Sonntag, 31. Januar 2016

Was hat der arabische Frühling mit unserm Flüchtlingsproblem zu tun?


in Slowenien, 2015

In der gestrigen FAZ hat Hans-Ulrich Gumbrecht unterm Titel Migrations-Energie einen etwas pompösen "anthropo-logischen Einwurf" zum Thema Völkerwanderung veröffentlicht. Er erinnert daran, dass die Gründe, die zu jener historischen Migrationsbewegung geführt haben, aus der Europa entstanden ist und die wir bis heute als die Völker-wanderung kennen, noch immer ganz ungeklärt sind, und verweist auf die Kreuzzüge als eine Jahrhunderte währende Wanderungsbewegung des westeuropäischen Adels (deren Grund, der Abschluss der feudalen Landnahme, freilich weniger im Dunkel liegen als ihre spezifischen Anlässe). Er nimmt das zum Anlass, eine "Migrationsenergie" als eine Art stochastische anthropologische Konstante zu postulieren. Das bleibt noch wolkig und gibt wenig Hinweis auf künftige Handlungsmöglickeiten.

Aktuell ist aber sein nur zur Unterstützung herangezogener Hinweis auf die gegenwärtige Abwanderungsbewegung aus den arabischen Ländern. Der Hintergrund sei die tiefgreifende und langwierige Unterminierung der traditionel-len islamischen Kultur durch die Neuen Medien, die den Einfluss der "Verwestlichung" im Laufe des 20. Jahrhun-derts (die nur die Oberschicht betraf) weit übersteigt, und deren erste große Manifestation der arabische Frühling vor fünf Jahren gewesen ist. Dessen Ausgang war tief enttäuschend, nicht einmal in Tunesien sind die Erfolge sehens-wert, in Ägypten folgte eine Konterrevolution wie aus dem Lehrbuch, in Libyen das Chaos und in Syrien das helle Grauen. Und im Irak können sie sich nur trösten, dass die rechtzeitige Beseitigung Saddams wenigstens den offenen Krieg zwischen den Konfessionen vermieden hat; aber schlimm genug ist es auch so.

Bei dem Massenexodus aus dem Nahen Osten handle es sich um eine Umleitung der damals freigesetzten Energien – aus einer öffentliche Massenbewegung in die paradoxe "private Massenbewegung" der Auswanderung. Das hat Realitätsgehalt über die anthropologische Spekulation hinaus, und längst ist bemerkt worden, dass der jihadistische Terror kein Anzeichen für zunehmenden Fundamentalismus, sondern im Gegenteil eine ultraminoritäre Manifesta-tion gegen den fortgeschrittenen Laizismus darstellt. Die Laizisierung wird unaufhaltsam voranschreiten, für terrori-stische Reaktionen ist auf Dauer für Anlass gesorgt.

Auch ohne autonome "Migrationsenergie" wird daher der Zuwanderungsdruck auf Europa anhalten. Er wird eine Konstante der europäischen Politik wenigstens für ein Jahrzehnt sein.


Samstag, 30. Januar 2016

Gartenzwerge gegen Deutschland.



Die Unterscheidung zwischen asylberechtigten politischen und nicht asylberechtigten Wirtschaftsflüchtlingen hat allenfalls die pragmatische Rechtfertigung, in diesem Augenblick die Zahlen wenigstens ein kleines bisschen drücken zu können. Aber auf weite Sicht ist sie unvernünftig und wird sich außerdem als nicht praktikabel erweisen. 

Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge überqueren auch nicht aus Fernweh mit ihren Kindern im Schlauchboot das Mittelmeer, sondern weil sie vor dem Elend fliehen. Wenn sie ihr und ihrer Kinder Leben riskieren – glaubt denn einer, dann werden sie sich von ein paar zusätzlichen bürokratischen Schikanen abschrecken lassen? Es werden immer mehr kommen. Das würde sich auch mit einem Ende der Bürgerkriege im Nahen Osten nicht ändern. 


Syrien, der Irak und der IS haben die Sache akut gemacht. Aber die Aufgabe ist eine dauernde: ein Einwanderungsland Europa zu schaffen. Das ist das Signal, das Frau Merkel gesetzt hat, und sie hat allen Grund, nicht locker zu lassen und in der Sache nicht einen Fußbreit preiszugeben. Wenn Deutschland nicht in Europa führt, tut es keiner, und Europa zerfällt. Vielleicht sollte Schröder sich gleich nochmal zu Wort melden und dies nachtragen: Wer jetzt der Merkel in den Rücken fällt, stellt sich gegen Europa und gegen Deutschland.




Donnerstag, 28. Januar 2016

So schlecht ist der Schröder ja gar nicht!

Schröder lobte Merkel für ihre Entschlossenheit. Der Altkanzler übte aber auch Kritik: „Merkel hätte ein paar Leute in Europa vorher anrufen sollen.“ Quelle: ap
aus Handelsblatt Online, 26. 1. 2016

Gerhard Schröder kämpft für Europa. 
Beim Jahrestag der deutsch-asiatischen Wirtschaft verteidigt der Altkanzler offene Grenzen und die Integration von Migranten – auch zur Stärkung der europäischen Wirtschaft.
Schröder lobte Merkel für ihre Entschlossenheit. Der Altkanzler übte aber auch Kritik: „Merkel hätte ein paar Leute in Europa vorher anrufen sollen.“

Düsseldorf. - Altkanzler Gerhard Schröder greift in Debatte um die Folgen der Flüchtlingsströme ein. Grenzkontrollen, die nicht mit dem Schengener Abkommen vereinbar sind, hält er für falsch. „Wir müssen die Freizügigkeit erhalten. Wir müssen Schengen erhalten“, sagte er beim Jahrestag der deutsch-asiatischen Wirtschaft „Asia Business Insights“, den das Handelsblatt am Montag gemeinsam mit der internationalen Großbank HSBC in Düsseldorf veranstaltet hat.

Als Grund nannte der ehemalige Bundeskanzler das Interesse der Unternehmen in Europa am freien Warenverkehr. Eine Einschränkung hält er für falsch und gefährlich, sie schade der Wirtschaft. „Europa muss sich entscheiden, ob es im 21. Jahrhundert noch eine Rolle spielen will“, meinte Schröder. Deutschland allein sei zu schwach, um international eine herausragende Rolle zu spielen.

„Deswegen muss jeder ein überzeugter Anhänger der Integration bleiben – auch in schwierigen Zeiten“, fügte der Altkanzler hinzu. Wer immer Schengen außer Kraft setzen wolle, müsse sagen, was an dessen Stelle kommen soll. „Wir brauchen keine schnelle Lösung, sondern einen Plan. Die wirklichen Probleme Europas“, analysierte Schröder, „liegen nicht in Griechenland und dem Euro, sondern in Protektionismus und Nationalismus.“ Die Kräfte der De-Integration in der EU seien größer „als wir es gebrauchen können“, bedauerte er.

Schröder schaltet sich damit deutlich in die Debatte um die Folgen der Flüchtlingskrise in Europa ein. Der frühere SPD-Finanz- und Wirtschaftsminister Manfred Lahnstein hatte sich gerade im Handelsblatt für ein zeitlich befristetes Aussetzen des Schengen-Abkommen ausgesprochen. Europäische Spitzenpolitiker lehnen den Vorschlag ab. „Ohne Schengen macht Europa keinen Sinn“, meint Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Und der Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk, malt ein Scheitern der EU an die Wand, falls die Regeln von Schengen nicht mehr gelten sollen.

