Montag, 28. Dezember 2015

Russlands Griff nach Konstantinopel.

aus nzz.ch, 23. 12. 2015                                       Ilja Repin, Die Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief 1880.

Russland und die Türkei als uralte Rivalen
Der Traum von Zargrad
Dass die Türkei und Russland aneinandergeraten, hat Tradition. Nicht nur spielte dabei stets Machtpolitik eine Rolle – auch das Sendungsbewusstsein prallte mitunter heftig aufeinander.

von Ulrich M. Schmid

In der Neuzeit führten Russland und das Osmanische Reich etwa alle zwanzig Jahre einen Krieg. Die Rivalität zwischen dem Zarenreich und der Hohen Pforte nahm ihren Anfang bereits im 17. Jahrhundert, als die beiden Mächte um die Vorherrschaft in der Ukraine kämpften. Dieser Krieg hat vor allem durch Ilja Repins berühmtes Bild «Die Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief» aus dem Jahr 1880 Eingang in das kollektive russische Bewusstsein gefunden: Die Kosaken auf diesem Gemälde denken sich mit diebischem Vergnügen immer neue Beleidigungen für den Sultan aus, der sie zur Unterwerfung aufgefordert hatte. Repin war nicht zufällig auf dieses Sujet gekommen: Im Krieg von 1877/78 hatte Russland das Osmanische Reich besiegt und den jungen Balkannationen wichtige Impulse zum Aufbau ihrer Staatlichkeit verliehen.

Patriotischer Taumel

Eine wichtige Rolle bei der geistigen Aufrüstung Russlands spielte im russisch-türkischen Krieg von 1877/78 auch Fjodor Dostojewski. In seinem «Tagebuch eines Schriftstellers» gab der berühmte Romanautor seiner Überzeugung Ausdruck, dass «das Goldene Horn und Konstantinopel unser sein werden». Den Krieg selbst bezeichnete er als «reinigendes Gewitter», das die gesellschaftliche Solidarität zwischen der Bauernschaft und dem Adel in Russland stärken werde. Vorbereitet wurden Dostojewskis patriotische Ideen durch den Lyriker Fjodor Tjutschew, der 1850 in seiner «Weissagung» gedichtet hatte: «Und die alten Gewölbe der Hagia Sophia / und das erneuerte Byzanz / werden erneut den Altar Christi umfassen. / Fall vor ihm nieder, o russischer Zar / und auferstehe als Zar aller Slawen!»

Solch hochfahrende Visionen spielten eine wichtige Rolle bei der Entfesselung des Krimkriegs (1853–1856). Die russische Gesellschaft befand sich in einem patriotischen Taumel – man träumte von einer panslawischen Föderation unter russischer Führung. Einer der Wortführer dieses Programms war der erzkonservative Publizist Michail Pogodin, der das eroberte Konstantinopel sogar zur neuen russischen Hauptstadt machen wollte. Allerdings wurden seine Erwartungen bald enttäuscht: Russland unterlag schmählich in diesem Waffengang gegen das Osmanische Reich.

Zar Nikolaus I. konnte es kaum fassen, dass Frankreich und Grossbritannien auf der Seite der Türken gegen Russland kämpften. Wie selbstverständlich war der russische Herrscher davon ausgegangen, dass jeder militärische Angriff auf Nichtchristen nicht weiter gerechtfertigt werden musste und per se den Anspruch auf eine «heilige Allianz» der europäischen Grossmächte begründete. Als sich die russische Niederlage abzeichnete, bemerkte der Zar resigniert, dass er nur noch als «Glaubensmärtyrer» untergehen könne.

Es gab für Nikolaus I. aber noch ein weiteres Prinzip, das sein aussenpolitisches Handeln bestimmte und erst in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit mit dem christlichen Sendungsbewusstsein kollidierte. Der Zar betrachtete die Autokratie als einzig legitime Staatsform und achtete sorgsam darauf, dass die Stellung anderer Monarchen nicht ernsthaft gefährdet wurde. So schlug er gemeinsam mit dem österreichischen Kaiser Aufstände in Krakau (1846) und in Ungarn (1849) nieder. Wegen dieser Polizeieinsätze galt Nikolaus I. als «Gendarm Europas». Erstaunlicherweise erstreckten sich Nikolaus' solidarische Hilfsaktionen für bedrängte Autokraten auch auf das Osmanische Kalifat. Der Zar schlachtete Unruhen gegen die Türkenherrschaft nicht aus, sondern war an einer stabilen Regierung in Konstantinopel interessiert. 1832 unterstützte er Sultan Mahmud II., als eine ägyptische Invasion in Anatolien drohte. 1848 schlugen osmanische und russische Truppen in seltener Einmütigkeit die rumänische Revolution nieder.

