




Am besten wäre es natürlich, wir könnten sie einfach wieder rausschmeißen, aber das erlaubt unser Rechtsstaat nicht, und den werden wir unter keinen, ich meine: unter gar keinen Umständen aufs Spiel setzen; nicht weil sie ihn verdient hätten, sondern weil wir ihn uns schuldig sind. Um seinetwillen werden wir Kröten schlucken. 

Aber uns selber schuldig sind wir ihn, weil wir nicht erst vor den Andern, sondern vor uns selber bestehen wollen. Da wird uns das Pack nicht dran hindern. Wenn sie sagen, zu uns wollen sie nicht gehören, haben sie unsern Segen. Wir auch nicht zu ihnen.




Samstag, 21. November 2015

Bairische Gast-Stätten.


Alle Medien sind sich einig, keiner tanzt diesmal aus der Reihe: Wie sie in Bayern die Flüchtlinge aufgenommen haben und aufnehmen, ist bis heute vorbildlich. Und in andern Bundesländern gar nicht.

Aber das kann doch nicht sein - weil dort zwei Gockel rivalisieren, der eine nachfolgen, der andre aber noch nicht gehen will, wackelt der Schwanz mit dem Hund! Frau Merkel hat sich auf dem CSU-Parteitag nicht den Schneid abkaufen lassen; "noch" nicht, unkt die Tagesschau. Das soll wohl bitte auch so bleiben, die Bayern sind unter den deutschen Stämmen einer der gastfreundlichsten, sie werden uns übrigen doch nicht unsere guten Anlagen verder-ben wollen.




Dienstag, 17. November 2015

Es war ein Fehlschlag.


St. Denis, Stade de France

Der Schock ist vorüber, die Hysterie sollte es auch sein. Es ist Zeit festzuhalten: Rein taktisch ist der Anschlag von Paris misslungen. Die drei Selbstmörder vom Stade de France wurden von den Kontolleuren nicht durchgelassen, sie mussten sich vor den Toren einsam und allein selbst in die Luft sprengen, gerade einer hat es immerhin bis zu McDonalds geschafft.

Man muss auch der Mystifikation von der stupenden Logistik ein Ende machen: Gewiss, ein bisschen Geld wird nötig gewesen sein, das musste irgendwo herkommen, aber so raffiniert, dass nicht ein halbes Dutzend Terroristen das Ding hätten selber durchziehen können, war es nicht, jedenfalls nix im Vergleich zum 11. September. Ich bin kein Fachmann wie all die Fernsehreporter, die wir seit drei Tagen hören und sehen, aber mir will scheinen: Ein Beweis für die Allgegenwart, die Unverwundbarkeit und die Furchtbarkeit des Islamischen Staats war es nun eben nicht.


Wenn einer sagte: In Syrien und im Irak sind sie militärisch auf ihre Grenzen gestoßen, sie sind weiterhin eine Horde bezahlter Söldner; eine Masse von Gläubigen haben sie bis heute nicht für ihre Sache begeistern können, sondern gerademal einen Haufen von Dropouts in der europäischen Diaspora; sie wissen nicht, wie weiter, sie müssen die Initiative peripheren Sympathisanten in Europa überlassen – wenn einer das sagte, klänge er unglaubwürdig?


Macht euch das klar: Das Blutbad, das sie in Paris anrichten wollten, haben sie nicht geschafft. Die Zweiundachtzig vom Bataclan sind nix im Vergleich zu den Zehntausenden, die ihnen im Stade de France entgangen sind.



Montag, 16. November 2015

Paris ändert nicht alle.



Das ist ja wie im Irrenhaus: Eben haben sie vor unserer Haustür, wo du und ich schon manchen Kaffee getrunken haben, Zustände hergestellt wie in Aleppo oder Homs, da posten die Ohnemichels als wär nichts geschehen: Da woll'n mer nix mit zu tun ham! Eben sollte noch der Letzte begriffen haben, dass sich Deutschland viel zu lange raus-gehalten hat, da rufen sie uns zu: Uns müsstet ihr schon totschlagen, damit wir's Maul halten!