Falsche Signale der Kanzlerin

In der Flüchtlingsfrage kritisiert der ehemalige Bundeskanzler seine Nachfolgerin Merkel: „Die Bundeskanzlerin“, so sagt er, „hat Herz gezeigt.“ Aber sie habe das eine oder andere falsche Signal gesetzt, in dem sie eine Ausnahmesituation zum Normalzustand erhoben habe.

Merkel habe, so sieht es Schröder, zwei Dinge übersehen: Sie habe erstens das Abkommen von Dublin, wonach der Staat, in dem ein Asylbewerber als erstes eingereist ist, verantwortlich für das Asylverfahren ist, handstreichartig außer Kraft gesetzt. „Sie hat gehandelt. Aber sie hätte ein paar Leute in Europa vorher anrufen sollen“, meint Schröder. Und sie hätte zweitens die Entscheidung als Ausnahmesituation darstellen müssen, die schnell wieder vorbei ist. Jetzt sei die Situation verfahren."

Als einen Lösungsansatz schlägt Schröder eine Stichtagsregelung vor: Jeder Flüchtling, der sich zu einem bestimmten Stichtag in Deutschland aufhalte, dürfe ungeachtet, ob sein Anliegen gerechtfertigt ist oder nicht, in Deutschland bleiben und einen Job bekommen.

„Wir brauchen einen Befreiungsschlag. Wer hier ist, bleibt und kann auch sofort arbeiten“, meinte der Altkanzler. Schröder will so die Geschwindigkeit der Integration erhöhen, auch um Vorfälle wie in der Silvesternacht in Köln zu vermeiden. „Wir kommen klar mit den Millionen, die da kommen. Aber nicht mit der Schnelligkeit, mit der sie auf Kommunen einstürzen“, sagte der Altkanzler.  


Nota. - Normalerweise mischt sich ein elder statesman nicht in die Tagespolitik ein, und schon gar nicht kritisiert er seinen Nachfolger. Auch der hemdsärmlige Schröder hat sich bislang daran gehalten. Doch es stimmt: Was normalerweise richtig ist, ist es im Augenblick nicht unbedingt. Außergewöhnliche Situationen erfordern oft außergewöhnliche Reaktionen. Hat er aber was zu sagen gehabt, das wichtig genug war, um eine Ausnahme zu rechtfertigen?

Zunächst einmal: Er hat Frau Merkel wegen ihrer Entschlossenheit gelobt. Das steht, obwohl es auch das Handelsblatt in den Hintergrund schiebt, an erster Stelle. Kritik hat er geübt, sie hätte ein paar Leute vorher anrufen sollen? Der hat gut reden. Daran wird sie selber gedacht haben, aber sie ahnte, dass es besser war, darauf zu verzichten: Am Telefon hätten die ihre Kleinkariertheit noch weniger verstecken müssen als jetzt in der Öffentlichkeit. 

Aber er legt einen Vorschlag nach, und der soll wohl - wird er es? - die Debatte auf eine andere Ebene heben: Die Unterscheidung zwischen asylberechtigten politischen und nicht asylberechtigten Wirtschaftsflüchtlingen hat allenfalls die pragmatische Rechtfertigung, in diesem Augenblick die Zahlen wenigstens ein kleines biss-chen drücken zu können. Aber auf weite Sicht ist sie unvernünftig und wird sich außerdem als nicht praktikabel erweisen. 

Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge überqueren auch nicht aus Fernweh mit ihren Kindern im Schlauchboot das Mittelmeer, sondern weil sie vor dem Elend fliehen. Wenn sie ihr und ihrer Kinder Leben riskieren - glaubt denn einer, dann werden sie sich von ein paar zusätzlichen bürokratischen Schikanen abschrecken lassen? Es werden immer mehr kommen. Das würde sich auch mit einem Ende der Bürgerkriege im Nahen Osten nicht ändern. 

Syrien, der Irak und der IS haben die Sache akut gemacht. Aber die Aufgabe ist eine dauernde: ein Einwande-rungsland Europa zu schaffen. Das ist das Signal, das Frau Merkel gesetzt hat, und sie hat allen Grund, nicht locker zu lassen und in der Sache nicht einen Fußbreit preiszugeben. Wenn Deutschland nicht in Europa führt, tut es keiner, und Europa zerfällt. Vielleicht sollte Schröder sich gleich nochmal zu Wort melden und dies nachtragen: Wer jetzt der Merkel in den Rücken fällt, stellt sich gegen Europa und gegen Deutschland.
JE



Montag, 25. Januar 2016

Das Gesicht des hässlichen Deutschen.


Unter dem Titel Die Selbsthilfegruppe gegen Einsamkeitsgefühle berichtet die  FAZ vom heutigen Montag berichtet über eine Studie des Dresdner Poltikwissenschaftlers Hans Vorländer zu der dortigen Pegida-Bewegung. Hier das Wesentlichste:

"Was aber motiviert dann bis heute die Mehrzahl der Demonstranten, montags zu Pegida zu gehen? Vorländer erklärt es mit einer Melange aus einem vulgär-demokratischen, bisweilen technokratischen Politikverständnis („Wir fragen und bestellen, ihr antwortet und liefert!“) sowie heftigen Aversionen gegen die politische und mediale Elite der Bundesrepublik... Es gebe nach wie vor eine große Reserviertheit gegenüber dem Westen und seinen Repräsentanten, wozu auch die nach der Wiedervereinigung Zugezogenen zählten, selbst wenn sie seit zwei Jahrzehnten hier wohnten. Der Protest wirke deshalb vor allem auf Menschen aus der bürgerlichen Mitte anziehend, die sich infolge des Umbruchs nach der Wiedervereinigung aus der Gesellschaft ausgeschlossen, zu kurz gekommen oder unter ihren Möglichkeiten geblieben fühlten.

Für sie sei Pegida ein Ritual, eine Art Wallfahrt, die gemeinschaftstiftend wirke. Die Leute kompensierten hier Einsamkeits- und Ohnmachtsgefühle, indem sie sich jeden Montag mit Gleichgesinnten träfen. „Viele hören noch nicht mal den Reden zu“, erklärt Vorländer das Phänomen, dass manche die Hetzreden auf der Bühne ablehnten und trotzdem weiter zu den Demos kämen: „Ihnen geht es darum, sich mal zwei Stunden an der frischen Luft in ihrem Pegida-Bekanntenkreis Erleichterung zu verschaffen.“

Das alles ist freilich auch Folge einer großen institutionellen Leere. Pegida übernimmt in Sachsen die Rolle, die woanders Kirchen, Vereine, der Arbeitsplatz oder der Stammtisch haben, was erklären könnte, warum so viele Pegida-Teilnehmer aus Orten Ostsachsens oder des Erzgebirges bis heute jeden Montag nach Dresden fahren. Einer der Demonstranten hat es in einer E-Mail an Frank Richter, den Direktor der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, mal so ausgedrückt: „Geben Sie sich keine Mühe. Ich werde so lange zu Pegida gehen, bis ich einen Job und eine Frau gefunden habe.“

Die Rolle Dresdens als „Hauptstadt der Bewegung“ erklärt sich damit auch durch die Lage der Stadt inmitten eines von Deindustrialisierung, Überalterung und Abwanderung geprägten Umlandes. Dresden sei ein Leucht-turm, eine schöne Bühne und wunderbare Kulisse, stehe aber auch für die Tradition staatlicher Eigenständigkeit, höfischen Glanzes und ingenieurtechnischen Erfindergeistes, die in Sachsen „eine besondere Tendenz zu kollek-tiver Selbstbezogenheit und Eigensinn“ hervorgebracht hätten. Ein ähnlich großes eigenstaatliches Sonderbe-wusstsein gebe es auch in Bayern, sagt Vorländer. Nur habe man dort den Spagat zu Weltoffenheit und einer gewissen Gelassenheit bereits geschafft.