Die chauvinistischen Töne, die den Krimkrieg und den Krieg von 1877/78 begleiteten, klangen in den Türkenkriegen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts noch eher verhalten. Viel wichtiger waren geopolitische Interessen, die sich auf die Kontrolle der nördlichen Schwarzmeerküste konzentrierten. Eine entscheidende Rolle spielte Katharina die Grosse, die ein «griechisches Projekt» verfolgte. Sie wollte das Zarenreich in der Nachfolge des Byzantinischen Imperiums positionieren und zur Hüterin des orthodoxen Christentums aufsteigen. Sie ging sogar so weit, ihren Enkel Konstantin zu nennen und ihn Griechisch lernen zu lassen, damit er später den byzantinischen Thron übernehmen könne. Katharina konnte zwar nicht bis zum Bosporus vorstossen, annektierte aber 1783 die Krim.

Schmerzhafter als der Verlust der Halbinsel war für das Osmanische Reich das Ende der dreihundert Jahre währenden Seehoheit über das Schwarze Meer. Auch Katharinas «griechisches Projekt» war nicht ausschliesslich als russische Expansion angelegt. Die Zarin war auf eine Balance der europäischen Grossmächte bedacht: Sie wollte nach einem allfälligen Sieg über das Osmanische Reich die eroberten Gebiete auf dem Balkan nach dem sogenannten «système copartageant» verteilen. Darunter verstand sie einen sorgfältigen Schlüssel, nach dem sich die etablierten Autokratien territorial gleich stark erweiterten. Exemplarisch wurde dieses System während der polnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts angewandt.

Einen späten Widerhall fanden Katharinas byzantinische Träume während des Ersten Weltkriegs. Die Eroberung Konstantinopels rückte auf der russischen Tagesordnung wieder ganz nach oben. Dabei stand vor allem der ungehinderte Zugang zum Mittelmeer für russische Handels- und Kriegsschiffe im Vordergrund. Im November 1914 kam zwischen Russland und Grossbritannien ein veritabler Kuhhandel zustande: Grossbritannien sicherte sich Russlands Unterstützung im Kampf gegen Deutschland, indem es nach einem gemeinsamen Sieg über Deutschland die russischen Interessen an den Meerengen respektieren würde. Im Gegenzug versprach der Zar, Persien und Ägypten nicht anzutasten. Dieser Deal war umso erstaunlicher, als Grossbritannien in den Jahrzehnten zuvor noch alles darangesetzt hatte, das Osmanische Reich vor Russland zu schützen. Der Grund für das britische Umdenken lag in der festgefahrenen Situation nach der Schlacht bei Ypern. Ein Sieg an der deutschen Westfront war unwahrscheinlich geworden, deshalb musste man sich erstens russische Unterstützung holen und zweitens die mit Deutschland verbündeten Türken angreifen.

Der Erste Weltkrieg endete mit dem Untergang sowohl des russischen Imperiums als auch des Osmanischen Reiches. Auf den Ruinen beider Monarchien entstanden neue Staaten, die sich als radikale Modernisierungsprojekte verstanden: Lenins kommunistisches Sowjetrussland und Kemal Atatürks national geprägte Republik. Beide Staaten mussten sich zuerst ihre innenpolitische Legitimität und die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft sichern. Deshalb schlossen die Sowjetunion und die Türkei bereits im Jahr 1925 für die Dauer von zwanzig Jahren einen Freundschaftsvertrag, der den beiden jungen Regierungen gegenseitig den Rücken freihalten sollte. Bezeichnenderweise wurde der Vertrag nach dem Zweiten Weltkrieg wegen eines Territorialkonflikts nicht erneuert: Stalin forderte ehemals zum Zarenreich gehörende Gebiete in Ostanatolien und wollte sie der georgischen und der armenischen Sowjetrepublik anschliessen. Im Jahr 1952, auf dem Höhepunkt der Krise, trat die Türkei der Nato bei. Die Situation entspannte sich erst nach dem Tod des Sowjetdiktators wieder.