Und darum gehts, bei uns müssen sie nicht das Maul halten und wird man sie nicht totschlagen, weil sie ihre Mei-nung haben. Andernorts geschieht das täglich; hinten in der Türkei, wo die Völker aufeinanderschlagen. Und siehe da: Heute ist das nebenan. Das wollten die Gartenzwerge gestern nicht wahrhaben, das verstehen sie auch heute nicht, drei Tage danach. Deutschland hat so lange still gehalten, dass es nicht auf einmal den wilden Mann markieren darf und sagen: Die Flüchtlinge sind nicht unser Problem, da soll sich das Mittelmeer drum kümmern!

Wir haben lange weggeschaut, aber einen Fehler muss man nicht verewigen, man kann ihn auch korrigieren, wenn noch Zeit ist.




Samstag, 14. November 2015

Bittere Lehre.


Was Schorsch Dabbelju vorausschauend im Irak zu verhindern wusste, hat Obama durch sein Zaudern in Syrien möglich gemacht.

Jetzt sitzen wir alle in der Tinte. Über die Flüchtlingslawine darf sich kein Deutscher beklagen. Die Ohnemichels von heute sind nur das späte Echo der damaligen Ohnemichel Schröder und Chirac.

Und wie hieß noch gleich der Dritte im Bunde? Richtig, das war ja der Friedensfreund Putin, der packt jetzt in Syrien mit an. Oh, der hat dazugelernt!

Nicht dazugelernt haben die, die auch heute noch Deutschland aus allem heraushalten wollen. Aber zum Glück sind sie nicht mehr in der Mehrheit.





Pas peur.

Place de la République

Donnerstag, 12. November 2015

Nach dem Grundsätzlichen kommen die Details.



Wenn das Grundsätzliche geklärt und festgestellt ist, darf und soll man in diesem Fall sogar alles weitere pragmatisch diskutieren.

Das Grundsätzliche ist erstens: Wir haben es mit einer Dimension zu tun, die nur von Europa gemeinsam zu bewäl-tigen ist.

Zweitens: Die Wagenburg ist keine Möglichkeit, das Problem zu bewältigen, eher würde sie es verschärfen. Denn sie würde den Zustrom nicht effektiv bremsen können, aber ihr Geist würde nach innen so durchschlagen, dass sie die europäischen Völker auseinandertreibt und den Bestand der Union in Frage stellt.

Es ist also drittens so zu bewältigen, dass man die Flüchtlinge - nicht nur die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, sondern auch die Hungerflüchtlinge aus Afrika - in Europa aufnimmt. Wie das gehen soll, muss das Land vorma-chen, das dafür am ehesten ausgestattet ist, und das sind wir. Sonst hätten die andern jedwede Ausrede, sich zu drücken.

Herr de Maizières, sind Sie anderer Meinung? Ist er nicht, jedenfalls hat er's bisher nicht gesagt.

Und ab da muss alles pragmatisch und wenn nötig im Detail diskutiert werden; und wer mit seiner Meinung an der einen Stelle Recht behält, muss sich selber fragen, ob der Nutzen den Aufwand lohnt. Ein geeigneter Anlass zu Glaubenskriegen ist es nur für Leute, die die Sache scheitern lassen wollen; egal, welcher Richtung sie ansonsten angehören.


Wenn nun ganz unterschiedliche Gesichtspunkte zur Sprache kommen, ist das nicht kakophon, sondern zeigt, dass einstweilen der gesunde Menschenverstand den Ton angibt und nicht Parteirücksichten: So muss es sein.




Mittwoch, 11. November 2015

Je komplexer eine Gemeinschaft ist, umso weniger bedarf sie persönlicher Führung.

Animal farm
aus derStardard.at, 7.11.2015

Warum Menschen schwache Anführer sind
Transdisziplinäre Studie zeigt: Menschliche Gesellschaften neigen weniger zu Machtkonzentration als Rudel anderer Säugetiere

von Tanja Traxler

Wien/Oakland – Es dauerte nicht lange, bis nach der Vertreibung des Bauern Jones in Animal Farm eine andere Spezies eine Gewaltherrschaft errichtete. In George Orwells Parabel sind es die Schweine, die sich zu den Führern der anderen Tiere machen – mit ähnlichen und teils schlimmeren Methoden als der Mensch.

Im Gegensatz zu Orwell ist in der Wissenschaft bisher angenommen worden, dass Führerschaft unter Menschen anders und weit komplexer funktioniert als im Tierreich. In einer transdisziplinären Studie zeigen Forscher nun im Fachblatt "Trends in Ecology & Evolution", dass menschliche Führer sehr ähnlich agieren wie tierische – aber weniger zu Machtkonzentration neigen.