Sachsens Landespolitik und insbesondere die seit 1990 regierende CDU jedoch hätten den staatlichen Stolz stets ganz bewusst gefördert, was auch zu einer Überhöhung des Eigenen und der Abwertung des Fremden (Auslän-der, Wessis, Eliten) beigetragen habe, die etwa ein Drittel der Pegida-Demonstranten unverhohlen äußerten. Vorländer spricht hier gar von „einer Art ,sächsischem Chauvinismus‘“. Das Muster ist bekannt: Wo vieles wegbricht, ist die Herkunft für manche das Einzige, das man ihnen nicht nehmen und das vor allem ein Fremder nie erreichen kann."





Sonntag, 24. Januar 2016

Wird es doch mal Ernst mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen?



aus Der Standard, Wien, 23.1.2016

Eine radikale Idee wird salonfähig 
Ein Einkommen für jeden, unabhängig davon, ob er arbeitet oder nicht: Die Schweiz hält noch heuer eine Volksabstimmung über diesen Vorschlag ab 

BERICHT 


von Andras Szigètvari, Alexander Hahn

Nach monatelanger Vorbereitungszeit rückt der Tag der Entscheidung für Heleen de Boer langsam näher. Die Gemeinderätin in Utrecht, der viergrößten Stadt in den Niederlanden, ist die Mitinitiatorin eines gewagten Sozialexperiments. Wie in Europa üblich gibt es auch in den Niederlanden Sozialhilfe nur bei der Erfüllung zahlreicher Auflagen. Geld bekommt etwa nur, wer arbeitswillig ist und keinen Job findet sowie über kein nennenswertes Vermögen verfügt. Aber was, wenn man diese Vorgaben allesamt streicht? 

450 Testpersonen will die Stadt Utrecht deshalb auswählen. Jeder von ihnen soll 950 Euro pro Monat erhalten, für einen Zweipersonenhaushalt gibt es 1350 Euro. Die Stadt will die Menschen in fünf Testgruppen einteilen. In jeder wird es andere Auflagen geben, die erfüllt werden müssen, um das Geld von der Stadt zu bekommen. In einer Gruppe gibt es die Unterstützung aber ohne Wenn und Aber, das heißt egal, ob man reich oder arm ist, etwas arbeitet oder daran gar nicht interessiert ist. Getestet wird, was geschieht, wenn Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten. 

Warten auf grünes Licht 

"Suchen die Leute trotzdem nach Arbeit, sinken oder steigen die Kosten für die Stadt, ändert sich das soziale Verhalten der Menschen? All das wollen wir endlich testen", erzählt Heleen de Boer. Doch noch fehlt das grüne Licht für das Experiment, das die Stadt gemeinsam mit dem Ökonomen Loek Groot von der lokalen Universität durchführen will. Die niederländische Regierung in Den Haag muss aus juristischen Gründen grünes Licht geben, wodurch das Thema zum Politikum geworden ist. 


Nachdem Utrecht im Sommer 2015 angekündigt hat, mit dem Versuch zu starten, haben auch Maastricht, Enschede und Nijmegen angekündigt, ähnliche Tests starten zu wollen. Aber ist es fair, Menschen 950 Euro zu bezahlen, die das Geld nicht brauchen, weil sie ohnehin gut verdienen? Das ist im Rahmen des Experiments durchaus möglich. Und könnten Arbeitslose jedes Interesse an einem Job verlieren, weil sie sowieso abgesichert sind – darüber müssen Regierung und Stadtverwaltung nun beraten. 

Unterschiedliche Zugänge 

Diesbezüglich verfügt die Wissenschaft bereits über empirische Erkenntnisse, wie der Soziologe Georg Vobruba von der Universität Leipzig unter Verweis auf Experimente in einigen US-Städten wie Seattle oder Denver in den 1970er-Jahren berichtet. "Die Ergebnisse haben gezeigt, dass die Effekte auf das Angebot auf den Arbeitsmarkt moderat ausgefallen sind", sagt der emeritierte Professor im Gespräch mit dem STANDARD. "Dass dann keiner mehr arbeiten geht, ist eine absurde Vorstellung." 

Sicher ist, dass Utrecht mit dem Sozialexperiment den Nerv der Zeit trifft. Die Idee einer universellen Grundsicherung wird seit Jahrzehnten diskutiert – umgesetzt ist das Konzept bisher nirgends. Doch die Befürworter der Idee verspüren weltweit Auftrieb. 

130.000 Unterschriften in der Schweiz 

So wird heuer in der Schweiz über eine Volksinitiative zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abgestimmt (siehe Interview). Die Initiative, hinter der eine Gruppe von Künstlern, Publizisten und Intellektuellen steht, wird zwar von einer deutlichen Mehrheit im Schweizer Parlament abgelehnt. Aber 130.000 Eidgenossen haben den Antrag zur Durchführung der Volksbefragung unterschrieben. Kommende Woche soll der Termin für die Abstimmung festgelegt werden. Auch in Finnland werden Versuche ausgearbeitet, mit denen die Sozialämter die Grundsicherung erproben wollen. 

Zustimmung von links und rechts 

Das Spannende ist, dass die klassischen politischen Zuordnungsversuche bei dem Thema nicht so leicht fallen: Es gibt unter Linken wie Rechten Unterstützer und erbitterte Gegner des Grundeinkommens. Den meisten fällt es gar nicht so leicht, sich festzulegen. In Österreich etwa wird die Einführung der Absicherung für alle nur von der KPÖ mehrheitlich propagiert. Auch in der SPÖ gibt es Sympathisanten, aber viele, die das Konzept ablehnen. Die deutsche Linke hingegen ist in der Frage gespalten, das globalisierungskritische Netzwerk Attac beurteilt die Frage differenziert. 

Andererseits gibt es auch unter Konservativen und Wirtschaftsliberalen Denker und Politiker, die ein Grundeinkommen fordern. Der österreichische Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August Hayek war einer von ihnen. 

Ende der Stigmatisierung 

Aus linker Sicht erhoffen viele, die Armut mildern zu können. Soziale Absicherung, ohne Pflicht zur Leistung, lautet das Schlagwort. Den Menschen bliebe im Idealfall mehr Zeit für Freizeit, Familie und Selbsterfüllung. Bei einem Grundeinkommen in seiner radikalen Form hätte jeder Wohnsitzbürger und jedes Kind einen Anspruch auf die Leistung. Das mit der Sozialhilfe oft verbundene Stigma der Almosen wäre damit beseitigt. 