Die Achse der Turkvölker

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion streckte die Türkei vor allem im Rahmen der kulturellen Zusammenarbeit die Fühler in die Russische Föderation aus. 1993 wurde die «Turksoy» als Kulturorganisation der turksprachigen Länder gegründet. Mitglieder sind die Türkei, die zentralasiatischen Staaten sowie Aserbaidschan. Die turksprachigen Teilrepubliken in Russland, darunter Tatarstan und Baschkortostan, haben Beobachterstatus. Bis heute hat Ankara seine engsten Beziehungen in Russland nicht zu Moskau, sondern zu Kasan und Ufa. Wenig überraschend hat der linientreue Kulturminister Wladimir Medinski gleich nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei den turksprachigen Teilrepubliken der Russischen Föderation die Zusammenarbeit mit «Turksoy» untersagt. Die Tataren und Baschkiren befinden sich heute in einem Dilemma: Einerseits besteht Moskau auf einer unmissverständlichen Loyalitätsbekundung, andererseits schätzt man an der Wolga die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit der Türkei.

In der patriotischen Literatur ist der Traum vom russischen Konstantinopel auch heute noch nicht ganz ausgeträumt. Der Petersburger Erfolgsautor Pawel Krusanow veröffentlichte im Jahr 2000 seinen Roman «Der Biss des Engels», der in einem utopischen Russischen Reich mit der Hauptstadt Zargrad spielt – Zargrad ist die russische Bezeichnung für Byzanz. Im August 2001 publizierte er – gemeinsam mit dem Philosophen Alexander Sekazki – einen offenen Brief, in dem er zur Ausweitung des russischen Imperiums an seine «unsichtbaren Grenzen» aufrief: «Zargrad, Bosporus, Dardanellen.»

Nota. - Historische Resmiszenzen sind Putin vermutlich gleichgültig. Wenn er regionalpolitische Projekte betreibt, sind seine Motive in erster Linie bonapartistischer Natur: die zentrifugalen Kräfte im Innern zusammenhalten, indem er die Unrast nach außen leitet. Das funktioniert aber nur in dem Maß, wie immer wieder mal Erfolge sichtbar sind. Die Annexion der Krim war ein solcher Erfolg, aber er war auch nicht sehr riskant. Wer außer den Ukrainern hätte sich aufregen sollen? Allgemein sah man darin doch eher eine Wiederherstellung eines legitimen Status quo ante. 

Die Umtriebe im Donezbecken sind schon ernster zu nehmen, und Putin hatte den Widerstand des Westens wohl unterschätzt. Zwar ist die dortige museale Schwerindustrie keinen wirklichen Krieg wert, aber wenn man Putin das durchgehen lässt, wird er meinen, er könne sich alles erlauben. Doch auch für ihn rechtfertigen die verrosteten Stahlwerke keinen Schuss Pulver, er wird es auf einen ernsten Konflikt nicht ankommen lassen. 

Allerdings erlaubt die bonapartistische Logik keinen Rückzug. Man muss immer wieder eins draufsatteln. Vor der Annexion der Krim war Putins Standing im eignen Land auf dem Tiefpunkt, und dass er die gegenwärtige Wirtschaftskrise heil überstanden hat, verdankt er nur der Großmachtspielerei. Er kann Nova Rossija nicht einfach fahren lassen, höchstens auf kleiner Flamme köcheln; aber auch nur, wenn er zuvor einen neuen Kriegsschauplatz aufmacht - nämlich im Nahen Osten. Dass die Türkei sich ihre Einflusszone nicht streitig machen lassen will, hat Erdogan ihm deutlich zu verstehen gegeben. Da aber der Starke Wladimir gar keinen wirklichen geopolitischen Plan hat, sondern zockt wie jeder Parvenü, dem der Boden heiß wird, ist er unbere-chenbar geworden. So gut man verstehen mag, dass er keine Alternativen hat und dass es auch zu ihm einst-weilen keine Alternative gibt, darf man ihn um Himmels Willen nicht gewähren lassen.
JE 

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