Untersucht wurden Muster von Führerschaft in Gruppen von Säugetieren – neben acht menschlichen Gemein-schaften wie den Inuit oder dem Stamm der Tsimane in Bolivien, wurden dabei etwa Afrikanische Elefanten, Tüpfelhyänen und Meerkatzen empirisch erforscht. "Indem wir vergleichbare Maße entwickelt haben, konnten wir mehr Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Führern enthüllen als bisher angenom-men", sagt Jennifer Smith, Assistenzprofessorin am Mills College in Oakland (Kalifornien), die Erstautorin der Studie.

Kooperation unter Artgenossen ist im Tierreich häufig anzutreffen: Schimpansen reisen gemeinsam, Kapuziner-affen unterstützen einander bei Kämpfen, Tüpfelhyänen beim Jagen. Doch bislang war nicht bekannt, wie es Anführern gelingt, diese kollektiven Aktionen zu fördern. Um das herauszufinden, haben sich Biologen, Anthro-pologen, Mathematiker und Psychologen am National Institute for Mathematical and Biological Synthesis an der Universität Tennessee in Knoxville zu einer Gruppe zusammengeschlossen.

Erfahrung oder Vererbung

In vier Bereichen wurde Führerschaft untersucht: Bewegung, Futterbeschaffung, Konfliktmediation in der Gruppe und Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen. Eine der Fragen dabei war, ob die Fähigkeit zu führen durch Erfahrung erworben oder geerbt wird. Wie sich herausstellte, ist meist Ersteres der Fall: Individuen werden zu Führern, indem sie Erfahrung gewinnen. Allerdings gibt es ein paar bemerkenswerte Ausnahmen: Unter Tüpfelhyänen wird Führerschaft vererbt, ebenso vereinzelt bei indigenen Völkern – wobei die genauen Gründe dafür noch zu erforschen sind.

Im Vergleich zu anderen Spezies stellten sich Menschen als weniger führungsstark denn erwartet heraus: Die Anführer unter den Säugetieren haben häufig mehr Macht über die Gruppe, die Führerschaft bei Hyänen oder Elefanten etwa ist deutlich konzentrierter als beim Menschen. Ein Grund dafür könnte laut Smith das Faktum sein, dass Menschen dazu tendieren, spezialisiertere Rollen in einer Gesellschaft einzunehmen, als dies bei Tieren der Fall ist. "Selbst bei den am wenigsten komplexen menschlichen Gemeinschaften ist das Ausmaß an kollektiven Handlungen größer und vermutlich entscheidender für das Überleben und die Fortpflanzung als in den meisten Säugetiergemeinschaften", sagt die Biologin Smith.

Weiters machen es die menschlichen kognitiven Fähigkeiten für Planung und Kommunikation einfacher, Lösungen für kollektive Probleme zu finden. Die Mitglieder profitieren enorm von Zusammenarbeit, Zwang ist daher nicht notwendig, Menschen zu motivieren, ihren Anführern zu folgen – sie arbeiten mitunter auch freiwillig zusammen. 

Abstract
Trends in Ecology & Evolution: "Leadership in Mammalian Societies: Emergence, Distribution, Power, and Payoff"


Nota. – Während es bei Orwell darum ging, dass eine Gruppe – die stalinistische Bürokratie – die Macht an sich reißt, weil sie sie will, wurde hier untersucht, welche Gemeinschaften einen Machthaber brauchen und welche weniger.
Es handelt sich aber ausdrücklich um Studien an kleinen Lebensgemeinschaften, wo es um persönliche Füh-rerschaft geht, weil die Individuen einander persönlich kennen, und die also nicht übertragbar sind auf die großen Gesellschaftsbildungen unter den Menschen.

Allenfalls könnte man den trivialen Schluss ziehen: Je komplexer eine Gesellschaft, umso weniger bedarf sie persönlicher Machtausübung, um zusammengehalten zu werden. Die anonymen Sachzwänge besorgen schon das Nötige, oder wie schon die Liberalen des 19. Jahrhunderts predigten: Lasst nur den Markt frei walten, dann braucht ihr keinen Sonnenkönig. Und wie Max Weber hinzufügte: Wo genügend Bürokratie ist, braucht man auch kein Charisma.

JE