Die Versorgung mit ausreichendem Grundeinkommen würde laut dem Soziologen Vobruba zu mehr Kreativität und Risikobereitschaft führen, was sich fördernd auf das Unternehmertum in einer Gesellschaft auswirken sollte. Die größten positiven Effekte erwartet er im unteren Einkommensbereich, wo "am Ende des Geldes oft noch viel Monat übrig ist". 

Ein richtiger Markt 

Dort erwartet Vobruba auch eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse, da Arbeitgeber Angestellten auf Augenhöhe begegnen müssten. Im Niedriglohnsektor, in dem zumeist unbeliebte Tätigkeiten ausgeübt werden, würden die Einkommen steigen, um die benötigten Anreize zu schaffen. Vom ökonomischen Zwang befreit, würden im Gegenzug viele Menschen nur noch in interessanten und begehrten Jobs arbeiten wollen. Das zusätzliche Arbeitskräfteangebot würde hier zu einem Sinken der Löhne führen. "Das würde den Arbeitsmarkt stärker zu einem richtigen Markt machen", sagt Vobruba. 

In diesem Punkt liegt auch der reizvolle Aspekt für Wirtschaftsliberale. In ihren Augen ist der Markt am besten dafür geeignet, Menschen ein freies Leben zu garantieren. Ist der Wettbewerb perfekt, kann kein Unternehmer Angestellte ausbeuten, weil man die Möglichkeit zum Jobwechsel hätte. Aber in der Realität funktioniert der Markt nie optimal, meint der liberale Philosoph Matt Zwolinksi von der University San Diego in einem Aufsatz zu dem Thema. Das Grundeinkommen wäre ein Ausweg aus dem Dilemma: Solange es eine garantierte Absicherung gibt, können Frustrierte jederzeit kündigen. 

Viel Gegenwind 

Mit dem Grundeinkommen wäre die Abschaffung etlicher anderer staatlicher Leistungen verbunden. Keine Kinderbeihilfe, keine Familienförderung, keine Pensionen, das alles würde zu gewaltigen Einsparungen im Verwaltungsapparat führen, weshalb selbst Franz Schellhorn, der Leiter des wirtschaftsliberalen Thinktanks Agenda Austria, meint, er habe "Sympathien für die Idee". Freilich komme es auf die Höhe an. Doch linke Kritiker warnen an dieser Stelle, dass das Konzept bloß als Vorwand dazu genützt werden könnte, den Sozialstaat zurechtzustutzen. 

Überhaupt gibt es in beiden politischen Lagern viel Gegenwind für das Basiseinkommen. Wenn andere Leistungen nicht zurückgefahren werden, stellt sich das Problem der Finanzierung. Als Diskussionsgrundlage für die Höhe einer Grundsicherung schlagen die Befürworter der Schweizer Initiative 2500 Franken (2280 Euro) pro Monat vor. In der teuren Schweiz liegt das deutlich unter dem Medianeinkommen. 

Sinkende Produktivität 

Das sei nicht zu finanzieren, heißt es in einer Stellungnahme der Schweizer Regierung. Das Modell würde pro Jahr Kosten in Höhe von 26 Prozent der Wirtschaftsleistung verschlingen und neue Steuern in Höhe von umgerechnet mehr als 100 Milliarden Euro erfordern. Auch die Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland, die den Grünen nahesteht, lehnt das Konzept ab: Um ein Grundeinkommen zu finanzieren, müssten die Steuern derart in die Höhe geschraubt werden, dass sich Arbeit für viele Menschen nicht mehr auszahlen würde. Die Produktivität der Gesellschaft würde absinken. 

Zweifel an Fairness 

Ein großer Teil der Gesellschaft könnte sich zudem vom Arbeitsmarkt völlig abwenden und sich beginnen abzuschotten, heißt es in einer Analyse des Instituts. Ein Grundeinkommen könnte tatsächlich zu einer zunehmenden sozialen Segregation führen, warnt der Ökonom Marcus Scheiblecker vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo. Hinzu kommen Zweifel an der Fairness des Systems: Ist es gerecht, wenn jemand nach 30 Jahren seinen Job verliert und gleich viel bekommt, wie jemand der nie arbeiten will? 

Das Modell würde andererseits das Problem der verschwindenden Arbeitsplätze lösen. Vergangene Woche kam eine Studie des World Economic Forum zu dem Ergebnis, dass weltweit wegen der zunehmenden Technologisierung bis 2020 mehr als fünf Millionen Arbeitsplätze vernichtet werden. In anderen Studien heißt es, künftig könnten 20 Prozent der Menschen ausreichen, um alle benötigten Güter herzustellen. 

Dauerfrustration 

Um eine Revolution der übrigen 80 Prozent zu verhindern, müssten diese mit einer Basisversorgung, dem Grundeinkommen und "Tittytainment" (gebildet aus den englischen Worten für Unterhaltung und Brüste) bei Laune gehalten werden, schlug der polnisch-amerikanische Politikwissenschafter Zbigniew Kazimierz Brzezinski vor Jahren vor. Zurück in Utrecht, sagt auch die Gemeindepolitikerin Heleen de Boer, dass es die krisenbedingt höhere Arbeitslosigkeit in den Niederlanden sei, die ein Grundeinkommen so reizvoll mache. "Die Menschen schreiben andauernd Bewerbungen und erhalten doch nur Ablehnungen. Welcher kreative Geist könnte freigesetzt werden, wenn man ihnen diese Dauerfrustration erspart", so die Politikerin. Sie selbst ist optimistisch, dass Utrecht bald schon grünes Licht bekommen wird, um den Versuch zu starten. 

Mehr Vorteile als Nachteile 

Der Soziologe Vobruba glaubt, dass ein Grundeinkommen mehr Vorteile als Nachteile für eine Gesellschaft bietet. Dass es dennoch in keiner Demokratie bisher flächendeckend eingeführt wurde, erklärt er mit der Verbindung von Einkommen mit Leistung, die in den Köpfen der Menschen stark verankert sei. Zudem führt er die oft widersprüchlichen Zielsetzungen von Interessenvertretungen wie Gewerkschaften an. Als Arbeitnehmervertretung müssten diese eigentlich Grundeinkommen in ausreichender Höhe befürworten – würden dadurch allerdings auch Selbstabschaffung betreiben, da ihre Tätigkeit bei einer Umsetzung hinfällig wäre.

Weiterlesen Interview: Daniel Häni: ""Wer bin ich eigentlich? Was will ich eigentlich tun?" 


Freitag, 22. Januar 2016

Europa gibt's nicht à la carte.

German Finance Minister Schaeuble gestures during the session 'The Future of Europe' at the annual meeting of the World Economic Forum (WEF) in Davos
aus Süddeutsche.de, 21. Januar 2016, 13:05 Uhr

Schäuble: Europa als Festung wäre eine Schande 

Wolfgang Schäuble will eine Koalition der Willigen. Das habe er den anderen Finanzministern Europas auch schon öfter vorgeschlagen: Loslegen, Geld ausgeben, schnell. "Wir werden Milliarden in die Regionen der Flüchtlinge investieren müssen, um den Wanderungsdruck zu reduzieren", sagt der Bundesfinanzminister auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.

