Dienstag, 15. Dezember 2015
Wie die Aufklärung nach Deutschland kam.
aus Badische Zeitung, 15. 12. 2015 Christian Thomasius
Wie die Aufklärung Deutschland im 18. Jahrhundert verändert hat
SACHBUCH: Steffen Martus malt ein so umfassendes wie detailreiches Bild der Aufklärung im 18. Jahrhundert.
von Harald Loch
Abstand und Nähe sind beides gute Voraussetzungen für eine Bildbetrachtung. Das gilt auch für das "Epochenbild", das der Berliner Literaturwissenschaftler Steffen Martus unter dem Titel "Aufklärung" vom deutschen 18. Jahrhundert entwirft. Es erreicht eine neue Lesart durch den historiographischen Zoom, mit dem Martus den Fokus vom größeren Abstand auf zahllose Details zieht, die zur Erschließung des Gesamtbildes entscheidend beitragen. Gutgewählte, oft überraschende zeitgenössische Zitate bereichern die Erzählung verwirrend vielfältig, aber interessant und unterhaltsam. Von diesen Details her führen weite Blicke auf das große Ganze. Abstand und Nähe wechseln sich fruchtbar ab.
So erschließt sich die einmalige politische Gesamtsituation: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das "Alte Reich", war ein föderatives Kaiserreich mit Hunderten von territorial definierten Mitgliedern und mit Teilnehmern, die jenseits der Grenzen ihre Hauptrolle spielten. 1714 wird der Kurfürst von Hannover als George I. britischer König, August der Starke wird als Kurfürst von Sachsen zugleich polnischer König. Das Reich der Habsburger, die seit langem den Kaiser im Alten Reich stellen, liegt zu großen Teilen außerhalb dieses "deutschen" Reiches ebenso wie Preußen.
Die politische und kulturelle Vielfalt des Alten Reiches
Der politischen Buntheit des Reiches, das nur durch ein ständiges Neujustieren der Machtverhältnisse und Interessensphären zu beherrschen war, entspricht die kulturelle Vielfalt. Sie entwickelt sich im Spannungsfeld zwischen Reformation, Gegenreformation und einer Säkularisierung der Gedankenwelt, die im Mittelpunkt der Darstellung von Martus steht.
Theologie und Philosophie sind die Arenen, in denen sich das abspielt, was die Zeitgenossen bald "Aufklärung" nennen. Martus spannt den geistesgeschichtlichen Bogen von Pufendorf und Thomasius über Leibniz und Wolff, Gottsched und Wieland bis zu Lessing und Kant. Er zeigt Querverbindungen zur europäischen Entwicklung, etwa zu Newton oder Montesquieu. Er vollzieht die in der sich entwickelnden Medienwelt geführten Auseinandersetzungen zwischen den Kontrahenten nach. Das Ringen um Erkenntnisgewinn und die Marketingstrategien der Protagonisten bestimmen den Streit um die "Aufklärung".
Es geht immer um die Frage, ob der Mensch glauben soll, was er nicht wissen kann, um die Erkenntnis dessen, was ist und was geschieht, um den Zweifel und den Diskurs als individuelle wie gesellschaftliche "Produktionsfaktoren". Vernunft und religiöse Bekenntnisse prallen aufeinander.
Zunächst ist "Aufklärung" ein Importbegriff: Der Vater der akademischen Aufklärung, Christian Thomasius, lud am Jahrestag des lutherschen Thesenanschlags im Jahre 1687 per Plakat "die studirende Jugend zu Leipzig zu einem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte? Ein Collegium über die GRATIANS Grund-Reguln/Vernünfftig/klug und artig zu leben." Einige Jahrzehnte später ergänzte der Mathematiker Christian Wolff dieses "politisch-galante" Gelehrsamkeitsideal und erhob den Anspruch, mit "deutlichen Begriffen, gründlichen Beweisen und Verknüpfung der Wahrheiten für Glückseligkeit" zu sorgen. Intellektuelle Klarheit solle "Finsterniß und Unordnung" beseitigen.
Im Laufe des Jahrhunderts bilden sich unter dem Begriff "Aufklärung" viele Spielarten und Mischformen heraus, die sich gegenseitig heftig bekämpfen. Martus beschreibt sie alle und erzählt von dem Auf und Ab der Schulen. Die messenden Naturwissenschaften stürzen manche Himmelsgewissheit vom Sockel, die Philosophie fragt nach und leugnet scheinbar festgemauerte Fundamente christlicher Heilserwartung. Das Erforschen der "Wahrheit" an Akademien und Universitäten hat Konjunktur. Toleranz bekommt – wenigstens in der Theorie – einen guten Klang.
Es gibt "radikalere" und "sanftere" Ausprägungen von Aufklärung – immer aber steht der vernunftbegabte Mensch vor der Selbstverwirklichung seiner anthropologischen Aufgabe. Bis dann Immanuel Kant in seinem berühmten Beitrag in der Berlinischen Monatsschrift auf die Frage "Was ist Aufklärung?" im Jahre 1784 den Epochen-Slogan vom "Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit" prägt.
Der weite Weg bis zu diesem Satz, der wieder vieles offen lässt, ist der nie geradlinige Pfad, der durch das Epochenbild von Martus verläuft. Geographisch zieht er sich durch Mitteldeutschland, von Leipzig und Halle über Berlin, Göttingen, Marburg und Hamburg.
Wie konfliktreich sich die Aufklärung in das öffentliche Leben, die Politik und das Verwaltungshandeln einbringt, zeigt Martus in interessanten Ausführungen zur Reformbestrebung im Strafrecht und zur Abschaffung der Folter, zu ersten Bemühungen um ein öffentliches Gesundheitswesen angesichts der verheerenden hygienischen Zustände, zu ökologischen Großtaten wie dem Landschaftspark von Wörlitz, zur Hinwendung zum alten Griechenland durch Winckelmann. Der jüdischen Aufklärung in Gestalt der Haskala und Moses Mendelssohns wie dem virulenten Antisemitismus wendet sich der Autor ebenso zu wie dem aufkommenden deutschen Nationalismus und dem Feindbild gegenüber Frankreich. Der Literaturwissenschaftler Steffen Martus begleitet dabei die Entwicklung von der deutschen Barockdichtung bis zu Goethes "Werther" und ermöglicht einen Zugriff auf die Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur, wie er nur in einem solchen Epochenbild möglich ist.
Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – Ein Epochenbild. Rowohlt Berlin, 2015. 1038 Seiten, 39,95 Euro.
Nota. - Der Autor wird doch nicht, so wie sein Rezensent, die Rolle vergessen haben, die der Dreißigjährige Krieg bei der Entstehung der Aufklärung gespielt hat? Die Religion, die in der Wirklichkeit ja immer nur diese oder jene Konfession ist, hatte Europa ins Chaos und an den Rand des Untergangs geführt. An ihrer Stelle konnte nur die Vernunft für Frieden und Erholung sorgen. Weder der holländische Naturrechtler Hugo Grotius noch der englisch Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes wären ohne anhaltenden Krieg und Bürgerkrieg zu verstehen. Die "Vielfalt" des Alten Reichs war weniger Eintracht als Anarchie gewesen, die Vernunft sollte stattdessen die eigensüchtigen Partikularitäten an einer einzigen gemeinsamen Richtschnur ausrichten. Säkularisierung war ein Gebot tagespolitischer Klugheit. – Das sollte in so einem dickleibigen Werk gar nicht vorkommen?
JE
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