Das Wort Marshallplan mag Schäuble dafür eigentlich nicht benutzen. "Aber von mir aus nennen wir es so." Deutschland sei in der Lage, mehr Geld auszugeben. "Wir haben mehr finanziellen Spielraum als die anderen, das ist wahr."

Weil noch immer zu viele Flüchtlinge nach Deutschland kämen, müsse der Druck auf die Außengrenzen der Europäischen Union sinken, so Schäuble. Für syrische Flüchtlinge müsse es deshalb attraktiver werden, beispielsweise in Camps im Libanon zu bleiben. Abschreckung dagegen sei nicht der richtige Weg: "Europa als Festung ist keine Lösung. Das ist eine Schande." Zudem brauche es "Solidarität mit denjenigen Ländern, die Außengrenzen haben".

Europa gebe es nicht "à la carte"

Alexis Tsipras repräsentiert auf dem Podium in Davos die Außengrenze der Europäischen Union. Im vergangenen Sommer stritt seine Regierung vehement mit Deutschland über das weitere Vorgehen in der Euro-Krise. In der Flüchtlingsfrage nähern sich Athen und Berlin nun rhetorisch an. Wie der deutsche Finanzminister spricht auch Tsipras von mehr Solidarität und nennt die gefährliche Flüchtlingsroute über das Mittelmeer eine Schande.

Die EU müsse endlich ein funktionierendes Verteilungssystem für Asylsuchende aufsetzen, sagt Tsipras. Er fordert weniger Egoismus in Europa. Die Länder dürften sich nicht nur darum kümmern, was in ihrem eigenen Hinterhof passiert. Denn Europa gebe es nicht "à la carte".



Nota. - Das hätte ich mir mein' Lebtag nicht träumen lassen, dass ich einmal Propaganda für eine deutsche Re-gierungschefin und ihren Finanzminister machen würde. Aber das wird nicht das einzige Unvorstellbare sein, das uns durch die Flüchtlingskrise beschert wird. Soviel Anfang war nie.
JE




Donnerstag, 21. Januar 2016

Stalin ja, aber bloß nicht Lenin!

aus nzz.ch,  21.1.2016, 19:08 Uhr

Putin-Äusserung zu Lenin
Russischer Präsident zieht über Revolutionär her

Der russische Präsident Wladimir Putin ist in einem gereizten historischen Exkurs über den sowjetischen Staatsgründer Lenin (1870-1924) hergezogen. Dessen Denkmäler stehen noch überall in Russland. Lenins Ideen hätten letztlich zum Zerfall des Reiches geführt, sagte Putin an einem Treffen mit Wissenschaftern in Moskau, wie die Nachrichtenagentur Interfax berichtete. «Und die Weltrevolution haben wir auch nicht gebraucht», sagte Putin demnach weiter.

Zu seinen Äusserungen provoziert wurde der Kreml-Chef durch den Leiter des Kurtschatow-Instituts für Atomforschung, Michail Kowaltschuk. Dieser lobte Lenins Geschick, das Denken von Millionen Menschen geprägt zu haben. So gut müsse auch die Wissenschaft organisiert sein. Putin entgegnete verärgert: «Lenin hat eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heisst, und die ist dann explodiert.» Lenin hatte mit der Oktoberrevolution 1917 die kommunistische Herrschaft in Russland begründet.

Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte, Putin habe zu Lenin seine private Meinung geäussert. Es gebe keine Pläne, Lenin aus dem Mausoleum am Roten Platz in Moskau zu entfernen und umzubetten.


Auch bei SAP: Für ein Bedingungsloses Grundeinkommen.


Die heutige FAZ bringt anlässlich des Treffens in Davos ein Kurzinterview mit dem SAP-Vorstand Bernd Leukert.

... Die gesamte Gesellschaft wird von der vierten industriellen Revolution große Vorteile haben. Es stimmt auch, dass sich Kompetenzen verlagern werden. Wissen, das man vor zwanzig Jahren erworben hat, hat morgen wahrscheinlich einen geringeren Wert. Das wird noch nicht einmal so sehr Führungskräfte treffen, auch nicht die weniger gut bezahlten normalen Arbeiter. Aber das mittlere Gehaltssegment wird unter Druck kommen. ...

Ich bin der Meinung, dass man die Bedingungen für ein faires Einkommen nicht der Wirtschaft überlassen sollte. Hier ist die Politik gefragt, den richtigen Rahmen zu setzen. 

Bis hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen

Ja, davon würden langfristig auch diejenigen profitieren, die weiterhin höhere Gehälter beziehen. Wenn wir an dieser Stelle nichts tun, droht die Gesellschaft auseinanderzubrechen. ...




Mittwoch, 20. Januar 2016

Davos und die digitale Revolution.

aus Tagesspiegel.de, 20. 1. 2016, 09:01 Uhr

Davos diskutiert Folgen der Digitalen Revolution.
Maschinen statt Menschen: In den nächsten fünf Jahren könnten fünf Millionen Arbeitsplätze durch die Automatisierung verschwinden. Vor allem Schreibtischjobs.

Von Simon Frost und Carla Neuhaus

Lkw fahren. Essen servieren. Im Supermarkt kassieren. Was früher selbstverständlich Menschen übernommen haben, wird zunehmend die Aufgabe von Maschinen: von intelligenten Robotern und Automaten. Einerseits ist das Fortschritt. Andererseits stellt das aber auch die Arbeitswelt auf den Kopf.


Allein in den Industriestaaten könnten aufgrund der stärkeren Automatisierung und Digitalisierung in den nächsten fünf Jahren fünf Millionen Arbeitsplätze verschwinden. Zu dem Schluss kommt eine Studie, die das Weltwirtschaftsforum WEF jetzt vorgelegt hat. Deren Chef, Klaus Schwab, spricht von der „vierten industriellen Revolution“, die „dramatische Auswirkungen auf politische, soziale und wirtschaftliche Systeme hat“. Deshalb hat er das Thema ins Zentrum des diesjährigen Treffens der führenden Wirtschaftsbosse und Politiker in Davos gestellt.

Für die Studie haben die Autoren gegengerechnet, wie viele Arbeitsplätze durch künstliche Intelligenz, Roboter, 3-D-Druck oder Fortschritte in der Biotechnologie entstehen und wie viele wegfallen. 7,1 Millionen Jobs, die nicht mehr gebraucht würden, stehen demnach gerade einmal 2,1 Millionen neugeschaffene Arbeitsplätze gegenüber. Zwar müssen die Maschinen entwickelt, programmiert, gewartet werden. Doch dafür sind weniger Menschen nötig.

In den USA ist jeder zweite Job bedroht

Das bestätigt auch Oxford-Professor Carl Frey. „Die vierte industrielle Revolution hat bislang sehr wenige Jobs direkt geschaffen“, sagte er dem Tagesspiegel. Mit seinem Kollegen Michael Osborne gelangt er in einer Studie zu dem Schluss: Allein in den USA könnte durch die Digitalisierung fast die Hälfte aller Jobs auf dem Spiel stehen. Auch wenn sie nicht komplett untergehen, würde sich ihr Anforderungsprofil stark ändern.

Und das trifft längst nicht nur die Industrie, in der Roboter Arbeiter in der Fertigung ersetzen. Der WEF-Studie zufolge sind es vor allem Schreibtischjobs, die auf dem Spiel stehen – und zwar immer dann, wenn es um Routinetätigkeiten geht. Klar wird das am Beispiel des Rechtsanwalts. So gibt es schon jetzt Programme, die Berge von Akten nach Argumenten durchsuchen. Andere spucken Standardverträge aus. Die Folge: Am Ende braucht man für die gleiche Arbeit viel weniger Rechtsanwälte als heute.

Das Beispiel lässt sich auf viele andere Berufe übertragen. Buchhaltung oder Anlageberatung übernehmen zunehmend Maschinen. Setzt sich das selbstfahrende Auto durch, braucht man auch keine Lastwagen-, Bus- oder Taxifahrer mehr. Roboter steigen zudem in die Servicebranche ein, versorgen Kranke oder servieren im Restaurant das Essen. WEF-Chef Schwab ist überzeugt, kaum eine Branche werde von der Digitalisierung nicht erfasst.

Die Arbeitsagentur in Nürnberg ist gelassen

Deshalb warnt er: Sollten die Staaten nicht reagieren, seien wachsende Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit die Folge. Manche Forscher halten das jedoch für übertrieben. Befürchtungen eines massiven Arbeitsplatzabbaus seien „derzeit eher unbegründet“, heißt es beim Institut für Arbeit und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.

Sascha Stowasser, Direktor des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft in Düsseldorf, sieht das ähnlich: „Aktuell gibt es keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über die tatsächlichen Auswirkungen der digitalen Revolution“. Zudem werde die Zahl der Erwerbsfähigen in alternden Gesellschaften wie den westlichen Industriestaaten trotz Zuwanderung um bis zu sieben Millionen zurückgehen.In einer eigenen Untersuchung gehen die IAB-Forscher davon aus, dass hierzulande ein Sechstel der Beschäftigen ihre Arbeit an Computer und Maschinen verlieren könnten. Dabei müsse man jedoch verstehen, was volkswirtschaftlich passiert, sagt Enzo Weber vom IAB. „Der technologische Fortschritt verändert die Produktion fortwährend: Betriebe kaufen neue Maschinen, die auch jemand warten muss. Die Produktivität steigt, Produkte werden günstiger, das schafft neue Nachfrage.“

Dieter Schweer, Mitglied der Hauptgeschäftführung beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), sagt, man müsse die Chancen der Digitalisierung in den Mittelpunkt stellen – allerdings müsse man auch die Arbeitnehmer mitnehmen. Damit stehen die Arbeitgeber in seltener Eintracht Seit’ an Seit’ mit den Gewerkschaften. Es gehe darum, alle Chancen zu nutzen, sagt auch DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach, „um die Risiken durch intelligente Bildungs- und Qualifizierungspolitik sowie die Beteiligung der Beschäftigten in den Griff zu bekommen.“





Sonntag, 17. Januar 2016

"Jeder schaut nur auf sein eigenes Terrain."

IWF-Chefin Christine Lagarde. Bild: Flickr / Valsts kanceleja CC-BY-SA 2.0
Reuters, 15. Januar 2016, 07:06

IWF-Chefin: Flüchtlings-Herausforderung "größer, als wir sehen"

Frankfurt (Reuters) - Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, warnt davor, die Folgen der Flüchtlingskrise zu unterschätzen. Die Herausforderung sei "viel größer, als wir sehen und sehen wollen", sagte sie der "Süddeutschen Zeitung" (Freitagausgabe) laut Vorabmeldung.

Im Moment schaue jedes Land nur auf sein eigenes Terrain. "Aber es gibt viel mehr Probleme". Sie erwarte, dass der Zustrom von Flüchtlingen nach Europa 2016 anhalten werde, sagte sie. Wenn die Friedensverhandlungen erfolgreich verliefen, könnte sich die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Pakistan verringern. Sollte das nicht klappen, erwarte sie, dass noch mehr Menschen kommen. 

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos kommende Woche werde sie eine Studie zum Thema Flüchtlinge vorlegen, sagte Lagarde weiter. "Wir haben Ströme, Ursachen, Kosten und Nutzen der Migranten untersucht und welchen Einfluss sie auf die Volkswirtschaften haben".


Nota. - Es ist Sache der Deutschen - wessen denn sonst? -, dafür zu sorgen, dass alle europäische Länder begreifen: Die Zuwanderung aus Asien und Afrika wird anhalten und ist eine bleibende Herausforderung für das ganze Europa. An dem Thema wird Europa wachsen oder zerbrechen.

Dass die anderen, wirtschaftlich schwächeren Länder ersteinmal dazu neigen, sich um sich selbst zu sorgen, ist begreiflich und war vorauszusehen. Doch gerade darum darf eine deutsche Regierung in dieser Sache nicht locker lassen. Wenn jeder sich um sich selber kümmert und die Schotten dicht macht, ist Europa einmal gewesen.

Aber die Flüchtlinge kommen weiter übers Mittelmeer (die, die Glück haben; die andern bleiben dort.)
JE


Samstag, 16. Januar 2016

Größere Ungleichheit in China als in den USA.

Wanderarbeiter
aus derStandard.at, 15.1.2016

Ein Prozent der Chinesen besitzt ein Drittel des Volksvermögens 
Wohlstandsgefälle im kommunistisch regierten Reich der Mitte wesentlich größer als in den kapitalistischen USA

von Alexander Hahn

Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas nimmt auch die Ungleichheit im Reich der Mitte rasant zu. Derzeit besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung insgesamt ein Drittel des Gesamtvermögens des Landes, wie aus einer Erhebung der Renmin Universität in Peking hervorgeht. Richtig bedenklich wird diese Betrachtung im Umkehrschluss, denn das ärmste Viertel der Chinesen muss sich demnach bloß ein Prozent des Vermögens teilen.

Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen, wenn es nach Universitätsprofessor Thou Xiaozheng geht: "Es kann keinen Zweifel geben, dass die Einkommensunterschiede größer und größer werden", wird er von der Financial Times zitiert. "Die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher." Zum Beleg zeigt der von der Studie unabhängige Hurun Report, dass die Zahl der Dollar-Millionäre in China im Vorjahr um acht Prozent auf 3,14 Millionen Menschen, darunter 596 Milliardäre, angestiegen ist.

Höhere Steuern für Umverteilung

Kurioserweise weist damit just ein kommunistisch regiertes Land größere Ungleichgewichte auf als viele kapitalistische Staaten. Gemessen wird dies anhand des sogenannten Gini-Koeffizienten, der Werte zwischen Null, dem marxistischen Traumzustand völliger Gleichverteilung, und eins annehmen kann, wenn sämtliches Volksvermögen auf eine einzelne Person entfällt. China weist derzeit einen Wert von 0,49 auf – klingt nicht dramatisch, liegt aber deutlich über den USA mit 0,41 oder Deutschland, das bloß auf 0,30 kommt. Die Weltbank ortet bei Gini-Koeffizienten über 0,4 bereits schwere Ungleichheiten.
Die Pekinger Studienautoren, die rund 25.000 Haushalte in 25 Provinzen des Landes befragt haben, empfehlen eine progressivere Besteuerung, um mehr Geld bei den Reichen abschöpfen zu können. Über einen Ausbau der Sozialleistungen könnten diese Mittel an die armen Bevölkerungsschichten weitergegeben werden. Klingt fast nach einem Sozialstaat westeuropäischer Prägung. 



Dienstag, 12. Januar 2016

Leitkultur? Aber ja doch!


n-tv

In der heutigen Ausgabe der FAZ veröffentlich Hans-Georg Soeffner einen langen Artikel unter der Überschrift Vergesst eure Leitkultur! Die Quintessenz lässt sich leicht zusammenfassen: Eine deutsche Leitkultur könne es nicht geben, weil sie nicht weniger als die religiösen Fundamentalismen jeglicher Konfession im Widerspruch stünde zu den universalistischen Prinzipien der westlichen Gesellschaft, die ihrerseits Grundlage und einzige Rechtfertigung eines vereinten Europas sein können.

Er hat sogar mehr Recht, als er denkt. Denn das historisch Auszeichnende der deutschen politischen und Geistes-geschichte ist unsere säkulare Zerrissenheit, die ihren Anfang nahm in der Vereinigung der deutschen Königswürde mit dem römische Kaisertum, und in der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges ihre historische Beglaubigung fand. Wir Deutschen sind immer sowohl das Eine als auch sein Gegenteil; aber das gründlich.



Hans-Georg Soeffner irrt sich aber, wenn er meint, das könne keine Basis für eine Leitkultur abgeben. Es ist die Basis einer Leitkultur, die auch er als gültig ansieht; nur eben nicht einer spezifisch deutschen, sondern der gemeinsamen abendländischen. Wir stehen nach allem, was wir getan und durchgemacht haben, diesem Kern der abendländischen Identität näher als irgendeine europäische Nation. Wir sind Kronzeugen und stehen als solche mehr in der Verant-wortung als andere.




Sonntag, 10. Januar 2016

Anatolische Drehscheibe.


Skelett, Kumtepe
aus derStandard.at, 10. Jänner 2016,

Die Landwirtschaft kam über die Türkei nach Europa  
Genetische Analysen stützen die Hypothese von Anatolien als kulturelle Drehscheibe 

Stockholm – Die sogenannte Anatolien-Hypothese besagt, dass sich die Landwirtschaft und damit eine sesshafte, bäuerliche Lebensweise vor 9500 bis 8000 Jahren über Anatolien nach Europa ausbreitete (und mit ihr eine indogermanische Ursprache). Die Annahme eines solchen Kulturtransfers, der seinen Ausgang in der Levante nahm, stützen nun auch genetische Analysen, die Forscher der Universität Stockholm vornahmen. 

Die Wissenschafter untersuchten DNA aus 8.000 Jahre alten menschlichen Überresten, die in der nordwestanatolischen Ausgrabungsstätte Kumtepe entdeckt worden waren. Es dürfte sich dabei um die ersten sesshaften Bewohner von Kumtepe gehandelt haben. Auf dem prähistorische Hügel wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Spuren früher Besiedelung gefunden. 

Die Arbeit sei aufgrund des schlechten Zustands der Funde schwierig gewesen, habe sich aber gelohnt, sagte Ayca Omrak: Demnach würden die Ergebnisse im Vergleich mit dem Erbgut früher europäischer Bauern und heutiger Europäer zeigen, dass Anatolien tatsächlich eine Art kulturelle und genetische Drehscheibe nach Europa war. 

Um besser beurteilen zu können, wie und in welchen Schritten sich die landwirtschaftliche Entwicklung genau ausbreitete, müssten weitere Analysen und Vergleiche mit Funden aus der Levante folgen. Die Forscher planen nun ein gemeinsames Projekt mit Archäologen aus der Türkei und dem Iran. Eines sei jedoch bereits klar, kommentierte Anders Götherstörm (ebenfalls Uni Stockholm) den Zwischenstand: "Unsere Ergebnisse streichen die herausragende Bedeutung Anatoliens in der europäischen Kulturgeschichte hervor." (red,) 

Samstag, 9. Januar 2016

Massenarbeitslosigkeit durch Digitalisierung?

aus nzz.ch, 9.1.2016, 09:09 Uhr

Zukunft der Arbeit
«Millionen Arbeitsplätze verschwinden»
Die rasche Automatisierung werde die Arbeitswelt auf den Kopf stellen und berge die Gefahr sozialer Konflikte, sagt MIT-Professor Erik Brynjolfsson im Interview. Die Politik müsse nun Gegenstrategien entwerfen

von Marco Metzler

NZZ am Sonntag: Was wird aus Taxi- und Lastwagenfahrern, wenn Autos selbst fahren lernen?

Erik Brynjolfsson: Maschinen werden ihnen wahrscheinlich in den nächsten fünf bis zwanzig Jahren die Arbeit wegnehmen. Fahrer sollten sich neue Fähigkeiten aneignen und nach anderen Jobs Ausschau halten.

Gilt das auch für alle anderen Arbeitnehmer?

Die Wirtschaft wird künftig noch dynamischer. Wir müssen deshalb ständig neue Möglichkeiten suchen, um arbeiten zu können. Wir können nicht erstarren oder verhindern, dass der Fortschritt Jobs eliminiert. Man sollte die neuen Technologien nutzen, um andere Arten von Arbeit in neuen Bereichen zu schaffen. Wir nennen das «mit den Maschinen rennen statt gegen sie».

Digitalisierung und Automatisierung erhöhen die Produktivität stark. Wird es in zwanzig Jahren Massenarbeitslosigkeit geben?

Ich würde das weder vorhersagen noch ausschliessen. Ob es dazu kommt, bestimmt nicht die Technologie. Als Politiker, Unternehmer oder Arbeitnehmer haben wir die Wahl. Unsere Zukunft hängt davon ab, wie wir Technologien einsetzen. Je nachdem, welchen Weg wir wählen, könnte es schneller zu Massenarbeitslosigkeit kommen oder aber zu einer Welt des gemeinsam geteilten Wohlstands. Das hängt davon ab, wie stark wir in Bildung investieren, wie wir Firmen ermutigen, neue Jobs zu schaffen und welche Sozial- und Steuerpolitik wir wählen. Wir können sicher nicht selbstzufrieden sein.


Eine Studie aus Oxford schätzt, dass die Hälfte der heutigen Jobs verschwinden wird.

Wahrscheinlich verschwinden Dutzende Millionen von Arbeitsplätzen. Aber man muss auch genauso stark betonen, dass wir wohl auch Dutzende Millionen neue Jobs schaffen werden. Das ist ein historisches Muster.

«Dampfmaschinen ergänzten oder ersetzten Muskeln. Jetzt verstärken wir unser Gehirn.»

Wo werden neue Jobs entstehen?

Zwischenmenschliche und soziale Kompetenzen werden wichtiger für die Pflege und Betreuung von Menschen in Zentren oder zu Hause. Der Bereich wird stark wachsen. Jobs werden auch entstehen, wo es gilt, andere Menschen von etwas zu überzeugen, so wie es Verkäufer tun. Verhandeln, führen, im Team arbeiten und coachen können Maschinen nicht allzu gut. Auch kreative Aufgaben werden zunehmen, sei dies künstlerisches Schaffen, Unternehmertum, Entwickeln von Apps, Videos oder Musik.

Seit Erfindung der Dampfmaschine haben Menschen trotz Automatisierung immer Jobs gefunden. Kann sich das ändern?

Es wäre möglich. Denn alles geschieht einmal zum ersten Mal. Wir sollten uns also nicht darauf verlassen, dass die Dinge immer genau gleich bleiben wie in der Geschichte.

Wie unterscheidet sich die heutige Situation von der Vergangenheit?

Anders als in früheren Perioden steigert Technologie heute unsere geistigen Kräfte und verbessert unsere Fähigkeit zu denken. Dampfmaschinen und Motoren ergänzten oder ersetzten Muskeln. Jetzt verstärken wir unser Gehirn. Dies ist eine grundsätzlich andere Technologie, die sich viel breiter auswirken wird. Zudem geschieht die Veränderung diesmal viel schneller. Die Rechenleistung von Computer-Chips verdoppelt sich etwa alle zwei Jahre.

Heute ist dieses Wachstum exponentiell. War es im Zeitalter der Dampfmaschine linear?

Technisch gesehen, war das Wachstum nach Erfindung der Dampfmaschine auch exponentiell, aber die Verdopplung benötigte ungefähr 70 Jahre. Heute geht es viel schneller.

In der digitalen Wirtschaft gilt: «Der Gewinner erhält alles.» Hochproduktive Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley verdrängen lokale Firmen. Wer schafft da noch Arbeitsplätze vor Ort?

Es werden künftig viele neue Firmen entstehen: Sie werden diese nicht nur im Silicon Valley, sondern auch in China und einige auch in Europa sehen, so hoffe ich. Es wird viele neue Dienstleistungen geben, die potenziell Millionen von Menschen beschäftigen. Aber Sie haben recht: In den kommenden Jahren könnten mehrere Milliarden-Konzerne entstehen, mit Diensten auf der Grundlage von Technologien, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.

«Sie suchen nach Sündenböcken, seien es Einwanderer oder Roboter.»

Uber verwendet eine IT-Schnittstelle, um Kunden und Arbeitskräfte zusammenzubringen. Das Prinzip liesse sich auf die ganze Wirtschaft ausdehnen. Dann reichten wenige Manager, um eine Masse Freischaffender per App zu steuern. Könnte es dazu kommen?

Das ist ein Szenario; es muss aber nicht negativ sein. Ich betone, dass wir viele verschiedene Arten von Zukunft entwerfen können. Ich halte nichts von Fragen wie: «Was wird die Technologie uns tun? Wird sie gut oder böse sein?» Technologie ist seit je ein Werkzeug. Ich hoffe, dass wir mit unseren leistungsfähigen Werkzeugen eine Zukunft des gemeinsamen Wohlstands schaffen. Es könnte aber auch eine Zukunft mit stark konzentrierter Macht geben, an der die meisten Menschen nicht teilhaben. Ich hoffe, dass wir den ersten Weg wählen werden.

Was für Massnahmen braucht es?

Als nach der Erfindung der Dampfmaschine die Landwirtschaft automatisiert wurde und die Industrie entstand, trafen wir als Gesellschaft Entscheidungen, etwa die Einführung von öffentlicher Bildung für die Massen oder die Veränderung der Steuerstruktur. Wir führten auch Anti-Kartell-Gesetze ein, damit Unternehmen nicht zu mächtig werden. Gleichzeitig verhalfen wir diesen zu Wachstum, indem wir Grundlagenforschung förderten und bessere Infrastruktur bauten. Wir müssen nun dasselbe tun und die Wirtschaft neu erfinden, um die Vorteile der Technologien zu nutzen und in einer Weise zu kanalisieren, die für alle Wohlstand schafft. Wir haben die Wahl.

Erwarten Sie soziale Konflikte wie im 19. Jahrhundert?

Ja, absolut. Ich sehe viel Spannungspotenzial. Eines der traurigen Dinge ist, dass der Medianlohn, bei dem die Hälfte der Arbeitnehmer mehr verdient und die andere Hälfte weniger, niedriger ist als noch vor 20 Jahren, obwohl das Gesamteinkommen höher ist als je zuvor. Der Reichtum geht zu immer weniger Menschen. Eine immer konzentriertere Vermögensverteilung ist ein sehr schlechtes Zeichen. Da ist es verständlich, dass viele Menschen frustriert und wütend sind. Sie suchen nach Sündenböcken, seien es Einwanderer oder Roboter. Wenn wir nicht handeln, um mehr geteilten Wohlstand zu schaffen, wird der Ärger der Menschen zunehmen. Einige werden gewalttätig. Ich befürworte das nicht, aber wir sollten das vorhersehen und politische Strategien entwickeln, um den Wohlstand besser zu verteilen.

Woran denken Sie?

Lassen Sie uns zuerst die Bildung neu erfinden. Wir müssen den Menschen nicht nur Fakten beibringen, denn Maschinen lernen diese sehr gut auswendig, sondern sie lehren, wie sie kreativ sein und ihre sozialen Kompetenzen, Teamarbeit, Führung, Pflege, Überzeugungsarbeit verbessern können. Zweitens müssen wir den Unternehmergeist fördern, indem wir es einfacher machen, neue Firmen zu gründen, die neue Güter, Dienstleistungen und Arbeitsplätze schaffen. Es gibt zu viel Stagnation, sowohl in Europa als auch in den USA. Das hindert Unternehmer daran, Technologie zu nutzen, um die Wirtschaft neu zu beleben. Drittens müssen wir unsere Steuerpolitik überdenken. Dinge wie eine negative Einkommenssteuer könnten helfen, die Rückschläge für die Verlierer der Automatisierung abzufedern. Mit Steuern auf Umweltverschmutzung und Verkehrsstaus könnten wir einen Teil refinanzieren.

Ist ein Land wie die Schweiz gut darauf vorbereitet?

Es ist eines der weltweit am besten vorbereiteten Länder. Es ist schon sehr wohlhabend, hat eine sehr gut ausgebildete Bevölkerung und eine gute, starke Demokratie. Die Schweiz hat bereits einige innovative Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen ins Auge gefasst, das in den nächsten 10 bis 20 Jahren erforderlich sein könnte, um die Folgen der Automatisierung abzufedern. Das Land könnte sich dieses neue Modell leisten, weil es reich und produktiv ist und Technologie effektiv nutzt. Ich sehe die Schweiz als ein mögliches Modell für die Zukunft. Schließlich bin ich optimistisch, nicht weil Technologie den Menschen immer hilft, das tut sie nicht, sondern weil wir wissen, wie wir sie nutzen müssen, damit die Menschen davon profitieren. Wenn wir den Beispielen erfolgreicher Nationen folgen, gibt es einen Pfad, auf dem wir Technologie effektiv nutzen können. Ich bin zuversichtlich, dass die Bürger übereinkommen werden, dies zu tun.

Der 53-jährige Däne ist Professor für Betriebsökonomie an der MIT Sloan School of Management in Boston und Direktor der MIT-Initiative zur digitalen Wirtschaft. Im Januar 2014 hat er zusammen mit seinem Co-Direktor Andrew McAfee den Bestseller «The Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird» veröffentlicht. Brynjolfsson hat in Harvard studiert und erforscht seither die Auswirkungen der Informationstechnologie auf die Wirtschaft. Sein akademischer Lebenslauf ist mittlerweile auf 60 Seiten angewachsen. Im Januar besucht er das diesjährige WEF in Davos.  (mtz.)